Ökumenischer Rat der Kirchen
Zentralausschuss
26. August – 2. September 2009
Genf, Schweiz

OWNERSHIP – IDENTIFIKATION MIT DER ÖKUMENE

Welche Bedeutung hat unser ökumenisches Engagement?

1. In Kapitel 6 des Johannesevangeliums finden wir eine Reihe von Episoden und Dialogen zwischen Jesus und denen, die ihm nachfolgen. Sie sind von besonderer Bedeutung für den Kern unseres Glaubens und daher auch für das Wesen unseres ökumenischen Engagements. Am Beginn des Kapitels steht die bekannte Erzählung von der Vermehrung der Brote und der Fische zur Speisung der um Jesus versammelten Volksmenge. Tags darauf folgen die Menschen Jesus, der sie inzwischen verlassen und sich auf die andere Seite des Sees begeben hat. Dort eröffnet Jesus ihnen, er sei das Brot, das vom Himmel gekommen ist - das Brot des Lebens. „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ (Johannes 6,35) Denen, die an ihn glauben und daran, dass ihn der Vater gesandt hat, verheißt er Auferstehung und ewiges Leben (V. 40). Anstatt nun Freude zu zeigen, beginnen die Menschen zu murren. Jesus wiederholt seine Botschaft aufs Neue: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und dieses Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt (V. 51). Die Botschaft erregt Anstoß, selbst bei vielen seiner Jüngerinnen und Jünger – und sie äußern ihr Missfallen. Jesus fragt: „Ärgert euch [diese Botschaft]?“ (V. 61) und fährt fort: „Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben. Aber es gibt einige unter euch, die glauben nicht.“ (V. 63f.)

2. Unterbrechen wir hier die Erzählung für einen Moment. Jesus spricht, wie wir später sehen werden, in ungewöhnlicher Weise zum Volk und damit auch zum weiteren Jüngerkreis und zu den Zwölf. Er stellt das Wichtigste in den Mittelpunkt, die Beziehung, die sie zu ihm, zu Jesus, haben können. Welcher Art wird diese Beziehung sein? Erschöpft sie sich in der Hoffnung auf Nahrung, die den Körper speist? Jesus behauptet selbstverständlich nicht, Nahrung sei unnötig. Schließlich hat er der Menge ja zu essen gegeben. Und im Vaterunser lehrt er uns, Gott um unser tägliches Brot zu bitten. Wenn er hier den Geist als fundamentale Dimension unserer Beziehung zu ihm und dem Vater hervorhebt, redet er nicht einer Vergeistigung das Wort, die die materiellen Bedürfnisse der Menschen vergisst. Er hat ja dieser Versuchung selbst widerstanden und unter Verweis auf 5.Mose (8,3) erklärt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ (Matthäus 4,4)

3. Viele sind Jesus also nur gefolgt, weil sie sich physische und materielle Hilfe erwarteten – eine eher oberflächliche Beziehung zu ihm, die lediglich auf die Erfüllung der unmittelbaren eigenen Bedürfnisse ausgerichtet ist. Solange ihnen alles zur Verfügung steht, was sie täglich brauchen, vergessen diese Menschen bereitwillig den Geist. Dann sind da eine Reihe Jünger und Jüngerinnen, die Anstoß nehmen an den Konsequenzen der Nachfolge. Sie sind Jesus gefolgt und haben seine Lehren gehört. Sie haben grundsätzlich verstanden, dass das Leben mehr bedeutet als die Erfüllung unserer akuten Bedürfnisse. Sie folgen Jesus eine Zeit lang nach, nun da sie aber mit den Konsequenzen dieser Nachfolge konfrontiert sind, da sie daran erinnert werden, dass Jesus zum Vater in den Himmel auffahren wird, der ihn gesandt hat, und dass das auch Jesu Leiden und Tod bedeutet, sind sie bereit, die ewige Hoffnung und das ewige Leben aufzugeben und kehren Jesus den Rücken.

4. Ist diese Erzählung relevant für unser ökumenisches Engagement? Manche/r mag es als unangebracht empfinden, anhand einer Passage, die die sehr persönliche, spirituelle Jesusbeziehung zum Thema hat, über die ökumenischen Beziehungen und Herausforderungen nachzudenken, mit denen wir heute konfrontiert sind. Unser Mittun an den Bemühungen der Kirchen um Einheit im Volk Gottes ist jedoch kein einfaches Bestreben, als Kirchen zusammenzukommen, voneinander zu lernen und miteinander zusammenzuarbeiten. Es geht nicht darum, was wir als Einzelne gegenüber den Kirchen empfinden und wie wir zu ihnen stehen. Es geht um die eigentliche Bedeutung der Kirche als Leib Christi: „damit sie alle eins seien [...], damit die Welt glaube“ (Johannes 17,21). Auf der Grundlage dieses letztgültigen missiologischen Ziels haben wir uns auf das Streben nach Einheit verpflichtet. Und hier haben wir es nicht nur mit einer ekklesiologischen Frage zu tun - es geht um die Erlösung der Menschheit.

5. Aufbauend auf dieser Grundlage wollen wir nun einige Herausforderungen in den Blick nehmen, vor die unser ökumenisches Engagement gegenwärtig gestellt ist.

Ownership und ökumenisches Engagement

6. In den letzten Jahren begegnet mir immer häufiger der englische Begriff ownership, wo vom ökumenischen Engagement oder manchmal gar von der ökumenischen Bewegung die Rede ist. Oft höre ich die Frage, wer ownership der ökumenischen Bewegung hat, oder es wird betont, dass wir ownership der ökumenischen Bewegung fördern müssen. Nun komme ich aus einem Land, in dem andere Sprachen als das Englische gesprochen werden, und habe entsprechende Probleme mit dem Begriff, der sich, zumindest in manche Sprachen, nur schwer übersetzen lässt. Im Portugiesischen beispielsweise würde eine wörtliche Übersetzung den Eindruck vermitteln, dass jemand die ökumenische Bewegung „in Besitz nimmt“. Man „besitzt“ Eigentum. Aus einer modernen, individualistischen Perspektive heraus kann man mit diesem Eigentum dann machen, was man will. Offensichtlich ist nichts dergleichen gemeint, wenn von ownership der ökumenischen Bewegung die Rede ist.

7. Ich sehe allerdings auch eine doppelte positive Konnotation des Begriffs ownership. Es geht dabei um Zugehörigkeit, Teilhabe, ein Teil von etwas sein. So muss er zunächst im passiven Sinne verstanden werden. Man macht, man entwickelt die ökumenische Bewegung nicht, nein, man nimmt an ihr teil. Dieses Verständnis macht deutlich, dass eigentlich die ökumenische Bewegung uns „besitzt“ und nicht umgekehrt. Sie wird zu unserer Leidenschaft, wie oft gesagt wird. Nur wenn wir zuerst Teil der ökumenischen Bewegung werden, können wir sie uns dann auch aktiv „zu Eigen machen“, uns aktiv für die Einheit engagieren. Haushalterschaft, Fürsprache und Solidarität erwachsen so aus der Tatsache, dass man sich beteiligt, ja „Teil“ der ökumenischen Bewegung „ist“.

8.Überträgt man diese Perspektive in theologische Begrifflichkeiten, geht es im Zusammenhang mit dem Sinn und den Konsequenzen der ökumenischen Bewegung darum, dass der Indikativ der Gnade Gottes dem Imperativ Gottes, der unser Handeln einfordert, vorausgeht. In diesem Handeln wiederum spiegelt sich dann Gottes eigenes Liebes- und Erlösungshandeln am Menschen. Der nächste Schritt der im Glauben empfangenen göttlichen Gnade ist die „Eingliederung“ in den Leib Christi, auch bezeichnet mit dem Begriff communio. Hieraus leitet sich die Berufung zu Zeugnis und Dienst, zu Mission und Diakonie, ab. Analog hat unser ökumenisches Engagement seine Wurzeln in Gottes eigenem Heilshandeln und entwickelt sich von diesem Ausgangspunkt zur Teilhabe am Leib Christi und von daher wiederum zu Verantwortung und Verbindlichkeit.

9. Als Gemeinschaft von Kirchen bietet der ÖRK einen Raum, der in diesem Sinne uns allen „gehört“ (aber lassen Sie mich wiederholen – eigentlich „gehören“ wir ihm). Für diesen Raum müssen wir alle jedoch immer wieder auch Verantwortung übernehmen. Im Rückblick auf unsere Geschichte haben wir guten Grund, ihn als privilegiertes Instrument der ökumenischen Bewegung zu bezeichnen, gleichzeitig wird diese Aussage allerdings immer durch die unerlässliche „Bescheidenheit“ abgemildert, die in dem Wissen wurzelt, dass die eine ökumenische Bewegung viel weiter reicht als dieses unser Instrument. Dies wird klar formuliert in dem Dokument „Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis und einer gemeinsamen Vision“ (CUV). Gott hat im Heiligen Geist jenseits unserer Anstrengungen seine eigenen Mittel und Wege, die Kirchen zur Einheit zu rufen.

Falsche Gegensätze

10. Auf der letzten Zentralausschusstagung habe ich in meinem Bericht ein ganzheitliches Verständnis von Erlösung und Nachfolge herausgearbeitet und mich dabei auf die Geschichte der ökumenischen Bewegung im Allgemeinen und die verfassungsmäßigen Vorgaben des ÖRK im Besonderen gestützt.

„Zweitens spiegeln diese Formulierungen [in der ÖRK-Verfassung] sehr genau die Geschichte der ökumenischen Bewegung wider, die mit ihren verschiedenen Strömen zur Gründung des ÖRK geführt hat: Mission, Praktisches Christentum, Glauben und Kirchenverfassung sowie christliche Erziehung. […] all diese Elemente [sind] grundlegend für unsere Vision der Oikoumene und in ihr integriert. Durch die Kombination all dieser Ströme in den Formulierungen anerkennt die Verfassung sie als spezifische Dimensionen des einen ökumenischen Wegs und möchte ihnen die ihnen zustehende Bedeutung innerhalb eines holistischen Verständnisses von Heil und Nachfolge verleihen. So wird jegliche Kontroverse darüber, welche Dimension wichtiger ist oder vorgezogen werden sollte, durch die Verfassung von Anfang an aus dem Weg geräumt.“1

11. Sehr oft sind wir bei Beschreibungen des ökumenischen Wegs trotzdem mit falschen Gegensätzen konfrontiert. Darunter verstehe ich eine Sichtweise bzw. eine Haltung, die Elemente voneinander trennt, die zentrale Bedeutung für das Leben der Kirche haben. Anstatt sie als komplementär zu erkennen und zu bekräftigen, werden sie mitunter gar gegeneinander ausgespielt.

12. Ein solcher falscher Gegensatz, auf den ich bereits in meinem letzten Bericht verwiesen habe, wird oft zwischen aktivem Tun und Lehre aufgebaut. Lassen Sie mich deshalb lediglich feststellen, dass eine Betonung der Lehre, die die Handlungsdimension – etwa im Bereich Diakonie – herunterspielt und damit die Lehre auf eine verlogene, heuchlerische und eitle intellektuelle Übung reduziert, einen falschen Gegensatz konstruiert. Gleiches gilt umgekehrt für eine Schwerpunktsetzung bei praktischen Aktivitäten, die die Lehre als irrelevant abtut; solches Tun entbehrt damit seiner spirituellen Wurzeln, seines Sinns und seiner Kraft, wie ein Haus, das auf schwachem Fundament gebaut ist.

13. Lassen Sie mich etwas intensiver auf die Bedeutung des diakonischen Dienstes für das Leben der Kirche eingehen, denn ein anderer falscher Gegensatz bewertet die Diakonie niedriger als die Mission, anstatt Mission ganzheitlich zu betrachten und die Diakonie als wesentliche Dimension der Mission selbst zu verstehen. Mission ohne Diakonie könnte leicht in ein arrogantes, gewalttätiges Unterfangen umschlagen, das die Kultur, Werte und Identität der Menschen, an die sich die christliche Botschaft richtet, gering achtet. Eine solche Haltung würde versuchen, den eigenen Glauben anderen aufzuzwingen anstatt Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, die in uns ist (1.Petrus 3,15), und die Glaubensentscheidung der anderen zu respektieren. Die Kirche muss Verkündigung und Gottesdienst eng mit der diakonischen Dimension verknüpfen. „Ist dies nicht der Fall, kann Verkündigung als Proselytismus wahrgenommen werden, statt als offene Einladung, das Gottesgeschenk des Heils anzunehmen, und gottesdienstliche Feier kann als eine rein geistliche Übung empfunden werden, statt als freudige Anbetung des dreieinigen Gottes.“2

14. Andererseits wird die Diakonie von der Mission der Kirche oft nicht nur aufgrund praktischer Erwägungen, sondern aus Prinzip abgetrennt – möglicherweise mit der bequemen, aber in diesem Fall keineswegs überzeugenden Ausrede, der Dienst an unseren Nächsten müsse ausschließlich an deren Bedürfnissen orientiert sein, ohne irgendein Eigeninteresse derer zu verfolgen, die diesen diakonischen Dienst leisten. In diesem Fall könnte Diakonie leicht zum „professionellen“ Unterfangen werden, dem Herz und Leidenschaft fehlen und das von seiner spirituellen Motivation abgekoppelt ist, die verborgen bleibt.

15. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen die folgenden Überlegungen aus meinem Referat bei der Weltkonferenz der Diakonia-Weltföderation vorstellen, die unlängst in Atlanta (Georgia, USA) stattgefunden hat:

Der diakonische Dienst gehört zum Wesen der Kirche. Zeugnis und Dienst gehen von jeher Hand in Hand, zumindest sollte dies jederzeit der Fall sein. In Apostelgeschichte 6 wird berichtet, wie sieben Diakone ausgewählt werden, die den bedürftigen Gliedern der Kirche, insbesondere den Witwen, helfen sollen. Dies geschieht auf der Grundlage der Feststellung der Zwölf: „Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen.“ (Apostelgeschichte 6,2) Im Zusammenhang mit diesem Text finden sich häufig zwei Missverständnisse. Zum einen wird angenommen, die Zwölf hätten das, was in der Kirche „wirklich“ wichtig ist – also Verkündigung des Wortes und Verwaltung der Sakramente – unter ihrer eigenen Autorität behalten. Die Diakonie wird dann in gewissem Sinne als etwas Sekundäres betrachtet, das anderen überlassen werden kann, die über geringere Autorität verfügen. Zum anderen werden starre Grenzen zwischen Verkündigung und Dienst angenommen; es wird erwartet, dass beide Bereiche sich auf ihren jeweiligen konkreten Auftrag und Arbeitsbereich beschränken.

Im Gegensatz zu diesen Schlussfolgerungen ist Apostelgeschichte 6 als ein gemeinsames Wahrnehmen von Verantwortung innerhalb des einen Amtes der Kirche zu verstehen, das sich vom Wirken Christi herleitet. Die Zwölf verkündigten nicht nur das Evangelium, sie heilten auch Kranke. Die Diakone halfen nicht nur Menschen in materieller Not. Stephanus beispielsweise erlitt das Martyrium, weil er Zeugnis für das Wort abgelegt hatte. Und Philippus legte dem äthiopischen Finanzbeamten die Schrift aus. Er bezeugte Christus als den in Jesaja 53 beschriebenen Gottesknecht und taufte den Äthiopier.

Wir sehen also, dass die Diakonie als Teil eines ganzheitlichen Missionsverständnisses bereits in der Urkirche etabliert wurde, als die Apostel denjenigen die Hand auflegten, die als Diakone für die besondere Aufgabe ausgewählt worden waren, für die Armen und Schwachen zu sorgen. Diese Aufgabe war spirituell verankert im zweiten Gebot, unsere Nächsten zu lieben wie uns selbst, und in der Lehre der Schrift über die Versorgung von Waisen, Witwen und Fremden. Der diakonische Dienst ist tief verwurzelt in unserem Glauben an Jesus Christus, den Erlöser der Welt.“

Erinnerung am Scheideweg: Bestandsaufnahme und Zukunftsträume

16. Zunächst einige Gedanken zur gegenwärtigen Weltwirtschaftslage. Seit unserer letzten Tagung ist die Welt in eine Finanzkrise katastrophalen Ausmaßes gestürzt. Von Spekulation und Habgier bestimmte Finanzpraktiken, begleitet von einer Ideologie des Wirtschaftsliberalismus, der Bank- und Finanzsysteme radikal dereguliert hat, brachten die gesamte Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht. Reiche Länder erlitten einen starken Produktionsrückgang. Entsprechend nahm die Arbeitslosigkeit zu. Am schwersten getroffen aber hat die Krise wiederum die Ärmsten der Welt. Statt dass die Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele näher gerückt wäre, wurde inzwischen eine weitere Million Menschen in die Armut getrieben und der Hunger in der Welt nimmt deutlich zu. Exorbitante Summen, die nie vorhanden zu sein scheinen oder bereitgestellt werden, wenn es um die Bekämpfung des Hungers in der Welt geht, wurden kurzfristig in die Rettung von Banken, anderen Finanzinstitutionen und großen Unternehmen gepumpt. Möglicherweise stellen die reichen Staaten am Ende der Krise einen etwas niedrigeren Anteil an der Weltwirtschaft und manche Länder des Südens, die an der Misswirtschaft des Banksystems keinen Anteil hatten, erholen sich vielleicht schneller als andere vom Abschwung. Angesichts der Auswirkungen der Krise verliert die ideologisch geprägte Sichtweise, der Prozess des freien Marktes und der Globalisierung werde weltweiten Wohlstand schaffen, an Boden. Dennoch gibt es keine echten Anzeichen dafür, dass das die Weltwirtschaftsordnung bestimmende Ungleichgewicht und Unrecht behoben werden. Gut möglich, dass nach Ende der Rezession der Neoliberalismus sein Comeback feiert.

17. Das Jahr 2009 ist zudem ein Jahr des intensiven Erinnerns an die Vergangenheit und macht uns damit deutlich, dass wir gegenwärtig an einem Scheideweg stehen. Mehrfach hatten wir in diesem Jahr Anlass zu Jubiläums- und Gedenkfeiern.

18. Beginnen wir mit kirchlichen Ereignissen. Dieses Jahr jährte sich zum 500. Mal der Geburtstag Johannes Calvins. Calvin setzte sich im Lichte dessen, was die Bibel lehrt, mit den Lehren der Kirche auseinander und entdeckte wesentliche, lang vernachlässigte christliche Prinzipien wieder – etwa die Gottesherrschaft und die Autorität der Schrift. Mit dem Beharren auf der Freiheit des einzelnen Gläubigen und der Erkenntnis, dass Magistraten sündige Menschen sind wie alle anderen, leistete er einen Beitrag zur Entstehung der repräsentativen Demokratie und zur Trennung von Kirche und Staat.

19. Viele Stimmen, auch aus Konfessionsfamilien außerhalb der reformierten Tradition, würdigten Calvins außerordentlich wertvollen Beitrag zu Theologie und Kirchenorganisation. Unter den unterschiedlichen Ansätzen, über die sich Festredner und hunderte Calvin-Begeisterte, die aus Anlass von „Calvin 500“ im Sommer dieses Jahres nach Genf gereist waren, austauschten, überraschte vielleicht die große Bereitschaft, Calvins Grenzen anzuerkennen. Andererseits war dies vielleicht gar nicht so überraschend. Es geht ja nicht um Bescheidenheit, sondern um Selbstkritik und um die Erkenntnis, dass die Kirchen von ihrem Wesen her in gegenseitiger Komplementarität existieren. Calvin selbst wünschte ja schließlich nichts anderes, als Gott allein die Ehre zu geben.

20. In der jüngeren Vergangenheit sind Ereignisse von gleichermaßen großer ökumenischer Bedeutung zu nennen. Denken wir daran, dass sich am 1. September 2009, an dem die Zentralausschusstagung ja noch andauern wird, die Erscheinung der Enzyklika seiner Allheiligkeit, des Ökumenischen Patriarchen Dimitrios I., zum Umweltschutztag 1989 zum 20. Mal jährt. Mit der Enzyklika wurde dieser Tag zum Tag besonderer Gebete für den Schutz unserer Umwelt, der guten Schöpfung Gottes, bestimmt. In diesem Jahr werden die Schöpfungstage im September auch der Vorbereitung darauf dienen, dass bei den Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen in Kopenhagen die Stimme der Kirchen zu Gehör kommt. Zeigen wir also am 13. Dezember gemeinsam Flagge, lassen wir die Glocken unserer Kirchen, die Muschelhörner, die Trommeln und die Gongs 350 Mal für Klimagerechtigkeit erklingen!3

21. Als Lateinamerikaner darf ich selbstverständlich die Entstehung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie als besonders wichtigen Faktor für das kirchliche Leben der letzten Jahrzehnte nicht außer Acht lassen4. Bereits im Jahr 1964 sprach Gustavo Gutiérrez im Rahmen einer Tagung lateinamerikanischer Theologen in Petrópolis (Rio de Janeiro) von der Theologie als 'kritischer Reflexion der Praxis'. Dieser Gedanke wurde bei verschiedenen anderen Tagungen in Vorbereitung der zweiten lateinamerikanischen katholischen Bischofskonferenz, die 1968 in Medellín (Kolumbien) stattfand, aufgegriffen. Pastorale Anliegen machten eine neue theologische Reflexion erforderlich. Die Armut stellte das christliche Gewissen und das Zeugnis der Kirche vor eine gewaltige Herausforderung. Diese Tagungen waren „Laboratorien einer Theologie, die auf der Grundlage pastoraler Anliegen und engagierten christlichen Handelns entwickelt wurde“5. Vor vierzig Jahren schließlich trat die Befreiungstheologie dann wirklich ins Licht der Öffentlichkeit. Ein theologischer Kongress in Cartigny (Schweiz) stellte sich 1969 unter dem unprätentiösen Titel „The Meaning of Development: Notes on a Theology of Liberation“6 der Herausforderung. Hier legte Gustavo Gutiérrez seine Notizen über eine Theologie der Befreiung erstmals einem internationalen Publikum vor. Die Konferenz wurde ausgerichtet von SODEPAX, dem damaligen gemeinsamen Ausschuss von ÖRK und Vatikan für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden.

22. Wir stehen am Vorabend des hundertsten Jubiläums der Weltmissionskonferenz in Edinburgh. Unsere Zentralausschusstagung ist die letzte vor diesem Ereignis, das solch große Bedeutung für den ÖRK hat und das in mehrfacher Hinsicht in der heutigen Zeit von besonders großer Relevanz zu sein scheint. Das Jubiläum der Weltmissionskonferenz im nächsten Jahr ist für eine Vielzahl von Menschen in aller Welt, denen die Mission und die Einheit der Kirche am Herzen liegen, ein bewegendes Ereignis.

23. Kenneth R. Moss stellt fest, dass „[s]tatt weithin auf den nordatlantischen Bereich beschränkt zu bleiben, wird Edinburgh 2010 ganz bewusst der Südhalbkugel Vorrang geben, in dem Bewusstsein, dass das Gravitationszentrum des Christentums sich im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts deutlich nach Süden verschoben hat. Ziel ist es, dass 60% der Delegierten 2010 in Edinburgh aus der südlichen Hemisphäre kommen. Ein Prozess von wahrhaft globaler Reichweite soll möglich werden. (…) wir brauchen Kreativität, um die Konturen einer missionarischen Bewegung zu entdecken, die nicht mehr ‚vom Westen an den Rest der Welt’ gerichtet ist, sondern ‚von überall an alle’“7.

24. Wenden wir uns nun Ereignissen aus dem politischen Bereich zu. Als erstes erinnern wir uns hier an das Jahr 1989, an den epochalen Wandel, den der Fall der Berliner Mauer symbolisierte. Von 1961 bis 1989 durchschnitt eine 154 Kilometer lange Mauer aus Stahlbeton das zweigeteilte Berlin. Sie wurde zum Symbol der Spaltung der Welt in zwei im Widerstreit liegende Systeme. Hier auf dem Gelände des ökumenischen Zentrums befindet sich ein Stück dieser Mauer. Es war ein Geschenk der ersten frei gewählten Regierung der DDR an die KEK und diente als Zeichen für die Anerkennung der Rolle, die die Kirchen bei den friedlichen Veränderungen in Osteuropa gespielt hatten. In diesem Prozess hatten die Kirchen die Chance, ihr Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung, für demokratische Prozesse und für die unveräußerliche Würde des Menschen in der Zivilgesellschaft wirksam werden zu lassen – auf friedlichem Weg! Wir erinnern uns in Dankbarkeit an jene Tage und vor unserem inneren Auge erstehen die bewegenden Bilder von jubelnden Menschen, die die Mauer besteigen und ihr Ende feiern. Dabei vergessen wir jedoch auch nicht die vielen anderen Mauern - Mauern aus Beton, aus Vorurteilen oder aus Gesetzen, die Fremde diskriminieren, Mauern, die weiter bestehen oder neu geschaffen werden und die in vielen Teilen der Welt Völker spalten und großes Leid über die Menschen bringen. Wir gedenken außerdem all jener, die vor 20 Jahren auf dem Platz des himmlischen Friedens in Beijing (China) ihr Leben lassen mussten.

25. Ende der 1980er Jahre zeichnete sich auch das Ende der Apartheid in Südafrika ab. 1989 begann in Namibia der Übergang in die Unabhängigkeit, die im folgenden Jahr besiegelt wurde. Namibia war damit das letzte Land Afrikas, das den Kolonialismus hinter sich ließ. In Lateinamerika bedeutete das Ende des Pinochet-Regimes in Chile auch das symbolische Ende der Militärdiktaturen auf dem Kontinent. Der jüngste Militärputsch in Honduras hat traurige Erinnerungen an die Vergangenheit geweckt; hoffen wir, dass auch er als anachronistische Episode in die Geschichtsbücher eingehen wird, die keinerlei Gefahr für die erstarkende Demokratie in der Region heraufbeschworen hat.

26. Neue Hoffnungen sind ebenfalls zu vermelden. Die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der Vereinigten Staaten hat eine große weltweite Welle der Hoffnung ausgelöst. Von einem einzelnen Menschen, der in ein auf die Privilegien wirtschaftlicher, politischer und militärischer Macht aufgebautes System eingebunden ist, sind keine radikalen Veränderungen zu erwarten. Trotzdem reichen die Hoffnungen von einer Politik der friedlichen Lösung von Konflikten über Sensibilität dafür, was die Völker der Welt zum Leben brauchen, bis hin zur Berücksichtigung ökologischer Anliegen in der US-amerikanischen Politik. Am 20. Januar 2009 unterzeichneten Vorstandsmitglieder, leitende Kirchenverantwortliche und assoziierte Mitglieder der US-Konferenz für den ÖRK ein an das Büro von Präsident Obama gerichtetes Schreiben, in dem die Erwartung der christlichen Gemeinschaften in den USA und in vieler Hinsicht auch die internationale Hoffnung zum Ausdruck kamen, die sich auf den neuen Präsidenten des einflussreichsten und mächtigsten Landes der Welt richten.

„Die Herausforderungen sind immens und erdrückend. Sie erstrecken sich auf alle Bereiche unserer Gesellschaft, ja über das gesamte Spektrum der weltweiten Menschheitsfamilie. Unzählige Menschen in unserer mit einer Gabenfülle gesegneten Welt leiden unter Armut. Gott ruft uns auf, den Armen in ihrer Not zu helfen. Unzählige Orte weltweit werden zerstört von Gewalt und Krieg. Christus ruft uns auf, Friedensstifter zu sein. Es ist nicht an uns, auf Ihre neue Regierung zu verweisen und zu sagen: „Bringt das in Ordnung.“ Jedoch ist es an uns, die Ärmel hochzukrempeln und in Partnerschaft mit Ihnen an den Veränderungen zu arbeiten, die die Vereinigten Staaten und die Welt so dringend brauchen, damit sie Gottes Vision für die Menschheit und die ganze Schöpfung besser widerspiegeln. Es ist an uns, uns alle zur Rechenschaft zu ziehen, wo wir dieser Vision nicht folgen.“8

Perspektiven: Die Kirchen und die ökumenische Bewegung – heute und in 20 Jahren

27. Unsere diesjährige Tagung des Zentralausschusses ist von besonderer Bedeutung. Schon ein kurzer Blick auf die Tagesordnung gibt uns einen Eindruck von der Vielzahl wichtiger Themen, mit denen wir uns in den kommenden Tagen beschäftigen werden. Zum Abschluss meines Berichts möchte ich drei dieser Themen herausgreifen und kurz kommentieren. Die finanziellen und programmbezogenen Herausforderungen, die wir bewältigen müssen, sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt. Lassen Sie mich etwas Zeit für die Auseinandersetzung mit einem fundamentaleren Aspekt aufwenden. Vielleicht bietet sich heute auch ein besonders guter Moment, die „Visions-Frage“ für unseren Weg und für den ÖRK als Gemeinschaft von Kirchen aufs Neue anzusprechen. Sie rückt immer wieder in besonderer Weise in den Blick, wenn wir zum gemeinsamen Gebet zusammenkommen. Darüber hinaus bietet sich uns, sowohl in der theologischen Reflexion als auch in der Auseinandersetzung mit den Programmaktivitäten, eine Chance, unsere Vision neu zu beleben – also die Vergangenheit in Bezug zu setzen zu einer neuen Zukunft. Das CUV-Dokument kann uns dabei zweifelsohne Inspiration und Wegweisung sein. Wir sollten es nicht als statische Positionsbeschreibung verstehen, sondern vielmehr als Einladung zur fortgesetzten Reflexion über unsere Vision.

28. Wir leben in einer komplexen, vielschichtigen Realität. Eine allzu simple Vision reicht weder aus, diese zu beschreiben, noch hilft sie uns, den Herausforderungen, vor die uns diese Realität stellt, zu begegnen. Dies gilt auch im Blick auf das Leben der Kirchen und die aktuelle Situation des Ökumenischen Rates der Kirchen. Einerseits haben manche Kirchen entdeckt, dass die Nähe zueinander groß genug war, eine Vereinigung zu vollziehen oder volle Kirchengemeinschaft zu vereinbaren – und haben entsprechend gehandelt, womit sich die ökumenische Landschaft verändert hat. Unter den „etablierten“ evangelischen/anglikanischen Kirchen können wir von einer De-facto-Kirchengemeinschaft sprechen – eine einschneidende ökumenische Entwicklung. Andererseits haben die Diskussion ethisch-moralischer Fragen und die hierzu getroffenen Entscheidungen eine tiefe Polarisierung zwischen und innerhalb einiger Konfessionsfamilien verursacht.

29. Seit Porto Alegre betonen wir wiederholt, dass wir gegenwärtig in einer Welt und religiösen Landschaft leben, die sich gravierend von der Realität vergangener Jahrzehnte unterscheiden. Religiöser Pluralismus und kulturelle Zersplitterung treten verstärkt in den Vordergrund. Die Mitgliedschaft des ÖRK ist längst nicht mehr so repräsentativ für die weltweite Christenheit (bzw. die nicht römisch-katholischen Kirchen), wie sie es einmal war. Viele neue evangelikale Kirchen und Pfingstkirchen (einschließlich neupfingstlicher Gemeinschaften) sind in der religiösen Landschaft sehr aktiv vertreten, aber nur wenige von ihnen haben sich dem ÖRK angeschlossen oder haben auch nur den Wunsch, mit ihm in Dialog zu treten. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Vision der ökumenischen Bewegung womöglich in Auflösung begriffen ist. Und doch haben wir auch guten Grund, unserer Dankbarkeit gegenüber der Geschichte der ökumenischen Bewegung und des ÖRK in der recht kurzen Zeit seines Bestehens Ausdruck zu verleihen. Ein fundamentaler Wandel hin zu Dialog, Zusammenarbeit und Gemeinschaft zwischen Konfessionsfamilien hat sichtbare Ergebnisse gezeitigt. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die nicht im kirchlichen Bereich angesiedelt sind, räumen offen ein, welch große Frucht der Solidarität die ökumenischen Bemühungen getragen haben: denken wir an den erheblichen Anteil, den die Ökumene an der Überwindung der Apartheid hatte, dem Ende der lateinamerikanischen Diktaturen, der Vision eines nicht länger geteilten Europas – von denen ja bereits die Rede war.

30. Das Globale Christliche Forum, das erstmals Ende 2007 in Nairobi tagte, ist Beleg für einen neuen Ansatz in der Ökumene, der orthodoxe, römisch-katholische, anglikanische, reformatorische, pfingstliche und evangelikale Kirchen sowie christliche Netzwerke und parakirchliche Organisationen einbezieht. Ein ähnlich breites Spektrum ist an dem Allgemeinen Rat für Edinburgh 2010 beteiligt, der derzeit die Konferenz zum 100-jährigen Jubiläum der ersten Weltmissionskonferenz vorbereitet. Dieser Rat repräsentiert möglicherweise einen breiteren Querschnitt der weltweiten Christenheit als jede andere Organisation zuvor.

31. Nun ist es notwendig, der Frage nachzugehen, wie die ökumenische Bewegung eine Vision bieten kann, die, jenseits der eigenen Institution, der Welt insgesamt gilt – einer Welt, die nach wie vor von genauso tiefen Gräben durchzogen wird, wie dies zu Zeiten des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer, der Apartheid und der Militärdiktaturen der Fall war, wenn die Gräben heute auch komplexer und zum einen auffälliger, zum anderen aber auch subtilerer Art sind. Denken wir etwa daran, dass ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung nur eingeschränkt Zugang zu Wasser und Nahrung, Bildung und medizinischer Versorgung hat und dass vielen Menschen der Zugang dazu gänzlich verwehrt ist. Die drückende Last der Armut hat nicht abgenommen.

32. Der Rahmen, in dem sich Ökumene heute bewegt, wird neben denjenigen, die in den Fußstapfen der Gründerfiguren der Bewegung gehen, von neuen Akteuren geprägt. Die neuen, wachsenden evangelikalen Kirchen und Pfingstkirchen habe ich bereits genannt. Aber auch in den Kirchen, die traditionell starkes ökumenisches Engagement gezeigt haben, sind neue Akteure beteiligt. Wir haben bisher hauptsächlich Kirchen und Kirchenräte im Blick gehabt; mit den weltweiten christlichen Gemeinschaften kommt nun eine dritte Kategorie ins Bild. Sie sind ökumenische Organisationen im weitesten Sinne und haben zusammen mit den kirchlichen Diensten und Werken mittlerweile großen Einfluss auf das Leben von Kirchen und Gesellschaft – primär im Bereich ihrer diakonischen Aktivitäten in Nothilfe und Entwicklung. Damit finden sie sich unübersehbar am Runden Tisch der Ökumene wieder und sind Teil der ökumenischen Dynamik geworden. Die Kohärenz der ökumenischen Bewegung zu erhalten, wird immer häufiger zur großen Herausforderung. Die Beziehungen unter den genannten Partnern werden komplexer, die Versuchung, miteinander in Wettbewerb zu treten anstatt zusammenzuarbeiten, ist nicht zu unterschätzen. Umso mehr sollten wir Bemühungen würdigen und unterstützen, die das gemeinsame ökumenische Engagement erhalten und stärken und die ökumenischen Beziehungen auf der Grundlage einer gemeinsam getragenen Agenda fortentwickeln.

33. Wie es in der Aufgabenbeschreibung unseres Fortsetzungsausschusses für Ökumene im 21. Jahrhundert heißt, werden ökumenische Aktivitäten heute auf unterschiedlichen Ebenen von Kirchen, die in Räten und ähnlichen Gremien agieren, durchgeführt: weltweite christliche Gemeinschaften, kirchliche Dienste und Werke, internationale ökumenische Organisationen, ökumenische Gemeinschaften, Missionswerke, theologische Lehranstalten und Vereinigungen theologischer Bildungseinrichtungen, ökumenische Akademien, Zentren der Laienbildung und viele andere ökumenische Einrichtungen mehr. Die Zahl ökumenischer Organisationen stellt die Kirchen und Finanzpartner, von denen erwartet wird, dass sie sich an ihnen beteiligen und sie unterstützen, vor eine echte Herausforderung.

34. Die Beziehung zwischen Kirchen und ökumenischen Organisationen insgesamt kann und sollte im positiven Sinne weiterentwickelt werden. Einerseits können wir ökumenische Organisationen als Instrumente verstehen, die den Aktionsradius der Kirchen erweitern, die Menschen in Not helfen, Gewissensfragen, Bewusstseinsbildung und bürgerschaftliches Engagement thematisieren und sich für eine tragfähige, gerechte Gesellschaft einsetzen. Andererseits können wir betonen, dass die Kirchen als Glaubensgemeinschaften die ökumenischen Organisationen inspirieren und motivieren. Würde man beide voneinander trennen, dann würde sich der diakonische Aktionsradius der Kirchen als Einrichtungen allzu sehr verringern und die ökumenischen Organisationen verlören langfristig die sie tragende Inspiration.

35. In einem Vortrag im Rahmen der von ÖRK-Bibliothek und -Archiv veranstalteten „Mittagsgespräche“ erinnerte der ehemalige ÖRK-Mitarbeiter Simon Oxley im vergangenen Jahr daran, dass „Wandel in allen vier Strömen der ökumenischen Bewegung, die im ÖRK zusammengefasst wurden - Glauben und Kirchenverfassung, Praktisches Christentum, Mission und Erziehung - einen gemeinsamen roten Faden darstellt. Die Einheit der Kirche, egal wie wir sie genau definieren, können wir nicht ohne Wandel herbeiführen. Eine gerechte Ordnung ist auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene nicht ohne Wandel zu erreichen.“ Oxley illustrierte dies anhand eines historischen Beispiels, das belegt, wie dieser rote Faden das Leben des Rates von jeher durchzieht:

Im ÖRK-Archiv ist eine bezeichnende halböffentliche Rüge aus den 1950er Jahren festgehalten, die Generalsekretär Visser ’t Hooft einem leitenden, aber relativ neuen Mitarbeiter in einem Gremium erteilte, das wir heute als beratend bezeichnen würden. Der Mitarbeiter hatte sinngemäß festgestellt, wenn die Kirchen dächten, mit der Mitgliedschaft im ÖRK verpflichteten sie sich auf den Wandel, wären sie ihm nie beigetreten. Visser ’t Hooft scharfe Antwort lautete, genau das hätten sie in Amsterdam getan und täten es seither.9

36. Als wir die Konsensmethode beschlossen, brachte dies einen erheblichen Wandel mit sich. Indem sie diesem neuen Verfahren im ÖRK zustimmten, erklärten die Mitgliedskirchen sich zur Offenheit für Veränderungen bereit. Oxley schließt mit der Einsicht, der Konsens impliziere weniger eine Methode, die auf ein Ergebnis abziele, dem alle ohne Unbehagen zustimmen könnten, als vielmehr eine Offenheit dafür, die eigene Position zu ändern oder etwas Neues zu entdecken. Wir haben die neue Konstellation der ökumenischen Landschaft vor Augen – sie wird im Alltag der Kirchen, in ihren Beziehungen und Netzwerken erlebt – und doch sind wir anscheinend immer noch nicht in der Lage, sie zu beschreiben und/oder zu definieren.

37. Der derzeit in Brasilien tätige Schweizer Theologe Rudolf von Sinner, ein Mitglied des Fortsetzungsausschusses für Ökumene im 21. Jahrhundert, erinnerte uns 2007:

Es kann keine ökumenische Bewegung geben, die nicht auf Vertrauen – und zunächst auf Vertrauen in Gott, der in Christus Mensch wurde und im Heiligen Geist gegenwärtig ist – aufbaut. Auf der Grundlage dieses Vertrauens können wir das Risiko eingehen, einander zu vertrauen. Das macht uns verwundbar. Aber es ist der einzige Weg, sinnhafte Beziehungen aufzubauen. In vielen Fällen jedoch mangelt es gerade am Vertrauen, häufig herrscht offener Wettbewerb und Vertrauen wird bewusst zerstört.10

38. Vertrauen lässt sich nur dann aufbauen, wenn wir kontinuierlich zu Jesus, unserem Herrn und Erlöser, umkehren, uns nach besten Kräften bemühen, den Willen Gottes zu erkennen, und offen sind für die Führung des Heiligen Geistes.

39. Kommen wir also noch einmal auf Johannes 6 zurück. Wir hatten die Erzählung an dem Punkt unterbrochen, wo sich viele Jüngerinnen und Jünger von Jesus abwenden, da sie die radikalen Konsequenzen der Nachfolge nicht ertragen können. Jesus fragt nun die Zwölf: „Wollt ihr auch weggehen?“ (Johannes 6,67) Einer von ihnen wird ihn später verraten. Simon Petrus wird später leugnen, ihn zu kennen, aber nun gibt er die Antwort, die auch jene Verleugnung überwinden und ihn zu einem treuen Apostel Jesu machen wird: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (V. 68). Wohin sollen wir gehen? In der Nachfolge Jesu bleiben wir auch unserem ökumenischen Engagement treu. Es gibt keine Alternative. Wir können nicht in die Vergangenheit zurückkehren und uns mit unseren jeweiligen Eigenheiten als unterschiedliche Kirchen begnügen. Vielmehr halten wir daran fest, nach Einheit unter den Kirchen zu streben, gemeinsam mit denen, die wir als Schwestern und Brüder erkannt haben, die den einen Glauben teilen an Jesus Christus als Herrn und Erlöser, zur Ehre Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Schlussbemerkung an diese Zentralausschusstagung

40. Abschließend noch ein Wort zu unserer diesjährigen Tagung: Wie gewohnt ist die Tagesordnung sehr umfangreich. Verschiedene Entscheidungen stehen an, die von besonderer Bedeutung für das Leben des ÖRK sein werden. Drei davon möchte ich herausgreifen. Erstens geht es um die Frage des Tagungsortes für die nächste Vollversammlung im Jahr 2013. Wir sind sehr dankbar, dass Kirchen an drei unterschiedlichen Orten ihre Bereitschaft signalisiert haben, die Vollversammlung auszurichten. Bei unserer Wahl werden wir selbstverständlich die logistischen Aspekte, das Engagement der Kirchen sowie das öffentliche Zeugnis berücksichtigen, das wir mit der Wahl des Vollversammlungsortes geben. Zweitens wird uns der Bericht der Arbeitsgruppe für Leitungsfragen, Rechenschaftspflicht und Personalpolitik vorgelegt, über den wir beraten werden. Wir danken für die intensive Arbeit dieser Gruppe. Die tiefe Verbundenheit ihrer Mitglieder mit dem ÖRK hat dazu geführt, dass sie sich nicht nur darauf beschränkt haben, Vorschläge über unmittelbare Maßnahmen vorzulegen, sondern auch den Blick in die Zukunft gewagt haben, mit der Frage, welche Veränderungen in Leben und Struktur des ÖRK möglicherweise geeignet sein könnten, den Herausforderungen und Aufgaben, die sich uns als Organisation stellen, besser zu begegnen. Der Bericht der Arbeitsgruppe wird uns auch über diese Tagung hinaus begleiten. Lassen Sie mich schließlich auch auf die Wahl des zukünftigen ÖRK-Generalsekretärs zu sprechen kommen. Es ist sicherlich unnötig, die Bedeutung dieser Entscheidung für das Leben des ÖRK und für seine Mitgliedskirchen zu betonen. Was der ÖRK ist und wie er wahrgenommen wird, daran hat der Generalsekretär mit der Art und Weise, wie er seine Aufgaben sowohl in den Beziehungen zu den Kirchen als auch in der Leitung des Hauses wahrnimmt, erheblichen Anteil.

41. Unsere diesjährige Tagesordnung stellt auch Zeit dafür bereit, gemeinsam den Dank des Ökumenischen Rates der Kirchen für die engagierte Arbeit Samuel Kobias in seinem Amt als Generalsekretär zum Ausdruck zu bringen.

42. Unsere letzte Zentralausschusstagung gestaltete sich, wie Sie sich sicher nur zu genau erinnern werden, sehr schwierig und fand in einer sehr angespannten Atmosphäre statt. Inzwischen haben wir die zugrunde liegenden Probleme bearbeiten und die Schwierigkeiten und Hindernisse überwinden können. Dies war nur dank der gemeinsamen Anstrengungen aller Beteiligten möglich. Alle haben dem Wohl des ÖRK höchste Priorität gegeben. Insbesondere möchte ich in diesem Zusammenhang den Präsidentinnen und Präsidenten, dem Exekutivausschuss sowie dem Generalsekretär für alle Bemühungen danken, die sie, gemäß dem Auftrag des Zentralausschusses, der Vermittlung und Konfliktlösung widmeten, wobei zunächst das Streben nach Wahrheit und Versöhnung im Mittelpunkt stand und dann die Zukunft des ÖRK in den Blick rückte. Ich hoffe zuversichtlich, dass diese Zentralausschusstagung im gleichen Geist stattfinden und den gleichen Zielsetzungen Rechnung tragen wird. Letztlich geht es ja nicht um unsere Sache, sondern um Gottes Heilsplan, in dessen Dienst der ÖRK steht und um dessentwillen er existiert. So möge uns das Bekenntnis des Apostels Petrus leiten: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Johannes 6,68).

1 - Bericht des Vorsitzenden, Zentralausschuss, Februar 2008

2 - Zitat aus meinem Hauptreferat auf der Weltkonferenz der Diakonia-Weltföderation am 24. Juli 2009 (Atlanta, Georgia, USA)

3 - Mehr zur Glockenläut-Kampagne für Klimagerechtigkeit finden Sie (in englischer Sprache) auf der ÖRK-Webseite unter: http://www.oikoumene.org/de/events-sections/countdown-to-climate-justic…

4 - Ich folge hier der Abhandlung von Leonardo and Clodovis Boff in Introducing Liberation Theology, Orbis Books, Maryknoll, 1987.

5 - Ibid, p.69.

6 - Gustavo Gutierrez Merino, in In Search of a Theology of Development, A Sodepax Report, Schweiz 1970, S.116 ff.

7 - Vgl. MOSS, Kenneth R., Edinburgh 2010 – springboard for mission, www.edinburgh2010.org/fileadmin/files/edinburgh2010/files/pdf/Edinburgh%202010_03.pdf

9 - OXLEY, Simon. Where's the passion? Why ecumenism needs the heart as well as the mind. A conversation starter; library.oikoumene.org/fileadmin/files/wcclibrary/Wheres_the_passion.pdf, abgerufen am 05.08.2009.

10 - vgl. Fortsetzungsausschuss für Ökumene im 21. Jahrhundert. Papiere für und ein Bericht über die erste Tagung des Ausschusses, ÖRK, Genf 2008, S. 20 (auf Englisch)