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Pastor Dr. Saïd Ailabouni, Programmdirektor für die Region Europa, Naher Osten & Nordafrika im Geschäftsbereich Globale Mission der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika. Foto: Ivars Kupcis/ÖRK

Pastor Dr. Saïd Ailabouni, Programmdirektor für die Region Europa, Naher Osten & Nordafrika im Geschäftsbereich Globale Mission der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika. Foto: Ivars Kupcis/ÖRK

Der in Nazareth (Galiläa) geborene Pastor Dr. Saïd Ailabouni ist mit 19 Jahren in die USA gegangen, um Arzt zu werden. Weil er aber so wütend auf Gott war, hat er stattdessen Theologie studiert und ist lutherischer Pastor geworden. Heute leitet er die für Europa und den Nahen Osten zuständige Abteilung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika. Seine Familie in Palästina hat er seit seiner Auswanderung vor 50 Jahren aber immer regelmäßig besucht. Im Vorfeld der Weltweiten Aktionswoche für Frieden in Palästina und Israel hat sich Ailabouni bereit erklärt, dem Ökumenischen Rat der Kirchen etwas über die Erfahrungen und Beobachtungen zu erzählen, die er im Laufe seines Lebens gemacht hat.

Von Ivars Kupcis*

Erzählen Sie uns etwas über die Geschichte Ihrer Familie.

Pastor Ailabouni: Bis 1948 hat meine Familie in Tiberias am See Genezareth gelebt. Durch den Krieg und die Machtübernahme Israels in der Region hat sie dann alles verloren, was sie hatte. Im April 1948 wurde meiner Familie gesagt, sie sollte gehen und erst zurückkommen, wenn der Krieg vorbei sei. Im Dorf Eilabun, woher auch mein Nachname stammt und wo mein Großvater gelebt hatte, haben sie alle einen Zufluchtsort gefunden.

Ende Oktober ist dann die israelische Armee dann auch in dieses Dorf gekommen, obwohl es dort auch vorher schon Kämpfe zwischen der israelischen und der arabischen Armee gegeben hatte. Nach einem Massaker in Eilabun, bei dem viele unschuldige Menschen, darunter auch einer meiner Cousins, getötet wurden, hat die israelische Armee befohlen, dass alle zu Fuß in den Libanon gehen sollten. Meine ganze Familie, auch meine Mutter musste sich mit meiner gerade geborenen Schwester und meinen anderen Geschwistern auf den Weg in den Libanon machen – bei Kälte und ohne etwas zu essen. Mein Vater wurde inhaftiert.

Als meine Familie sechs Monate später zurückkehrte, waren ihre Häuser Tiberias schon von Siedlern in Beschlag genommen worden. Also gingen sie nach Nazareth, wo mein Vater Arbeit fand und sie ein kleines Haus mieten konnten. Dort bin ich dann zwei Jahre später geboren.

Welche Bedeutung hat es für Sie, in Nazareth geboren und in der gleichen Gegend aufgewachsen zu sein, in der Jesus seine Kindheit verbrachte?

Pastor Ailabouni: Wenn ich ehrlich bin, war das für mich nie etwas Besonderes bzw. habe ich das erst viel später so gesehen. Meine Familie ist griechisch-katholischen Glaubens. Ich bin in christliche Schulen gegangen und war damals ein ziemlich religiöser Mensch. Die Geschichten von Jesus waren mir sehr vertraut. Wir haben die christlichen Feste gefeiert, aber für mich war es trotzdem nichts Besonderes, in dem gleichen Ort zu leben, in den Jesus gelebt hatte, – bis ich dann in die Vereinigten Staaten ging und die Menschen mir auf einmal viele Fragen stellten. Ich konnte das erst schätzen als ich älter war und insbesondere als ich dann Pastor wurde und ich die Bibel lesen und sowohl die Region und geographischen Begebenheiten als auch die Menschen gut verstehen konnte. Die Menschen haben sich nicht so sehr verändert – das palästinensische Volk ist in vielerlei Hinsicht genau wie die Menschen im Neuen Testament.

Warum haben Sie beschlossen, in die USA zu gehen?

Pastor Ailabouni: Mein Vater ist an Krebs gestorben als ich sechs Jahre alt war. Ich wollte Arzt werden, um Menschen helfen zu können, die an Krebs leiden – das war mein Traum. Als ich dann aber an keiner Universität in Israel angenommen wurde, habe ich beschlossen in die USA zu gehen, um dort zu studieren und Arzt zu werden. Im Anschluss wollte ich dann nach Nazareth zurückkehren.

Aber ich wollte auch die Bibel verstehen, denn es hat mich sehr verwirrt, in meiner Kindheit und Jugend so viele verschiedene Lehrmeinungen über die Bibel gehört zu haben. Ich hatte so viele Fragen. Als ich das College mit einem ersten akademischen Abschluss in Chemie abgeschlossen hatte, habe ich daher beschlossen, doch Theologie zu studieren. Ich wollte die Bibel studieren und etwas darüber lernen, aber eigentlich gar nicht unbedingt Pastor werden.

Das Studium am lutherischen Seminar in St. Paul (Minnesota) war dann aber sehr bereichernd. Theologie und die Bibel passten auf einmal zusammen und ich habe verstanden, dass Gott Liebe ist. Bis dahin war ich in Bezug auf Gott total verunsichert und mir war vieles unklar – sehr oft hatte ich gedacht, dass Gott ein zorniger Gott sei, und ich hatte Angst vor Gott. Es gab ja Menschen, die der Meinung waren, dass es Gottes Wille gewesen sei, dass das palästinensische Volk sein Land verloren hätten, weil es den Jüdinnen und Juden gehörte. Das fand ich nicht gut und ich wollte selbst herausfinden und verstehen, ob das wirklich so in der Bibel steht.

Welche Auswirkungen hatte Ihr Theologie-Studium auf Ihren ganz persönlichen Glauben?

Pastor Ailabouni: Das Studium am theologischen Seminar hat mir geholfen, Gott als den gekreuzigten Gott in Jesus zu erkennen, als den Gott, der mit den Unterdrückten leidet. Nicht als den Gott, der bestimmt, wer welches Land bekommen soll, sondern den Gott, der auf der Seite der Unterdrückten, der unter Besatzung Lebenden, der Schwachen, der Frauen, der Kinder, der Kranken ist – auf der Seite all derer, die von der Gesellschaft ausgeschlossen werden.

Ich habe Gott erkannt als den Gott, der die Welt so sehr liebt, dass er bis zum Ende bei uns bleibt, der wie ein Krimineller leidet, auch wenn er unschuldig ist. Ich hatte das Gefühl, dass auch mein Volk so leidet – es hatte es nicht verdient, sein Land zu verlieren, zu Flüchtlingen zu werden, am Kreuz zu hängen. Ich war sehr lange Zeit sauer auf Gott, aber dann habe ich durch das Studieren der Heiligen Schrift verstanden, dass Gott kein Gott des Grund und Bodens ist, sondern dass er vielmehr bereit ist, für die unterdrückten Menschen zu sterben. Genau genommen leidet er, obwohl er es nicht verdient hat zu leiden.

Ein palästinensischer Hirte mit seiner Schafherde im Jordantal im Westjordanland in den besetzten palästinensischen Gebieten. Foto: Albin Hillert/ÖRK

Aber das Kreuz ist nicht das Ende – es gibt ja immer auch noch Ostern. Am dritten Tag hat Gott Jesus auferstehen lassen und Gott wird immer triumphieren, egal was ist – und das bedeutet, dass auch ich als einzelner Mensch triumphieren werde. Ich muss nicht auf Leiden reagieren, sondern kann aus dem Gefühl heraus handeln, dass ich kein Opfer bin. Auch wenn meine Familie und mein Volk zu Opfern gemacht wurden – ich kann handeln und die Welt verändern. Gott hat uns gezeigt, was Liebe bedeutet.

Sie sind Palästinenser, haben aber fast ihr ganzes Leben in den USA verbracht. Was bestimmt Ihre Identität heute?

Pastor Ailabouni: Dietrich Bonhoeffer saß im Gefängnis, als er das Gedicht „Wer bin ich?“ geschrieben hat. Er erzählt darin von Menschen, die ihn als stark wahrnahmen, während er sich schwach und entmutigt fühlte, weil sie den wahren Menschen, der er war, nicht kannten. Am Ende fragt er: „Wer bin ich?“ – und antwortet selbst, er sei Gottes Kind.

Ich habe auch ganz stark das Gefühl, dass ich Teil von Gottes Reich bin und dass alle Menschen zu Gottes Reich gehören – alle Menschen aus allen Regionen der Welt, aus allen Völkern, aus allen Volksgruppen und dass dort im Zentrum ein liebender Gott steht, dem alle Menschen wichtig sind. Weder die USA noch das, was heute Israel und Palästina ist, fühlt sich für mich nach Heimat an, auch wenn ich beide sehr liebe. Ich stelle oft fest, dass ich Menschen, die sich als Außenseiter fühlen, dabei helfen möchte, sich der Liebe Gottes für sie bewusster zu werden und das Reich Gottes zu erleben und zu spüren.

Mein Arbeitgeber heute hat zum Beispiel einen Dienst in Ägypten, der 35.000 Flüchtlingen in Kairo hilft. Dort kommen muslimische und christliche Gläubige zusammen und sie alle haben aufgrund der Art und Weise, wie sie behandelt werden, das Gefühl, dass sie wertgeschätzt werden und Würde besitzen. Wenn sie das Gelände der Kirche verlassen, haben sie das Gefühl, unterdrückt zu sein, als Außenseiter behandelt zu werden, ausgenutzt zu werden, weil sie Flüchtlinge sind oder eine andere Hautfarbe haben. Aber in dem Umfeld, wo man sich um sie kümmert, sind sie wertvoll und werden mit Respekt behandelt. Wo Menschen einander mit Respekt begegnen, da ist das Reich Gottes. Denn wir alle sind nach dem Bilde Gottes geschaffen und wir alle sind Kinder Gottes.

Sie arbeiten aktuell in einer Abteilung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika, die für den Nahen Osten zuständig ist. Was sind Ihre Aufgaben dort?

Pastor Ailabouni: Ich bin Programmdirektor für Europa und den Nahen Osten. Es zählt also zu meinen Aufgaben, Beziehungen mit Kirchenleitenden aufzubauen und zu pflegen und ich bin der Vorgesetzte der im Ausland und damit auch im Nahen Osten tätigen Mitarbeitenden und dafür zuständig, sie in ihrer Arbeit zu unterstützen. Zudem koordiniere ich unsere finanzielle Hilfe zum Beispiel für die Bewältigung der großen Flüchtlingsströme, für das Engagement für Geschlechtergerechtigkeit und die Hilfe für Frauen und Kinder, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können und oftmals missbraucht und ausgenutzt werden.

Im Nahen Osten konzentrieren wir uns in erster Linie auf die Hilfe für Flüchtlinge und Migrierende. Wir sind für sie da und unterstützen sie. Es gibt im Nahen Osten nicht viele Christinnen und Christen und dennoch sind unsere christlichen Glaubensschwestern und ‑brüder uns wichtig und wir wollen ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind.

Auch die christlich-muslimischen Beziehungen sind für uns sehr wichtig und unsere Schwestern und Brüder im Nahen Osten setzen sich sehr für eine Verbesserung der Beziehungen ein. Und diese Arbeit unterstützen wir sowohl vor Ort als auch hier in den USA.

In welchen Ländern im Nahen Osten unterstützt die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika konkrete Programme?

Pastor Ailabouni: Insbesondere in Jerusalem und im Westjordanland leisten wir finanzielle Hilfe für die Unterstützung unserer Glaubensschwestern und -brüder. Das Auguste Viktoria-Krankenhaus in Jerusalem ist zum Beispiel eine der großen Einrichtungen, die wir finanziell unterstützen. Dieses Krankenhaus bietet eine spezialisierte Gesundheitsversorgung für Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem gesamten Westjordanland und dem Gazastreifen an. Es ist zum Beispiel das einzige Krankenhaus, in dem Palästinenserinnen und Palästinenser eine Krebsbehandlung bekommen können.

Blick auf eine Straße in der Jerusalemer Altstadt. Foto: Albin Hillert/ÖRK

Wir leisten zudem in Ägypten Hilfe für Flüchtlinge. Genau wie Jesus vor 2000 Jahren nach Ägypten floh, um Schutz vor König Herodes zu suchen, fliehen auch heute viele Menschen nach Ägypten, um den Tyrannen in ihrer Heimat zu entkommen. Sie kommen aus Äthiopien, Eritrea, dem Südsudan, dem Sudan, dem Jemen, aus Syrien und dem Irak. Leider werden sie nicht immer mit offenen Armen empfangen – Ägypten ist ein armes Land und die Menschen haben selbst viele Probleme.

Darüber hinaus unterstützen wir zwei theologische Bildungseinrichtungen im Nahen Osten: eine in Beirut im Libanon und eine in Kairo in Ägypten. Wir unterstützen im Nahen Osten nicht nur die Arbeit des Lutherischen Weltbundes, sondern auch einige Programme des Kirchenrats des Nahen Ostens. In diesen Programmen wird Frauen die Gelegenheit geboten, Fertigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln, um sich selbst einen Lebensunterhalt verdienen zu können, und Mitarbeitenden der Kirche Möglichkeiten zur Bewältigung von Traumata, die sie durch den Krieg erlitten haben. Die Traumata sollen bearbeitet und überwunden werden, damit die Menschen wieder ihrem Dienst in der Kirche nachgehen können.

In den vier Ländern, in denen wir uns bereits heute für Flüchtlinge einsetzen – Syrien, Libanon, Jordanien und Irak – wollen wir diese Hilfe noch ausbauen.

Wie haben Sie Ihre Besuche in Palästina nach Ihrer Auswanderung in die USA erlebt?

Pastor Ailabouni: Das erste Mal war ich vier Jahre nachdem ich mit dem College angefangen hatte in Palästina zu Besuch. Das war 1973. Damals gab es noch kein Internet und keine E-Mails und Telefonate waren sehr teuer, wir konnten uns also hauptsächlich Briefe schreiben. Es war großartig nach so langer Zeit zurückzukehren – damals lebte meine Familie noch dort.

Aber ich hatte mich natürlich verändert und mein Studium hatte ich auch noch nicht abgeschlossen –ich hatte ja noch nicht einmal endgültig beschlossen, ob ich nicht statt des Medizin- ein Theologiestudium machen wollen würde. Die Entscheidung ist erst nach dieser Reise gefallen. Gott war dabei, etwas in meinem Leben zu bewirken, auch wenn mir das damals noch nicht so ganz klar war. Ich wusste, dass ich in meiner Heimat keine Zukunft hatte.

Heute haben viel mehr junge Menschen dort eine Zukunft, als ich es damals hatte. Heute können viel mehr Menschen studieren und sich dann eine Zukunft aufbauen, als es vor 50 Jahren der Fall war.

Welche Veränderungen haben Sie in Israel und Palästina in den vergangenen 50 Jahren beobachtet?

Rev. Ailabouni: Es gibt sehr viel mehr Gebäude, sehr viel mehr Siedlungen, sehr viel mehr Straßen. Unsere Kirche bekennt sich zu einer Zwei-Staaten-Lösung, aber ich sehe derzeit nicht, dass eine solche möglich sein wird, weil dem palästinensischen Volk immer mehr Land weggenommen wird. Ich stelle eine sehr starke Tendenz zur Judaisierung Jerusalems fest, obwohl es mein Traum und mein Wunsch wäre, dass dort alle Menschen friedlich zusammenleben – egal ob jüdischen, muslimischen oder christlichen Glaubens. So sind schon meine Eltern und Großeltern in Tiberias aufgewachsen: Sie haben friedlich Seite an Seite mit jüdischen und muslimischen Gläubigen gelebt.

Ich selbst habe als Kind christliche und muslimische Freunde gehabt, wir waren Nachbarn und wir sind zusammen zur Schule gegangen. Für mich waren und sind muslimische Gläubige keine schlechten Menschen, sondern meine Freunde. Natürlich gibt es auch Menschen, die böse und schlimme Dinge tun – aber die gibt es unter den jüdischen, den christlichen und den muslimischen Gläubigen; es gibt Extremisten, aber die sind  nicht in der Mehrheit. Es ist sehr traurig zu sehen, dass es in Israel nur darum zu gehen scheint, alles auf die jüdischen Menschen und einen jüdischen Staat auszurichten. Ich weiß, dass wir friedlich zusammenleben können und dass wir diese Gemeinschaft genießen könnten. Ich selbst habe es ja erlebt. Aber im Moment geht die Tendenz ganz klar dahin zu sagen, nein, das können wir nicht.

Und das macht mir Angst, denn keiner weiß, was passieren wird... Wird das palästinensische Volk vertrieben werden? Wenn das passiert, wäre das sehr, sehr traurig und eine Katastrophe.

Wie hat sich die Situation für Palästinenserinnen und Palästinenser verändert, die noch in ihrer Heimat leben?

Pastor Ailabouni: Palästinenserinnen und Palästinenser in Israel haben größere Chancen auf einen Job, größere Chancen zur Schule gehen zu können und sich wirtschaftlich positiv zu entwickeln. Aber Palästinenserinnen und Palästinenser in Jerusalem und im Westjordanland und dem Gazastreifen haben es schwer. Die christlichen und muslimischen Menschen, die in Bethlehem leben, dürfen nicht nach Jerusalem, obwohl es nur etwa zehn Kilometer entfernt ist. Sie brauchen eine besondere Erlaubnis und das macht es natürlich sehr schwierig. Es gibt viele Kinder, die nur ein paar Kilometer von Jerusalem entfernt aufwachsen, aber noch nie in Jerusalem oder am Mittelmeer waren. Die Spaltung des Landes führt zu einer Unterdrückung. Und die bedeutet eine Demütigung für die Menschen in den besetzten Gebieten. Man muss einmal selbst erlebt haben, wie die Menschen an den Checkpoints behandelt werden – das ist schwer zu ertragen.

Checkpoint in Kalandia zwischen dem nördlichen Westjordanland und Jerusalem, den jeden Tag tausende Palästinenserinnen und Palästinenser auf ihrem Weg nach Jerusalem passieren müssen. Foto: Albin Hillert/ÖRK

Glauben Sie, dass Christinnen und Christen weltweit wirklich verstehen, was zwischen Israel und Palästina passiert?

Pastor Ailabouni: Wenn die Menschen nicht selbst vor Ort gewesen sind und es mit eigenen Augen gesehen haben, nein! In den Medien wird darüber nicht richtig berichtet. Und oftmals werden die Palästinenserinnen und Palästinenser als die gewaltbereiten Steinewerfer dargestellt. Über den friedlichen Widerstand gegen die Besatzung wird nicht berichtet. Nicht einmal die jüdischen Menschen in Israel wissen wirklich Bescheid, weil sie nie in die palästinensischen Gebiete gehen, weil es sie dort nicht hin dürfen.

Es gibt inzwischen immer mehr israelische Soldatinnen und Soldaten, die offen über ihre Erfahrungen in Hebron und anderen Orten berichten und die sagen, dass sie falsch gehandelt haben und nicht stolz darauf sind. Sie berichten, wie sie die Palästinenserinnen und Palästinenser behandelt haben und sind nicht stolz auf das, was sie getan haben. Aber die meisten anderen Israelis wissen nichts darüber und die meisten interessiert es auch nicht. Sie interessieren sich nur für ihr eigenes Leben. Die Menschen, die sie nicht sehen, interessieren sie wenig. Und Palästinenserinnen und Palästinenser sieht man eben nur, wenn man in ganz bestimmten Gebieten arbeitet.

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für die Unterdrückung und das Leid? Warum geht heute noch jemand in ein anderes Land und versucht dies wegzunehmen und die Leute zu unterdrücken, die dort seit Generationen leben?

Pastor Ailabouni: Leider missbrauchen einige Menschen – einschließlich Christinnen und Christen und Jüdinnen und Juden – die Bibel, um das zu rechtfertigen, was sie tun. Mit der Bibel kannst du alles rechtfertigen, wenn du willst.

Aber es gibt auch sehr viele Stellen in der Bibel, in denen es darum geht, Fremde gastfreundlich aufzunehmen, sie gleichberechtigt zu behandeln, sich um Witwen und Waisenkinder zu kümmern. Es gib sehr viele Bibelstellen, die uns in Erinnerung rufen, dass Gottes Gerechtigkeit allen Menschen gilt.

Natürlich haben jüdische Gläubige sehr viel und schwer gelitten und natürlich wünschen sie sich einen Ort, an dem sie frei und sicher sein können und nicht wieder unterdrückt werden. Aber ich glaube nicht, dass es fair oder gerecht ist, in dem Zuge dann das palästinensische Volk zu unterdrücken.

Wir hören immer wieder von Situationen, in denen beide Seite Gewalttaten verüben... Kann Gewalt gerechtfertigt sind?

Pastor Ailabouni: Als Christinnen und Christen müssen wir auf jeden Fall gegen jede Form von Gewalt sein, wir sollen ja niemanden töten. Ich glaube nicht, dass Gewalt in irgendeiner Situation eine angemessene Reaktion ist. Mehr als ein Jahr lang haben Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen friedlich demonstriert – aber einige von ihnen sind deshalb getötet worden.

Keine Seite sollte irgendeine Art von Waffe gegen die jeweils andere richten. Menschen sind zu wertvoll, als dass sie getötet werden sollten. Wir sollten jede Form von Zerstörung und jede Form des Tötens ablehnen.

Mit Ihrer Arbeit bei der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika unterstützen Sie Flüchtlinge und tragen zur Schaffung von Frieden in der Region bei. Was könnten andere Kirchen in der Welt Ihrer Meinung nach tun, um sich für Gerechtigkeit und Frieden in Israel und Palästina einzusetzen?

Pastor Ailabouni: Stellen Sie sich einmal vor, in allen Kirchen gäbe es Strategien und Grundsätze für Menschenrechte und gegen Rassismus. Als Christinnen und Christen haben wir doch alle bestimmte Werte, die wir hochhalten sollten und deren Achtung wir von allen fordern sollten. Die Menschenrechte sind in einem internationalen Vertrag geregelt und sie gelten für alle Menschen. Und wir sind gegen Rassismus – ganz unabhängig davon, wer gerade angegriffen wird.

Es gibt sehr viel Rassismus und Menschenrechte und die Menschenwürde werden oft mit Füßen getreten. Als Kirchen müssen wir deshalb die Stimme erheben und uns dagegen wehren. Wir sollten hartnäckig sein und unsere Forderungen lautstark formulieren und unsere Regierungen dabei unterstützen, dass sie erkennen, dass dies nicht Gottes Plan für die Menschheit ist.

Blätter an einem Zaun in Bethlehem in den besetzten palästinensischen Gebieten. Foto: Albin Hillert/ÖRK

Wie können Kirchen den Friedensprozess im Nahen Osten noch aktiver unterstützen?

Pastor Ailabouni: Die mutigen prophetischen Stimmen dürfen nicht verstummen. Der Gott, den wir kennen, ist ein Gott, der alle Menschen liebt. Auch jene, die wir selbst nicht so sehr mögen. Gott ruft uns auf, uns miteinander zu versöhnen, unsere Feinde zu lieben, Friedensstifterinnen und Friedensstifter zu sein, denn die Friedensstifterinnen und Friedensstifter werden Gottes Kinder heißen. Als Einzelpersonen und als Kirchen ist es unser Auftrag, ein Licht für alle zu sein, die im Dunkeln sind, egal ob wir Ergebnisse sehen oder nicht.

Ich selbst hatte mit Hass zu kämpfen. Und je älter ich werde, desto ernsthafter frage ich mich, ob ich einfach so weitermachen kann oder ob nicht vielleicht einfach lieben kann – selbst meine Feinde. Ich glaube, wir alle müssen mit unseren Gefühlen ringen und uns bemühen, alle Menschen in unserem Leben zu lieben, ganz unabhängig davon, wer sie sind, und ganz besonders all jene, die wir nicht so sehr mögen. Wir alle können etwas tun und etwas bewegen, aber wir müssen zuallererst einmal in uns selbst hineinschauen und überlegen, wie wir uns selbst zum Besseren verändern können.

 

*Ivars Kupcis arbeitet für den Kommunikationsdienst des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Weltweite Aktionswoche für Frieden in Palästina und Israel

Kirchen und Naher Osten: Solidarität und Zeugnis für den Frieden

Ökumenisches Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI)