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Sehr geehrte Professoren, sehr geehrte Studenten aus Freiburg, Bossey und Chambesy, sehr geehrte Damen und Herren,

ich fühle mich sehr geehrt und auch überwältigt von diesem besonderen Ereignis und möchte der Universität Freiburg, dem Institut für Ökumenische Studien und insbesondere Professor Barbara Hallensleben meinen aufrichtigen Dank aussprechen, die mich bat, diesen öffentlichen Vortrag zu halten und mit Ihnen in Reflexion und Dialog zu gehen.

Mein Dank gilt auch ihren Eminenzen Kardinal Kurt Koch und Metropolit Job Getcha sowie Pastor Prof. Jerry Pillay, dem Generalsekretär des ÖRK, für ihre freundlichen Worte.

In ihrer Einladung bat mich Prof. Hallensleben, Bilanz zu ziehen angesichts meiner langjährigen Aktivität als ÖRK-Mitarbeiter, Professor und Direktor in Bossey und unlängst als erster orthodoxer Generalsekretär des ÖRK, und aus dieser Erfahrung und diesem Lernprozess eine Schlussfolgerung zu ziehen für meine Sicht auf die Zukunft der ökumenischen Bewegung.  

Die Geschichte ist 28 Jahre alt, mit Höhen und Tiefen, mit Kämpfen und Errungenschaften, jedoch immer mit Glauben und Hoffnung in bestimmten sehr schwierigen Momenten der Krise und Herausforderungen. Eines Tages werde ich vielleicht meine „Memoiren“ und eine vollständige Geschichte schreiben; für heute werde ich mich aber auf einige wenige Höhepunkte konzentrieren.

Geschäftsführer für Orthodoxe Studien und Beziehungen in der Mission (1994-1998)

Ich kam 1994 als Geschäftsführer mit den Aufgabengebieten Orthodoxe Studien und Beziehungen in der Mission zum ÖRK. Vier Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer erlangten die Kirchen im ehemaligen Ostblock ihre Freiheit und entdeckten ihre missionarische Rolle und ihre Berufung neu. Im ÖRK war der Fokus auf Mission und Evangelisation aus der Perspektive des „Evangeliums- und kulturwissenschaftlichen Prozesses“, der auf der Vollversammlung Canberra in 1991 eingeleitet wurde. Dieser war das Ergebnis der berühmten, aber sehr kontroversen Präsentation der südkoreanischen Theologin Chung Hyun Kyung des Heiligen Geistes, die viele als synkretistisch, schamanistisch und pantheistisch wahrgenommen haben. Bei der Verteidigung ihrer theologischen Konzepte erklärte sie, dass diese aus ihrem eigenen kulturellen Kontext stammen, aber die gleiche Realität ausdrücken, und vor diesem Hintergrund kam in Canberra die Frage nach den Grenzen der Inkulturation und Diversität auf. Aus dieser Diskussion ging der Evangeliums- und kulturwissenschaftliche Prozess hervor, der 1996 auf der Weltmissionskonferenz in Salvador Bahia, Brasilien, seinen Abschluss fand.  

Als für Mission und Evangelisation verantwortlicher orthodoxer Mitarbeiter des ÖRK ließ ich die orthodoxen Familien am Evangeliums- und kulturwissenschaftlichen Prozess teilhaben und bereitete sie auf einen Beitrag zur kommenden Konferenz für Weltmission vor. Ich erinnere mich daran, dass zu dieser Zeit viele noch immer misstrauisch gegenüber liturgischen Ausdrucksformen waren, die von den jüngeren Kirchen oder aus anderen Kontexten als den traditionellen Kirchen des Nordens kamen. Die Verwendung von Trommeln und liturgischen Tänzen im Gottesdienst wurde von vielen noch immer als der christlichen Tradition fremd angesehen, und unter diesen waren die Orthodoxen die lautesten. In diesem Kontext entschied ich, das Vorbereitungstreffen für die panorthodoxe Konferenz in Äthiopien zu organisieren. Vertreter der Ostkirchen und der orientalischen Kirchen waren anwesend. Ich erinnere mich lebhaft daran, dass dieser Kontext für viele eine Entdeckung, ein Aha-Erlebnis aber auch verwirrend war. Die Äthiopische Kirche ist auch eine orientalische orthodoxe Kirche, aber sie ist weder europäisch noch aus dem Nahen Osten. Aus diesem Grund war ihr theologischer Inhalt für viele Jahrhunderte gleich, aber seine liturgische Ausdrucksart war sehr afrikanisch, enkulturiert in afrikanischem Boden. Der liturgische Tanz mit Trommeln ist Teil ihres liturgischen Gebets. Und diese Art zu beten gab es schon lange vor dem Konzil von Chalcedon, das die Spaltung in der orthodoxen Familie auslöste.

Die Schlusserklärung dieses Treffens ist extrem wichtig, da sie theologisch bekräftigt, dass alle Kulturen berechtigt sind, das Evangelium zu erhalten und auszudrücken und zu dem Schluss kommt, dass keine Kultur oder Nation unabänderlich und automatisch christlich ist und dass kein Staat und kein Reich mit der Kirche identifiziert werden sollte.

Zur Weltmissionskonferenz in Salvador Bahia haben die Orthodoxen sehr aktiv beigetragen, und ich sehe die besondere Auswirkung der Orthodoxen auf den Endbericht in zwei Punkten:

  1. Es gab eine intensive Diskussion über das Thema, dass in allen Kulturen Werte des Evangeliums zu finden sind, da Gott bereits vor Ankunft der christlichen Missionare in allen Kulturen und bei allen Menschen präsent gewesen ist. Einige präsentierten das Konzept des „Evangeliums vor dem Evangelium“. In dem Moment, als die Plenardiskussion ausweglos erschien, brachten die Orthodoxen das frühchristliche Konzept des „Samen des Wortes“ ins Gespräch - logoi in der Schöpfung gegenwärtig, ohne pantheistisch zu sein, und diese Formulierung wurde als theologische Grundlage für die Wertschätzung des und der Verknüpfung von Kulturen mit dem Evangelium übernommen.
  2. Der zweite orthodoxe Beitrag auf dieser Konferenz war zum Thema Mission und Proselytismus im Kontext verantwortungsvoller Beziehungen in der Mission. Auch nach dem Fall des kommunistischen Systems in Osteuropa und der Einführung der Religions- und Verkündungsfreiheit, organisierten einige ÖRK-Mitgliedskirchen in den 1990ern Missionierungsunternehmungen in traditionell orthodoxen Ländern und hatten strategische Pläne, wie viele Personen sie bekehren wollten. Dies löste viele Spannungen und Proteste auf Seiten der Orthodoxen aus. Bei der Vorbereitung der Konferenz half ich bei der Organisation von Treffen mit der Beteiligung dieser „reisenden Missionare“ und der lokalen Kirchen und führte Debatten zu diesem Thema. Auf der Konferenz wurde eine Stellungnahme zu Mission und Proselytismus abgegeben, an deren Formulierung ich beteiligt war. 

Da die Angelegenheit sehr sensibel unter den Orthodoxen und vielen anderen in der ÖRK-Gemeinschaft war, verfolgte ich sie weiter. Zwischen 2000 und 2006 habe ich in Bossey Seminare zu „Brücken bauen zwischen orthodoxen und evangelischen/charismatischen Traditionen“ organisiert. Tatsächlich sind viele Orthodoxe aus Osteuropa zu Evangelikalen oder zu Pfingstlern konvertiert. Zur gleichen Zeit kamen die meisten Konvertiten zur Orthodoxen Kirche in den USA und im Westen von den Evangelikalen und Pfingstlern. Meine Frage lautet: Was fehlte in der einen Tradition, das die Menschen in einer anderen suchten, und was war die Komplementarität zwischen diesen Traditionen, damit dieser Austausch stattfinden konnte. Die Treffen, die Diskussionen, der Austausch und die Ergebnisse waren faszinierend. Ein Buch mit den Präsentationen und Berichten dieser Treffen wurde veröffentlicht.

 

Bossey-Professor und Direktor in Krisenzeiten (1998 – 2022)

Nach einer schwierigen Zeit an der Fakultät in Bossey und einem „Aufstand“ der Studierenden bat mich der ÖRK-Generalsekretär Konrad Raiser 1998, meine Stelle in Genf aufzugeben und an die Fakultät in Bossey zu wechseln, um dort für Frieden und Versöhnung zu sorgen. Und seit dieser Zeit bis zu meiner Pensionierung habe ich mein Leben und meine Arbeit der Ausbildung jüngerer Generationen von kirchlichen und ökumenischen Führungskräften aus aller Welt gewidmet – 25 Generationen von Studierenden.

Nach dem etwas unerwarteten Wegzug meiner Vorgängerin, Prof. Heidi Hadsell, in die USA wurde ich 2001 zum Direktor von Bossey ernannt.

Ich übernahm diese Verantwortung vor dem Hintergrund einer weiteren Krise. Unter der Leitung und mit starker Unterstützung von Konrad Raiser wurde das Projekt, das Schloss Bossey und seine Einrichtungen zu renovieren, begonnen. Bei der Bank wurde ein erster Kredit von 6 Millionen CHF aufgenommen, in der Erwartung, dass dieser Betrag bald durch Spenden gedeckt werden würde. Doch die Spenden dafür blieben aus, und ich übernahm die Stelle des Direktors mit einem Defizit von 6 Millionen CHF. Der Stipendienfonds schrieb rote Zahlen; die Zahl der Studierenden hatte sich drastisch reduziert; die orthodoxen Studierenden blieben während ungefähr 4 Jahren aus und es gab nur sehr wenige Dozierende an der Fakultät. Der ÖRK hatte seine eigenen Schwierigkeiten und konnte die hohen Kosten von Bossey nicht länger tragen. Eine Zeitlang war ich mein eigener Direktor ohne Professorinnen und Professoren. Ich führte die Ausbildung in Bossey mit Hilfe einiger Gastprofessorinnen und -professoren weiter, die ihre Dienste kostenlos zur Verfügung stellten.

Mit der vollen Unterstützung des damaligen Vorstands von Bossey hatte ich die Aufgabe, eine neue Vision und Strategie zu entwerfen, um Bossey wiederzubeleben und nachhaltig zu machen. An dieser Stelle möchte ich gerne Robert Welsh von den Jünger Christi USA erwähnen, der Vorstandsvorsitzender war und bei der Entwicklung dessen, was später als das „neue Bossey“ bezeichnet wurde, eine tragende Rolle innehatte und eine große Stütze war.   

Zuerst stellten wir bald einmal fest, dass die Studierenden, die nach Bossey kamen, sich nicht mehr mit einer Erfahrung zufriedengaben, sondern einen anerkannten akademischen Abschluss haben wollten, wenn sie nach Hause zurückkehrten. Deshalb wandte ich mich an die Universität Genf, reorganisierte die Lehre mit der Einrichtung von vier akademischen Lehrstühlen (Ökumenische Theologie, Missiologie, Sozialethik und Biblische Hermeneutik), erstellte einen neuen Lehrplan unter Berücksichtigung der von den Studierenden geäußerten Erwartungen (interreligiöse Komponenten, Ökotheologie, ökologische Landwirtschaft, Entwicklungsstudien, Geschlechtergerechtigkeit, Rassismus usw.), schlug Studienpläne vor und hielt mich an die Anforderungen der Genfer Universität bei der Auswahl geeigneter akademisch anerkannter Lehrkräfte, die von der Universität akzeptiert und akkreditiert werden mussten.

Schon bald nach dieser Umstrukturierung begannen sich Kirchen und ökumenische Partner für das neue Bossey zu interessieren. Wir hatten drei Angebote für die Abordnung von Lehrkräften (die Evangelisch-Methodistische Kirche der USA, die den Lehrstuhl für Sozialethik unterstützt, die EKD für den Lehrstuhl für Ökumenische Theologie und eine gemeinsame Partnerschaft von CWM, UEM und CEVAA für den Lehrstuhl für Missiologie). Der Vatikan stellte wie bereits seit 1967 weiterhin eine Stelle in Bossey zur Verfügung. Und heute ist der katholische Professor in Bossey für die Lehre am Lehrstuhl für Ökumenische Bibelhermeneutik zuständig.

Der Stipendienfonds wuchs weiter an, und in den meisten Jahren konnten wir sogar mit einem Saldo abschließen. Die Bewerbungen von Studierenden stiegen auf das Dreifache der maximalen Aufnahmezahlen an. Die Zahl der orthodoxen Bewerberinnen und Bewerbern, darunter auch Studierende aus Kirchen wie Georgien oder Bulgarien, die den ÖRK verlassen hatten, nahmen ständig zu und die Glaubwürdigkeit von Bossey unter den Mitgliedskirchen stieg ebenfalls. Auch nahm insbesondere in den letzten Jahren die Zahl der römisch-katholischen Studierenden zu.

Mein Vorschlag an den Vorstand, auch Bewerbungen von Studierenden aus evangelikalen und Pfingstkirchen zu akzeptieren, wurde angenommen, und heute stammt etwa ein Drittel der Studierenden aus diesen Gruppen. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat setzen sie sich für die ökumenische Zusammenarbeit ein, was erklären könnte, warum heute die meisten Anträge auf Mitgliedschaft im ÖRK von diesen Kirchen kommen.

Ich bin froh, dass ich heute eine starke Fakultät mit einem gesunden Stipendienfonds, einer soliden Zusammenarbeit mit der Universität Genf und großem Interesse an einem Engagement der Mitgliedskirchen für Bossey und seiner ökumenischen Ausbildung hinterlassen kann.

Bossey bedeutet aber auch ein altes historisches Schloss mit seinem Grundstück, seinen Zimmern, seiner Küche und seinen vielen Mitarbeitenden. Die damit verbundenen Kosten überstiegen die Stipendien der Studierenden, und der ÖRK verfügte nicht mehr über die Mittel, um diese enormen Ausgaben zu decken. Bossey wurde somit zu einer ernsthaften finanziellen Belastung für den ÖRK, und in den neunziger Jahren gab es Diskussionen über seine Zukunft. Einige schlugen sogar vor, Bossey zu schließen und das Anwesen zu verkaufen.

Offensichtlich musste eine neue Strategie gefunden werden und Bossey ein sich selbst tragendes Projekt werden, das zumindest für die Instandhaltung der Gebäude und die Gehälter des Hilfspersonals eigene Einnahmen erwirtschaften würde. Ich schlug dem Vorstand vor, Bossey einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und aus seinen Einrichtungen ein Konferenzzentrum zu machen, in dem andere Gruppen ihre Seminare veranstalten könnten und dass Außenstehende die Zimmer wie in einem Hotel buchen sowie das Restaurant und den Garten für andere Veranstaltungen wie Hochzeiten, private Veranstaltungen usw. nutzen könnten. Im Konzept versuchte ich den Vorstand davon zu überzeugen, dass eine Verbindung der wirtschaftlichen Seite (Einkommensgenerierung) mit Bildung und Spiritualität möglich sei. Der Vorstand war einverstanden und wir begannen damit, die neue Vision umzusetzen. Interessanterweise waren einige sehr begeistert, als sie vom „neuen Bossey“ erfuhren, während andere wiederum (darunter einige unserer größten Spender) besorgt und nicht damit einverstanden waren. Mir wurde persönlich vorgeworfen, ich wolle Bossey in ein Hotel umwandeln, ich hätte die Art und den Zweck von Bossey verändert und hätte Ausbildung und Spiritualität der Einkommensgenerierung geopfert. Es war keine einfache Diskussion. Ich musste sie davon überzeugen, dass Spiritualität und Bildung sehr gut mit der Idee, Bossey zu einem sich selbst tragenden Projekt zu verwandeln, vereinbar wären und auch sein müssten. Den größten Skeptikern musste ich Beispiele aus den frühen christlichen Gemeinschaften zitieren, die zeigen, dass Sparsamkeit oder die Kontrolle und Verwaltung von Gütern nicht als Sünde, sondern als heiliger Dienst an der Kirche angesehen wurde. Schon bei den frühen Mönchsgemeinschaften, die „Armut“ als Gelübde für das geistliche Leben ablegten, gab es jemanden, der unter dem Schutz des Bischofs mit der Verwaltung der Güter der Gemeinschaft betraut wurde. Diese Person wurde „oikonomos“ genannt. In einigen Kirchen hat dieser Name bis heute überlebt.

Eine weitere interessante Debatte, bei der wir viel lernen konnten, betraf die Frage, welches Bild Bossey nach außen vermitteln sollte, wenn wir wirklich wollen, dass andere Menschen zu uns kommen. Einige dachten, wenn wir Bossey als zu „kirchlich“ und spirituell darstellten, würde es viele Menschen abschrecken. So war am Anfang, nach der Renovierung der Haupthalle, das einzige Bild an den Wänden und bei der Rezeption das Bild einer Kreditkarte: als Teil der Anleitung, wie man seine Ausgaben bezahlen kann.

Wir diskutierten dieses Thema ausführlich im Vorstand und ich bestand nachdrücklich darauf, dass wir unsere Identität nicht verwässern oder opfern dürften, sondern ehrlich und offen damit umgehen müssten. Deshalb hängt heute in der Lobby eine große Ikone, die Christus als Weinstock mit seinen vielen Zweigen darstellt und damit die Vision und das Ziel von Bossey erklärt.

Was haben wir daraus gelernt? Das Haus ist voll, das Hotel die meiste Zeit ausgebucht. Gruppen von außerhalb kommen und organisieren ihre Seminare in Bossey. Es werden private Veranstaltungen und Hochzeiten in Bossey durchgeführt, auch von Menschen, die anderen Glaubensgemeinschaften angehören. Die Bemerkung des damaligen jüdisch-orthodoxen Rabbi von Genf, der jeweils seinen Sabbat in Bossey verbrachte, unterstützte unsere Entscheidung. Er sagte einmal zu mir: „Ich komme hierher, weil ich Bossey vertraue. Ihr zeigt hier deutlich, wer ihr seid, aber ihr drängt niemandem eure Werte oder Identität auf. Diejenigen, die ihre Identität verstecken oder verwässern, um anderen zu gefallen, sind nicht ganz ehrlich und verstecken etwas.“   

Heute ist Bossey als Konferenzzentrum, und vor allem aber als christliches Institut für ökumenische Bildung, bekannt und wird auch so geschätzt. Die Aktivitäten des Hotels, die Tagungsräume, die Veranstaltungen, die Ausbildung und die Kapelle funktionieren in vollständiger Harmonie nebeneinander. Finanziell gesehen arbeiten wir nun kostendeckend, manchmal wird sogar ein kleines Plus erwirtschaftet. Bossey ist und bleibt eine Erfolgsgeschichte.         

 

Stellvertretender Generalsekretär (2014-2020)

Von 2014 bis 2020 war ich stellvertretender Generalsekretär des ÖRK und verantwortlich für den Programmbereich Einheit, Mission, Kirche und ökumenische Beziehungen. Gleichzeitig arbeitete ich weiterhin als Professor und Direktor am Bossey-Institut. In dieser Funktion war ich verantwortlich für die Koordinierung der Bereiche Glauben und Kirchenverfassung, Evangelisation, Gottesdienst und Spiritualität, Jugend, Dialog und Zusammenarbeit zwischen den Religionen sowie Beziehungen zu Kirchen und ökumenischen Einrichtungen. Damals war mir nicht bewusst, dass mich all diese Aufgaben auf eine weitere anspruchsvolle Aufgabe vorbereiteten, die während der weltweiten Krise von COVID 19 auf mich zukommen sollte.  

 

Geschäftsführender Generalsekretär (2020 – 2022).

Nach dem Weggang des früheren Generalsekretärs, Rev Olav Fykse Tveit, Ende März 2020, wurde ich bis zur Wahl eines neuen Generalsekretärs, die in drei Monaten stattfinden sollte, zum Interims-Generalsekretär und dann zum geschäftsführenden Generalsekretär ernannt. Aufgrund der Covid-19-Pandemie konnte die Wahl allerdings nicht stattfinden und so bekleidete ich dieses Amt beinahe drei Jahre lang, bis Ende 2022.

In dieser Zeit waren wir durch die Covid-19-Pandemie alle mit noch nie da gewesenen Herausforderungen konfrontiert. Die Pandemie hat zahlreiche Leben gekostet, darunter auch viele Mitglieder und Führer unserer Kirchen sowie viele ökumenische Freunde. Diese Pandemie hat uns an unsere Verwundbarkeit erinnert und ein starkes Solidaritätsgefühl unter den Kirchen als Gemeinschaft und mit der gesamten Menschenfamilie geschaffen. Gleichzeitig hat die Pandemie bereits bestehende Ungleichheiten, insbesondere für vulnerable Gruppen, vergrößert.

Die Pandemie brachte das liturgische und pastorale Leben vieler unserer Kirchen durcheinander. Und dennoch hat es uns spirituell einander nähergebracht, während wir uns physisch voneinander entfernt haben. Wir haben neue Arbeitsweisen sowie neue Wege des Einsatzes digitaler und Online-Technologien gelernt, um uns weiterhin treffen zu können. Am 1. Februar 2023, wurde dem Kommunikationsdienst des ÖRK für sein Engagement in den weltweiten Sozialen Medien während der Pandemie die Geneva-Engage-Auszeichnung verliehen, womit unsere engagierte Arbeit bestätigt wurde.

Eine der größten Verantwortungen in diesen drei Jahren war die Vorbereitung der Vollversammlung. Als ich den Posten übernahm, waren die Vorbereitungen bereits im Gange und Anmerkungen und Fragen zum wesentlichen Inhalt des Versammlungsthemas trafen weiterhin von Partner- und Mitgliedskirchen ein, insbesondere von denen, die in Minderheitssituationen in Asien, aber auch in Europa oder in den USA leben. Seit das Thema auf die Liebe Christi eingekreist worden war, wurde gefragt, inwieweit ein solches Thema nicht exklusivistisch, also ein Thema nur für Christen oder Triumphalisten wird, und wie es Wege für den Dialog und die Kooperation mit der Welt und den Menschen anderen Glaubens eröffnen kann.

Die ursprüngliche Herangehensweise legte großen Wert auf die barmherzige Liebe Christi und sowohl die ausgewählten Bibeltexte als auch die vorgeschlagenen Gottesdienste folgten dieser Richtung. Allerdings beantwortete dieser Ansatz nicht die oben gestellten ernsthaften theologischen Fragen, noch bot er eine theologische Erklärung, wie die Liebe Christi auch für andere als Christen gilt.

Auf Basis der Dreifaltigkeitstheologie, die über Jahrzehnte entwickelt und deutlich gemacht worden war und auf die man sich in den Dokumenten des ÖRK einigte, habe ich die internationale Themengruppe dahingehend beraten und gelenkt, die Liebe Christi in den Kontext der Liebe des dreieinigen Gottes für die ganze Welt zu stellen, was sich ganz in der Menschwerdung, in Jesus Christus offenbarte (der Begriff der Rekapitulation – anakefaleo wie von St. Irenaeus von Lugdunum und anderen).

Wenn man über die Liebe Christi spricht, spricht man über die kenotische und unterschiedslose Liebe Gottes in Christus für die gesamte Schöpfung. Das ist der eigentliche Inhalt unseres Glaubens. Auf diese Weise haben wir den Weg zu einem gemeinsamen Verständnis und einer gemeinsamen Vision des Ökumenischen Rates der Kirchen (Common Understanding and Vision , CUV) nochmals bekräftigt, der besagt, dass Versöhnung und Einheit Gottes Ziel in Christus für die Menschheit und die Schöpfung ist (Kolosser 1:19) und dies wurde mit Christi Barmherzigkeit für die Leidenden in Matthäus (9:35-39) und in vielen anderen Passagen der vier Evangelien veranschaulicht. Diese Sichtweise eröffnete solide theologische Wege für den Dialog und die Kooperation mit der Welt. Und das betrachte ich als meinen konkreten Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Versammlungsthema, indem ich es in eine neue Richtung lenkte, in der sich auch Sichtweisen der orthodoxen und frühen Kirchen finden.

Ich habe besonderen Wert auf die Gottesdienste der Versammlung gelegt, und dabei insbesondere auf deren theologische Verknüpfungen, denn die Erfahrung hat mir gezeigt, dass der am meisten geschätzte, aber auch der am ehesten spaltende Teil von Versammlungen die Gottesdienste sind. Ich freute mich über die Wirkung der Gottesdienste in Karlsruhe, da ich hierüber nur Bestätigung und Lob zu hören bekomme.

Das wichtigste, was ich während meiner Amtszeit gelernt habe, was mich allerdings auch überrascht und erstaunt hat, waren die sozio-politischen Herausforderungen, in denen unsere Kirchen heute leben, sowie deren Erwartungen an den ÖRK. Sie erwarten, dass der ÖRK eine starke prophetische Stimme hat und in ihrem Namen spricht, wenn sie sprachlos sind, oder sie unterstützt, wenn sie Hilfe benötigen. Die meisten Hilfeersuchen bezogen sich auf das Heilen von Wunden, das Herbeiführen von Aussöhnung sowie das Bauen von Brücken hin zu Einheit, Gerechtigkeit und Frieden. Ich bin in die Ukraine und nach Russland gereist und habe dort Kirchenführer und Menschen getroffen, in dem Versuch, Gesprächsverbindungen zu schaffen, die zu einem gerechten Frieden und einem Ende der Gewalt, des Krieges und der Gräueltaten führen. Delegationen von beiden Kirchen kamen zur Versammlung, aber dass ein Dialog aufgenommen werden muss, bleibt eine neuralgische Notwendigkeit, insbesondere dann, wenn der Krieg einmal zu Ende geht. Beide bestätigten, dass nur der ÖRK eine solche Rolle übernehmen kann.

Ich bin ins Heilige Land gereist, habe sowohl den Präsidenten von Israel als auch den Präsidenten von Palästina, alle Kirchenführer und andere Menschen getroffen, und ich habe das erst vor kurzem gegründete Verbindungsbüro in Jerusalem des ÖRK gestärkt, das dort Gerechtigkeit, Versöhnung und Heilung bringen soll.

Ich bin in den Libanon und nach Syrien gereist und bin Zeuge der blutenden Wunden der Menschen dort geworden, und ich habe damit die Solidarität der ÖRK-Gemeinschaft sowie unsere Verpflichtung, ihnen weiterhin zu helfen und sie weiterhin zu begleiten, zum Ausdruck gebracht.

Ich bin auf den Wunsch der Mitgliedskirchen nach Korea gereist, um ihre Kooperation mit und ihre Verpflichtung zum ÖRK zu bekräftigen und um ihre innere Gemeinschaft wieder anzufachen. Dieser Besuch war sehr erfolgreich, da bei dieser Gelegenheit alle Kirchen zum Austausch und Feiern zusammengekommen sind.

Ich habe den Dialog mit der Methodistischen Kirche in Kuba aufgenommen, die aufgrund einiger Missverständnisse aus dem ÖRK ausgetreten ist. Ich wurde zur Teilnahme an ihrer Generalversammlung eingeladen in der Hoffnung, dass sie zurückkommen, aber aufgrund der Vorbereitungen für die Vollversammlung konnte dieser Besuch nicht stattfinden. Aber die Tür für den Dialog steht nun wieder offen und ich bete und hoffe, dass der Dialog weitergeführt wird und sie bald wieder in die ÖRK-Gemeinschaft zurückkommen.

Bei der Vorbereitung der Vollversammlung habe ich versucht, Versöhnung und Harmonie in die voneinander getrennten orthodoxen Familien, die östlich-orthodoxe und die orientalisch-orthodoxe, zu bringen. Nach einer früheren Tradition organisierte ich eine inter-orthodoxe Vorversammlung, die in Zypern stattfand. Ihre Teilnehmer nannten diese ein historisches Treffen. Fünfzig Vertreter sowohl der östlich-orthodoxen als auch der orientalisch-orthodoxen Familie haben teilgenommen. Trotz der Trennlinien und Spannungen zwischen den beiden Familien waren alle Teilnehmer mit einer Haltung des Dialogs, der Liebe und der Gemeinschaft dabei. Alle haben zusammen gebetet und haben sich aktiv an Diskussionen und dem Entwurf des Abschlussberichts und des Abschlusskommuniqués beteiligt. Der Fokus lag auf den Vorbereitungen der Vollversammlung und der theologische Beitrag ist ein wichtiges Gut bei der Vorbereitung der Vollversammlung.

Besondere Aufmerksamkeit galt auch dem Gespräch über einige heikle Themen unserer Zeit, zu denen von der orthodoxen Kirche bei der Vollversammlung vielleicht ein klarer und deutlicher Meinungsbeitrag verlangt werden konnte, wie beispielsweise der Israel-Palästina-Konflikt, die menschliche Sexualität und der Krieg in der Ukraine. Es wurde eine spezielle Anhörung mit der Delegation der russisch-orthodoxen Kirche organisiert und es fand ein aufrichtiges, ehrliches und offenes Gespräch statt. Das Abschlusskommuniqué, das den Krieg und Gewalt verurteilt und um Frieden und Versöhnung bittet, wurde von allen im Konsens vereinbart.

Und es wurde ehrlich anerkannt, dass wenn der ÖRK nicht zu diesem Treffen eingeladen hätte, es nie stattgefunden hätte. Die Rolle des ÖRK als Einberufender wurde dankbar anerkannt und bestätigt.

Auf der Grundlage gemeinsamer Glaubenswerte hinsichtlich Menschenwürde, Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung hatte ich einen erfreulichen Austausch mit Führern und Menschen anderer Glaubensgemeinschaften. Ich möchte gerne die wachsende Zusammenarbeit mit dem Internationalen Jüdischen Komitee für Interreligiöse Beziehungen (IJCIC) und mit dem Jüdischen Weltkongress erwähnen; die Kooperation mit Al-Azhar und Human Fraternity, mit Religions for Peace und mit schiitischen Zweigen des Islam im Iran. Es hat mich gefreut, dass ihre Vertreter bei der Vollversammlung teilgenommen und dort gesprochen haben.

Aus den bisherigen Rückmeldungen entnehme ich, dass die Menschen die Vollversammlung in Karlsruhe als ein glückliches und historisches Momentum, als ein wichtiges wegweisendes Ereignis an einem Wendepunkt der Geschichte und einen Neubeginn für die Ökumenische Bewegung unserer Zeit betrachten.

Abschließend möchte ich mit einer Antwort auf die Frage enden, die mir während meiner dreijährigen Amtszeit oft gestellt wurde: Was hat der ÖRK während der Pandemie gelernt und was war meine Erfahrung als Orthodoxer.Meine Antwort ist, sich zu besinnen, inwieweit wir noch mehr unsere Verwundbarkeit und unser gemeinsames Schicksal als eine Menschheit erfahren haben.

Im Wesentlichen haben wir - wohl gerade deshalb - gelernt, wie wichtig unsere Arbeit als ÖRK ist, die in unserer Glaubensidentität begründet ist. Ich glaube, dass die Pandemie die spirituelle Dimension unserer Arbeit sowie unser Zusammengehörigkeitsgefühl als eine Gemeinschaft von Kirchen gestärkt hat. Es ist wichtig, ein Bekenntnis zu unserer Hoffnung und unserem Vertrauen in Gott, selbst in unserer Verwundbarkeit, zu bieten. Damit konnten wir die vermeintliche Trennung zwischen Aktivisten und Pietisten, zwischen Glaube und konkreten Aktionen überwinden, indem wir die Probleme der Welt auf Basis und wegen unseres Glaubens angehen.

In der Vergangenheit haben wir gesagt, dass der ÖRK eine glaubensbasierte Organisation ist. Heute würde ich den ÖRK als eine spirituell-basierte Organisation beschreiben. Das Herz unserer Gemeinschaft ist unsere gemeinsame Spiritualität, wie die Flamme, die unser Streben nach Frieden befeuert und unsere Arbeit für Frieden und Einheit entfacht. In diesen drei Jahren habe ich gesehen, wie wichtig es ist, in den Stellungnahmen und Reden des ÖRK in einer spirituellen Sprache zu sprechen, einer Sprache, mit der sich die Menschen in den Kirchen identifizieren können, die aber auch von Menschen anderer Glaubensgemeinschaften anerkannt wird. Wenn wir in einer spirituellen Sprache sprechen und uns gegenseitig als gläubige Menschen ansprechen, entdecken wir, dass wir trotz unserer unterschiedlichen Glaubensidentitäten etwas gemeinsam haben, was uns näher zueinander bringt.

Ich persönlich war tief bewegt, aber zugleich auch voller Angst angesichts der großen moralischen Verantwortung, die ich als Führer des ÖRK auf meinen Schultern lasten spürte, da sowohl meine Kollegen beim ÖRK als auch Kirchen- oder politische Führer, darunter auch die Partner anderer Glaubensgemeinschaften, die ich besucht habe und mit denen ich mich ausgetauscht habe, mich einfach nur „Vater“ nannten. Unsere Mitgliedskirchen und die Welt erwarten vom ÖRK, dass er etwas verändert, dass er Gottes Liebe in Christus für die gesamte Schöpfung darstellt und umsetzt.

 

Welche Zukunft hat die ökumenische Bewegung?

In Anbetracht der Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich in den 28 Jahren meiner Tätigkeit in der ökumenischen Bewegung gewonnen habe, möchte ich ein paar Schlussfolgerungen zu der Frage ziehen, über die ich mir Gedanken machen sollte.

In meinem Bericht an die Vollversammlung in Karlsruhe sagte ich zum Abschluss folgendes: „Der Weg zur Einheit im Glauben und zur eucharistischen Gemeinschaft als Notwendigkeit der ökumenischen Bewegung ist nach wie vor unser gemeinsames Ziel und unsere Vision, doch sind wir noch weit von diesem Ziel entfernt. Es gibt immer noch Unterschiede und Spaltungen, die überwunden werden müssen, sowie neue Herausforderungen, die das Wesen der christlichen Einheit heute hinterfragen. Über die Tatsache, dass der ÖRK als christliche Gemeinschaft dringend benötigt wird, insbesondere im heutigen Kontext, sind sich aber sogar die Stimmen einig, die sich am kritischsten gegenüber dem ÖRK äußern, denn trotz aller Unterschiede versammeln wir uns gestützt auf unser gemeinsames Bekenntnis, dass Jesus Christus der Heiligen Schrift zufolge Gott und Erlöser ist, und erkennen an, dass es nur den einen Gott, Vater, Sohn und Heiligen Geist gibt.

Um auf die Schwierigkeiten unserer Zeit zu reagieren, brauchen wir einander und sind voneinander abhängig. Wir können nur vorankommen, wenn wir gemeinsam, und nicht getrennt, vorwärts gehen.

Aus diesem Grund wage ich zu behaupten: Gäbe es den ÖRK nicht, müssten wir ihn heute erfinden oder neu erfinden.“

Mit dieser Aussage wollte ich vermeiden, dass ich utopisch optimistisch oder pessimistisch klinge. Einige sprechen von einem ökumenischen Winter, während andere eher einen ökumenischen Frühling sehen. Ich würde eher behaupten, dass der ÖRK unerlässlich ist und dass die ökumenische Bewegung zwar weiter bestehen wird, aber dass sie ganz anders aussehen wird, als wir das gewohnt sind und wie man sie sich zu Beginn vorgestellt hatte.

Analysiert man die Situation der heutigen Ökumene, dann muss man einsehen, dass sich die institutionalisierte Ökumene selbst im Vergleich mit der jüngsten Vergangenheit heute in der Krise befindet. Nach einem halben Jahrhundert christlicher Zusammenarbeit und Suche nach christlicher Einheit, stößt man in allen Kirchen auf Tendenzen, die auf ein Erstarken konfessioneller Identitäten, dogmatischen Integralismus und verschlossenen Traditionalismus hindeuten. Ich möchte einige dieser offensichtlichen Zeichen benennen:

  • Die Begeisterung für und die Verpflichtung zur Ökumene haben an vielen Stellen abgenommen, während gleichzeitig die Betonung auf der Stärkung der eigenen konfessionellen Identität liegt. 
  • Von den 60ern bis Anfang der 90er gab es tatsächlich eine Ökumene, die das gesamte Kirchenleben durchdrang: die Theologie, die theologische Bildung und den liturgischen Ablauf. In vielen Kirchen ist sie zu einer strategischen und diplomatischen Funktion verkommen, für die ein spezielles Büro eingerichtet wurde, das den jeweiligen Abteilungen für externe Kirchenangelegenheiten angegliedert ist.
  • Man gibt sich mit einem „halbherzigen“ Verständnis von ökumenischer Gemeinschaft zufrieden, die mehr Kohabitation und Zusammenarbeit ist, als ein Vorankommen hin zur größeren Koinonia im Glauben, beim Gottesdienst und bei der eucharistischen Gemeinschaft.
  • An vielen Orten wurden ökumenische Einrichtungen geschlossen oder haben ihre Horizonte erweitert und sich in glaubensübergreifende Institute verwandelt. (Das Ökumenische Institut in Bossey und das Institut für ökumenische Studien an der Fakultät für Theologie an der Universität von Fribourg sind seltene Ausnahmen.)
  •  Landeskirchenräte haben ihre Bedeutung und ihre Wirkung verloren, und an vielen Stellen werden beratende Religionsgremien bevorzugt.
  • Der Begriff „Ökumene“ ist zu einem heiklen und problematischen Wort geworden. In manchen Kontexten wird sie mit einer ideologischen Bewegung der Vergangenheit gleichgesetzt. Doch auch wenn die Ökumene in einigen Fällen in Frage gestellt oder gar verdammt wird, sehen die meisten Menschen christlichen Glaubens immer noch ein, dass eine Zusammenarbeit und ein Dialog zwischen den christlichen Glaubensausprägungen notwendig sind. Und in jüngerer Zeit wird das Profil des ÖRK auf breiter Ebene als ein einzigartiger sicherer Raum und offenes Podium für Begegnungen und den Dialog zum Bauen von Brücken des gerechten Friedens und der Versöhnung angenommen.

 

Die Diskussion über das Konzept der „Einheit“ als Zweck und Ziel der ökumenischen Bewegung

Die einstmals weithin akzeptierten Leitbilder zur Einheit werden heute in der Form, wie sie im Ökumenischen Rat der Kirchen ausgearbeitet wurden, infrage gestellt, und zwar nicht nur von Menschen christlichen Glaubens und von Kirchen, die nicht Mitglied im ÖRK sind (zum Beispiel die Evangelikalen und Pfingstkirchen), sondern auch von der jüngeren Generation der Theologinnen und Theologen und von Gläubigen aus Kirchen, die seit Gründung des ÖRK Mitglied sind.

Es ist sehr wichtig, dass wir anhand der kontextabhängigen Realitäten verstehen, woher wir kommen, wo wir stehen und wohin wir gehen müssen, wenn wir den ökumenischen Traum und die ökumenische Vision stärken und ihnen eine Zukunft geben möchten. Die Ausgestaltung der vorgeschlagenen und geprägten Leitbilder muss im Kontext des 20. Jahrhunderts einer kontextabhängigen Analyse und Reflexion unterzogen werden.

Die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung betonte die kirchliche Einheit, den Glauben und das eucharistische Miteinander, die Leitbilder zur Einheit der Kommission für Leben und Arbeit lagen im Handeln, während die Kommission für Mission und Evangelisation ihr Leitbild zur Einheit im Zeugnis fanden. Diese ökumenischen Initiativen entwickelten sich zu einer Zeit, als man dachte, die Notwendigkeit, „die ganze Welt zusammenzubringen“, stelle die Lösung aller Probleme der damaligen Zeit dar (Völkerbund, UNO, internationale Organisationen, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Internationalisierung usw.). Folglich wurden Leitbilder erarbeitet, die die Interessen all dieser anfänglichen Bewegungen widerspiegelten und umfassten, und diese entwickelten sich im Laufe der Jahre weiter: organische Einheit, konziliare Einheit, Einheit der versöhnten Verschiedenheiten, Einheit der Menschheit, Einheit der gesamten Schöpfung, Makro-Ökumene (einschließlich der Beziehung zu Menschen anderen Glaubens).

Während neue Leitbilder geprägt wurden, gab es auf theologischer Ebene Vorschläge und Versuche, sich von der christozentrischen Grundlage früherer ökumenischer Bewegungen zu entfernen, die in die Kritik geraten war als arrogante, westliche, missionarische Sichtweise des christozentrischen Universalismus, der in seiner Generation davon träumte, die gesamte Welt zu Christus zu bringen. An der damaligen, stark christologischen Grundlage wurde kritisiert, sie sei exklusivistisch. Es gab neue Vorschläge für eine mehr trinitarische und pneumatologische Grundlage, die einem neuen Leitbild Platz einräumt, das die Vision und das Ziel der ökumenischen Bewegung in der heutigen Zeit besser ausdrücken konnte, wie zum Beispiel das vom Lebenshaushalt (Konrad Raiser und Lesslie Newbigin).

Es gab auch einen offenkundigen Versuch, sich von einer kirchlich zentrierten Ökumene ab- und einem mehr weltzentrierten Ansatz zuzuwenden. Der Richtungswechsel wurde vor allem nach der 4. ÖRK-Vollversammlung 1968 in Uppsala offensichtlich: viele Kirchen aus dem Süden wurden Mitglieder, soziale und politische Themen traten auf die ökumenische Agenda und das berühmte Programm zur Bekämpfung von Rassismus wurde ins Leben gerufen. Dadurch stellte das gemeinsame Handeln im Dienst an der Welt in einigen Kreisen eine Alternative dar, mit der man die Einheit der Kirche betonte. Durch ihre jeweiligen Interessen haben Glauben und Kirchenverfassung sowie Leben und Arbeit im gleichen Maße zur Gründung des ÖRK und zu seiner Vision und seinen Zielen beigetragen. Doch eine Entweder/Oder-Debatte liefe darauf hinaus, dass die beiden Sichtweisen so dargestellt würden, als schlössen sie sich irgendwie gegenseitig aus.

Vor nicht allzu langer Zeit kam es zu ersten kritischen Äußerungen über die ursprüngliche Vision und das anfängliche Ziel der ökumenischen Bewegung als christliche Einheit, und es wurden Vorschläge für neue Leitbilder unterbreitet. Laut der beiden bekannten niederländischen Theologen Witvliet und Hoedemaker starb der alte Traum von Einheit als Ziel der ökumenischen Bewegung 1988/1989. Ihrer Meinung nach war das ursprüngliche Konzept von Einheit, wie es sich innerhalb des ÖRK entfaltete, eine vom Römischen Reich übernommene, imperialistische Sichtweise. Heutzutage wird sie als Zwangskorsett betrachtet, das die Verschiedenartigkeiten regelte und einschränkte. Folglich argumentierten die beiden mehr für die Bejahung der Vielfältigkeit als für diese Art von imperialistischer Einheit.

Andererseits wurden die neuen Strömungen innerhalb der ökumenischen Bewegung und der Vorschlag eines neuen Leitbildes scharf kritisiert. Entsprechende Reaktionen kamen von Personen, die auch weiterhin die alten ökumenischen Leitbilder mit einer deutlich christologischen Grundlage und einer klaren Aussage zur Einheit als Hauptvision und Hauptziel der ökumenischen Bewegung verteidigten und Argumente für diese anführten (The Strasbourg Statement von 1993, The Princeton Proposal von 2003, Michael Kinnamons The Vision of the Ecumenical Movement and How It Has Been Impoverished by Its Friends (2003)).

 

Die kontextabhängige Situation der heutigen Zeit und die Notwendigkeit für neue ökumenische Leitbilder

Die von postmodernen Werten, Megatrends und übergeordneten Anliegen geprägte heutige Welt bringt neue Herausforderungen für die älteren ökumenischen Leitbilder mit sich, die in einer anderen geschichtlichen Situation und einem anderen Kontext ins Leben gerufen worden waren. Einige dieser Herausforderungen können wie folgt zusammengefasst werden: es gibt nicht nur die eine Wahrheit, sondern viele Wahrheiten; es gibt keine Einheit, die zu EINEM macht, sondern es findet ein Zusammenleben verschiedener Identitäten statt; die institutionelle Ausdrucksweise aller Arten von Begriffen wird infrage gestellt und abgelehnt (alle internationalen Institutionen werden stark in Zweifel gezogen, einschließlich die Institution Familie, selbst das Konzept der allgemeinen Menschenrechte wird zutiefst angezweifelt und hinterfragt, sie gelten als „westliche“ Werte, die der ganzen Welt aufgezwungen wurden, und stattdessen wird der Begriff Menschenwürde bevorzugt); international oder global wird durch bilateral ersetzt; Kirchenkonzil oder Kirchenrat werden durch den Begriff „Kirchen gemeinsam“ ersetzt; statt Konzilen, Räten und anderen offiziellen institutionalisierten Strukturen werden Plattformen und Foren bevorzugt.

Deshalb werden die älteren Leitbilder der christlichen Einheit, wie sie der ÖRK seit seiner Anfangszeit propagiert, in Bezug auf die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Hauptströmungen heute von der jüngeren Generation als arrogante, imperialistische, zentralisierte Einheit betrachtet, die voraussetzt, dass Identitäten und Unterschiede verwässert werden. Unbedingte Priorität hat daher, dass wir unseren Glauben und unsere Theologie mit neuem Blick betrachten und neu überdenken müssen, um angemessene und bedeutungsvolle Antworten und Leitbilder für die Menschen unserer Zeit zu finden. 

In den biblischen Texten und dem gesamten Erleben der früheren christlichen Gemeinschaften wird auf das Konzept der Einheit eingegangen. Doch zumindest in den ersten vier Jahrhunderten wurde sie nicht als EINSSEIN in allem betrachtet, sondern als KOINONIA der Verschiedenartigkeiten im Einklang, als Abbild der ganzen Existenz der Dreieinigkeit. Es gab viele Glaubensbekenntnisse oder -richtungen (Apostel, Hl. Athanasius, Hl. Kyrill von Jerusalem usw.), und sie waren inhaltlich allesamt sehr orthodox, doch nicht ein und dasselbe; es gab viele Liturgien, und jede Landeskirche hatte ihre eigene Liturgie. Die christlichen Feste wurden zu verschiedenen Terminen gefeiert, und es gab unterschiedliche Bräuche, mit denen der Glaube ausgelebt wurde, und das sah man nicht als Grund für Spaltungen oder Schismen (siehe die Debatte zwischen Polykarp von Smyrna und Papst Anicetus über das Osterfest; oder den Fall von Augustinus‘ Mutter zum Fasten in Mailand und Rom und die Erläuterung des Hl. Ambrosius usw.). Es gab viele theologische Äußerungen zum Glauben sowohl im Neuen Testament als auch bei den Glaubensvätern, und sie alle existierten miteinander in jener Koinonia, welche das Verständnis von Einheit darstellte.

Dennoch träumen wir noch immer davon, ein einziges Datum für Ostern zu haben, von einer einzigen Liturgie (wie der Lima-Liturgie), von vereinbarten und unterzeichneten Dokumenten zu verschiedenen theologischen Themen, wo wir alle die gleiche Sprache und die gleichen Begriffe verwenden usw.

Die biblische Erzählung zur Herabkunft des Heiligen Geistes zeigt, dass Gottes Sichtweise eine andere ist. Der Heilige Geist kam persönlich über jeden einzelnen Apostel, nicht als EINER, der alle abdeckte, sondern als verschiedene Feuerzungen, die jedem von ihnen die Gabe einer anderen Sprache verliehen. Die Herabkunft des Heiligen Geistes verEINte die Apostel nicht im Sinne einer „spirituellen Kolchose“, sondern einer Koinonia aus verschiedener Gaben. Diese Vielfalt der Gaben und ihre Koinonia in der Einheit drückt sich deutlich in dem antiken christlichen Gebet zur Anrufung des Heiligen Geistes aus, das bis heute in der orthodoxen Kirche verwendet wird: „der Du überall bist und ALLES erfüllst.“

 

Ein Fazit und der weitere Weg. Die Rolle der ökumenischen Bildung als Antwort auf aktuelle Herausforderungen

In Anbetracht der vielen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, wird die Suche nach einer neuen Artikulierung geeigneter Leitbilder für die ökumenische Bewegung und das Verständnis von Einheit unerlässlich. Meiner Ansicht nach könnten die gemeinsamen Quellen unseres Glaubens aus der Erfahrung der frühen Kirche neue Möglichkeiten für neue Leitbilder aufzeigen, die uns im Streben nach der Einheit voranbringen können, die Christus uns gepredigt und die er uns als verbindliches Gebot auferlegt hat.

Der Ruf nach Einheit ist keine Option; sie ist ein Gebot und eine Berufung. Sie ist der ganze Wunsch Christi und der Kern der Evangeliumsbotschaft. Ob uns das gefällt oder nicht. Sie ist keine altertümliche, imperialistische Ansicht; sie ist kein arrogantes Verlangen, die Welt gewaltsam zu vereinen, sondern ein spirituelles Streben, Gottes Schöpfung und Sein Volk in Harmonie und Koinonia zusammenzubringen.

Die Kirche und die Welt können nicht in widerstreitenden Begriffen oder unter dem Aspekt der Priorität betrachtet werden. Die Kirche ist Gottes Schöpfung so wie auch die Welt Gottes Schöpfung ist. Die Kirche an sich hat keine Endgültigkeit. Sie ist keine menschliche Institution und sollte auch nicht als solche gesehen werden. Vielmehr ist sie eine Gemeinschaft, die vom Geist Gottes erfüllt und zum Dienst an der Welt und zu ihrer Verwandlung ermächtigt ist. In der Diakonie an der Welt drückt sich ein einiger Glauben und eine einige Spiritualität aus. Sie ist keine zusätzliche und optionale gute Tat. In der Kirche müssen die vertikalen mit den horizontalen Realitäten zusammentreffen. Gleichgewicht und Stabilität erhält die ökumenische Bewegung, indem sie das Kreuz zusammenhält.

Die ÖRK-Versammlungen in Busan und jüngst in Karlsruhe boten eine erneuerte Erklärung zur Einheit an, mit der versucht wurde, all diese Dynamiken und Herangehensweisen zusammenzubringen. Sie schlugen ein neues ökumenisches Leitbild für die Zukunft vor, das in allen Kirchen auf breiter Ebene angenommen wurde, nämlich einen „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“. Papst Franziskus, der ökumenische Patriarch Bartholomäus und andere Kirchenoberhäupter verwenden den Begriff und den Gedanken der gemeinsamen Reise ausgiebig als neue Art, die ökumenischen Bestrebungen der heutigen Zeit zu beschreiben.

In Karlsruhe schlug ich vor, das Denkbild des Pilgerwegs als ökumenisches Leitbild für die heutige Zeit fortzuführen, mit dem Argument, dass das Bild des Pilgerwegs unsere Identität anspricht. Wir sind eine Bewegung und keine statische Institution. Wir sind Menschen auf dem Weg. Dieses ganze Konzept ruht auf einem starken biblischen und kirchenväterlichen Fundament. Die ersten Christinnen und Christen wurden „Anhänger des Weges“ (Apostelgeschichte 9,2) genannt. In den frühen christlichen Quellen sehen wir, dass man Menschen christlichen Glaubens als jene, die zusammen gehen (syn-odoi) bezeichnete, während der Heilige Johannes Chrysostomos die Kirche selbst syn-odosnannte. Die Vollversammlung stimmte einem Pilgerweg der Gerechtigkeit, der Versöhnung und der Einheit als einem übergeordneten Konzept und Leitbild zu, das die Programmarbeit des ÖRK bis zur nächsten Vollversammlung leiten solle.

Einheit in der Glaubenslehre und allgemein akzeptierte theologische Aussagen, die zur Einheit im Glauben und zur vollen Gemeinschaft unter den Christinnen und Christen führen, bleiben ein großer Wunsch und ein wichtiges Ziel. Sie sind jedoch keine Voraussetzung, um gemeinsam auf dem Pilgerweg des gerechten Friedens, der Versöhnung und der Einheit aller unterwegs zu sein. Trotz der Unterschiede können Einheit und Koinonia auf dem Weg durch das gemeinsame Unterwegssein und Dienen gestärkt werden.

Nicholai Berdjajew hat gesagt: „Die Sorge um mein tägliches Brot ist eine materielle Frage. Die Sorge um das Brot meines Bruders ist eine geistliche Frage.“ Aus diesem Grund sollten das Interesse an einem Dialog mit Menschen anderen Glaubens und die Bestätigung von Religionen als Instrumente des Friedens, der Ökö-Theologie, der nachhaltigen Entwicklung, der Überwindung von Armut usw. auch absolut notwendige Themen und Anliegen bei der Suche nach einem neuen ökumenischen Leitbild sein, das nach der Einheit Ausschau hält, die Gott der Welt bestimmt hat.

Doch um all diese Desiderata zu erlangen, bedarf es der Erziehung, der Information und vor allem der Bildung. Die ökumenische Bildung der künftigen Generation von Kirchenoberhäuptern und der Menschen auf den Kirchenbänken ist der einzige Schlüssel, um für Stabilität und eine Stärkung unseres Glaubens und unserer Gemeinden zu sorgen. Wie immer, doch besonders in der heutigen Zeit, muss unsere ökumenischen Bildung eine feste Säule unserer Kirchen darstellen, mit einem starken biblischen und theologischen Fundament und erfüllt von bedeutungsvoller ökumenischer Spiritualität, während sie gleichzeitig holistisch bleibt.

Frater Ioan Sauca