Bei der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam im August 1948, nur wenige Tage, nachdem der Staat Israel seine Unabhängigkeit erklärt hatte, wurde ein Bericht mit dem Titel „“The Christian Approach to the Jews” (Die christliche Annäherung an die Juden) entgegengenommen und „den christlichen Kirchen zur ernsthaften Erwägung und zum entsprechenden Handeln anempfohlen“. Der Bericht enthält eine Erklärung, die erheblichen Einfluss auf die Interessengemeinschaft des ÖRK und die christliche Welt im Allgemeinen hatte:

Wir fordern sämtliche von uns vertretenen Kirchen auf, Antisemitismus gleich welchen Ursprungs als absolut unvereinbar mit dem Bekenntnis und der Ausübung des christlichen Glaubens zu verurteilen. Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und die Menschheit.

Das stellt die unmissverständlichste Form von Ablehnung dar, die in christlichen Kreisen denkbar ist. Sie wurde im Laufe der späteren Geschichte von ÖRK-Oberhäuptern in Stellungnahmen und Reaktionen auf konkrete antisemitische Anschläge und Vorfälle bekräftigt – unter anderem zum Beispiel in der vom damaligen ÖRK-Generalsekretär Pastor Dr. Olav Fykse Tveit ausgegebenen Botschaft nach dem Anschlag auf die Tree of Life-Synagoge in Pittsburgh, in der er erklärte:

Der ÖRK lehnt jegliche Gewalt aufgrund von religiöser, ethnischer oder rassischer Zugehörigkeit oder jedes anderen Aspektes der Identität oder Gruppenzugehörigkeit einer Person ab, und dieser Angriff auf die jüdische Gemeinschaft an einem Ort des Gebets und in einem Moment, in dem die Menschen ihre religiöse Identität leben und feiern, ist eine abscheuliche Verletzung unseres gemeinsamen Menschseins.

In den vergangenen Jahren erneuerte und verstärkte der ÖRK seine Beziehungen zu jüdischen Schlüsselpartnerinnen und -partnern, insbesondere zum Internationalen Jüdischen Komitee für interreligiöse Konsultationen (IJCIC) – vor allem durch eine gemeinsame IJCIC-ÖRK-Konferenz in Paris im Juni 2019 über „The normalization of hatred: Challenges for Jews and Christians today“ (Die Normalisierung von Hass: Herausforderungen für jüdische und christliche Gläubige heute). Der Themenkomplex dieser Konferenz verzeichnet ein gegenseitiges Erkennen der Tatsache, dass populistische Bewegungen auf der ganzen Welt die Erlaubnis zu latenten Vorurteilen und schwelendem Hass gegenüber „den Anderen" gaben und dazu ermutigten, wodurch sich die Verletzlichkeit von Minderheiten aller Art, einschließlich der Juden, deutlich erhöht hat. Wir pflegen auch weiterhin einen engen Austausch mit den Vorsitzenden des IJCIC über Belange von allgemeinem Interesse.

Im Mittelpunkt der antisemitischen Anschuldigungen gegen den ÖRK steht oftmals das Ökumenische Begleitprogramm für Palästina und Israel (EAPPI). Obwohl diese Anschuldigungen aus meiner Sicht immer überwiegend ungerecht und falsch waren, legten wir dennoch großen Wert darauf, den Kontakt der Teilnehmenden an diesem Programm mit den jüdisch-israelischen Gemeinden zu verstärken und ihren Erfahrungen und Perspektiven deutlich Aufmerksamkeit zu widmen. Auch lag uns viel daran, mit dem IJCIC und anderen jüdischen Partnerinnen und Partnern zu beratschlagen, wie die Arbeit des EAPPI verbessert und verstärkt werden kann.

Dennoch gibt es noch immer Punkte für größere Dispute, vor allem über die Politik und die Methoden, mit denen die Besetzung und die fortgesetzte militärische Kontrolle der palästinensischen Autonomiegebiete seit 1967 normalisiert werden, die der ÖRK auch weiterhin entschieden ablehnt. Leider wird von manchen Stellen nahezu jede Kritik am Staat Israel, in der es um die Besetzung und die Behandlung von Palästinenserinnen und Palästinensern geht, als antisemitisch angesehen. Wir weisen diese Unterstellung von uns.

Von Bedeutung ist hier die 2019 vom ÖRK-Exekutivausschuss ausgegebene Grundsatzerklärung „Ökumenisches Begleitprogramm für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel“:

Im Land von Christi Geburt suchen wir nach Frieden, einem Frieden der sich auf Gerechtigkeit stützt und nicht auf Gewalt, Blutvergießen und Ausgrenzung der einen durch die anderen oder bei dem nicht ein ganzes Volk immer und immer wieder militärischer Besatzung und Kontrolle unterworfen ist.  

So wie wir das Existenzrecht des Staates Israel und das Recht des jüdischen Volks auf Selbstbestimmung anerkennen, so verfechten wir auch das gleiche Recht für das palästinensische Volk, nämlich ihr Recht auf Selbstbestimmung in einem eigenständigen Staat in den seit 1967 besetzten Gebieten und mit Jerusalem als gemeinsamer Stadt für zwei Völker und drei Glaubensrichtungen. So wie wir Antisemitismus kategorisch als Sünde gegen Gott und die Menschheit verurteilen, so lehnen wir auch Diskriminierung, Ausgrenzung, kollektive Bestrafung und Gewalt gegen das palästinensische Volk aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Rasse oder Religion als Sünde gegen Gott und die Menschheit ab.

Wir fordern eine Herangehensweise an die Situation zwischen Israel und Palästina, die nicht zu einem Wettstreit zwischen zwei gegensätzlichen Meinungen verkommt und bei der man sich nicht für die eine oder andere Seite entscheiden muss, sondern bei der die gemeinsame Menschlichkeit sowie die Würde und die Rechte, die Gott allen Menschen in dieser Region im gleichen Maß gegeben hat, anerkannt und bekräftigt werden.

Als Ökumenischer Rat der Kirchen sind wir verpflichtet, auf die Erfahrungen und das Leiden der Palästinenserinnen und Palästinenser einzugehen und dazu gehört auch unsere eigene palästinensische christliche Anhängerschaft, getreu dem Prinzip, dass die Menschenrechte für alle gleichermaßen gelten.

Angesichts der derzeitigen Gegebenheiten auf der Welt werden diese Themenkomplexe – sowohl das heftige Wiedererstarken von Antisemitismus und anderen Hassäußerungen gegenüber bestimmten Personengruppen als auch die anhaltenden Unrechtstaten und Übergriffe, die das palästinensische Volk unter der Besatzung erfährt – zweifellos in den Gesprächen auf der 11. Vollversammlung äußerst präsent sein, genau wie viele andere Krisen und beispiellose Herausforderungen, denen die Kirchen und die Völker der Welt zu diesem Zeitpunkt in unserer Geschichte gegenüberstehen.

Priester Prof. Dr. Ioan Sauca

Geschäftsführender Generalsekretär

Ökumenischer Rat der Kirchen