Der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen hat auf seiner Tagung vom 15. bis 18. Juni 2022 in Genf, Schweiz, mit großer Beunruhigung festgestellt, dass die jüngsten Ereignisse in Israel und Palästina die immer größer werdenden Hürden für einen gerechten Frieden in der Region und die zunehmenden Bedrohungen für die christliche Präsenz im Land der Geburt, des Wirkens, des Todes und der Auferstehung Christi hervorgehoben haben.
In den vergangenen sieben Monaten haben die Kirchenleitungen vor Ort nicht weniger als sieben Erklärungen veröffentlicht, in denen sie die Bedrohungen hervorheben, die von den Angriffen extremistischer Gruppen auf Geistliche und Kirchengebäude, von den Einschränkungen der Religionsfreiheit und des Zugangs zu heiligen Stätten durch den Staat Israel und von anderen Aktionen und Maßnahmen ausgehen, die den Status Quo und die multireligiöse und multikulturelle Identität Jerusalems bedrohen. In der ersten Erklärung dieser Art vom 13. Dezember 2021 haben die lokalen Kirchenführungen in Jerusalem die Besatzungsbehörden dort aufgerufen:
- „Kümmern Sie sich um das Problem, das radikale Gruppen in Jerusalem sowohl für die christliche Gemeinschaft als auch für die Rechtsstaatlichkeit darstellen, und stellen Sie damit sicher, dass kein Bürger, keine Bürgerin und keine Institution mit dem Risiko leben muss, Opfer von Gewalt oder Einschüchterungen zu werden“; und
- „Beginnen Sie einen Dialog über die Einrichtung einer besonderen Zone für christliche Kultur und das christliche Erbe, durch die die Integrität des christlichen Viertels in der Altstadt von Jerusalem gesichert und sichergestellt wird, dass sein einzigartiger Charakter und sein einzigartiges Erbe zum Wohlergehen der lokalen Gemeinschaft, unseres ganzen Landes und der Welt insgesamt bewahrt werden.“
Die jüngsten Entwicklungen aber deuten auf eine sich rapide verschlechternde Situation hin. So wurden zum Beispiel die höchsten religiösen Feierlichkeiten der ÖRK-Mitgliedskirchen in der Karwoche 2022 erheblich gestört, behindert und in einigen Fällen unterbunden. Zuletzt hatte der Oberste Gerichtshof Israels am 9. Juni 2022 den Antrag des griechisch-orthodoxen Patriarchats abgelehnt, eine Entscheidung aus dem Jahr 2017 zu annullieren, die die enteigneten Kirchenimmobilien am Jaffa-Tor (das New Imperial Hotel und das Petra Hotel) der israelischen Siedlungsorganisation Ateret Cohanim zugesprochen hatte, nachdem diese sie in höchst umstrittenen und angefochtenen Geschäften aus dem Jahr 2004 erworben hatte. Die betroffenen Gebäude sind ein wichtiger Teil des „Fußabdrucks“ der christlichen Präsenz in Jerusalem. Die Folgen dieser Entscheidung werden für die Kirche und die christliche Gemeinschaft vor Ort also voraussichtlich verheerend sein, weil sie die Identität des christlichen Viertels in der Stadt ernsthaft untergraben.
Nur drei Tage vorher, am 6. Juni, waren israelische Extremisten in die Pfingstkapelle des Griechisch-orthodoxen Patriarchats auf dem Zionsberg eingebrochen, die schon mehrfach das Ziel von Angriffen, Vandalismus und Hausfriedensbruch durch derartige Radikale gewesen ist. Allerdings hat es keinerlei Festnahmen oder andere Strafverfolgungsmaßnahmen gegen die Täter gegeben. Derartige Angriffe gehen immer weiter, weil die Täter ungestraft davonkommen.
Darüber hinaus steht die Tatsache, dass die Angehörigen der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte, die aller Wahrscheinlichkeit für die Tötung der Journalistin Shireen Abu Akleh am 11. Mai 2022 verantwortlich sein dürften, nicht zur Rechenschaft gezogen werden, im krassen Gegensatz zu den Antworten auf die jüngsten Angriffe gegen Israelis, bei denen die für die Angriffe verantwortlichen Palästinenserinnen und Palästinenser getötet, ihre Häuser und Wohnungen zerstört und ihre Familien vertrieben wurden. Die Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung ist offenkundig und systematisch, und die andauernde und seit einem halben Jahrhundert bestehende Besatzung widerlegt weiterhin, dass die palästinensische Bevölkerung, die in diesem System der Kontrolle lebt, die gleiche Menschenwürde und die gleichen Menschenrechte wie alle anderen hat, während die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft ebenfalls nach wie vor eine ungeheuerliche Doppelmoral widerspiegeln.
Unterdessen sind viele palästinensische Gemeinwesen im besetzten Westjordanland und im besetzten Ostjerusalem wie in Sheikh Jarrah, Khan Al-Khalil und weiteren auch aktuell immer noch von Zwangsumsiedlung bedroht. 1.200 Palästinenserinnen und Palästinensern, darunter 500 Kinder, droht in der Feuerzone 918 von Masafer Yatta, Hebron, Zwangsräumung und der Abriss ihrer Häuser. Am 4. Mai 2022 hat der Oberste Gerichtshof Israels den Antrag der dortigen Bewohnerinnen und Bewohner endgültig abgelehnt, was die großangelegteste Zwangsumsiedlung von Palästinenserinnen und Palästinensern seit dem Beginn der Besatzung 1967 ermöglichte und einen schweren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen darstellt. Die israelische Zivilverwaltung hat nach dem Urteil schnell reagiert und ließ bereits am 11. Mai 2022 die ersten 19 Häuser, Lagerhäuser und Tierställe in dem Gemeinwesen abreißen.
Der Zentralausschuss beschließt daher folgendes:
Er bringt seine aufrichtige Solidarität mit den Mitgliedskirchen und Christinnen und Christen in der Region zum Ausdruck, die durch ihr Leben und Wirken den christlichen Glauben und das christliche Zeugnis im Heiligen Land bewahren und lebendig halten.
Er ruft alle Mitgliedskirchen und ökumenischen Partner, die Angehörigen der jüdischen und muslimischen Bevölkerungsgruppen und alle Menschen guten Willens auf, die ÖRK-Mitgliedskirchen und christlichen Gemeinschaften im Heiligen Land zu unterstützen, weil sie ein unverzichtbarer Bestandteil des vielfältigen multireligiösen und multikulturellen Wesens der Gesellschaft in der Region sind, zu der auch die christliche Präsenz in der Region zählt.
Er begrüßt, dass der ÖRK auch weiterhin die Beziehungen zum Internationalen Jüdischen Komitee für interreligiöse Konsultationen (IJCIC) und zum Jüdischen Weltkongress pflegt und dass dadurch Gelegenheiten für Austausch und Dialog zu diesen Themen möglich gemacht werden.
Er ruft die Regierung Israels und die israelischen Behörden auf, sicherzustellen, dass alle Menschen, die in ihrem Zuständigkeitsbereich leben, die gleichen Rechte haben, und sicherzustellen, dass zur Rechenschaft gezogen wird, wer Palästinenserinnen und Palästinenser, ihre heiligen Orte und Kirchen, christliche Gemeinschaften, muslimische oder andere Bevölkerungsgruppen angreift oder verletzt, sowie einen freien Zugang zu allen Gotteshäusern und heiligen Orten sicherzustellen.
Er ruft alle Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft und alle ÖRK-Mitgliedskirchen und ökumenischen Partner auf, sich für geltendes Völkerrecht stark zu machen und gegen die drohenden Zwangsräumungen in Masafer Yatta und die angedrohte Vertreibung von palästinensischen Gemeinwesen in den besetzten Gebieten die Stimme zu erheben.
Er bedauert zutiefst, dass dem langjährigen Engagement für und Wunsch nach einer gerechten Zwei-Staaten-Lösung im Einklang mit internationalen Resolutionen und dem etablierten ÖRK-Grundsatz viele scheinbar unüberwindbare Hürden in den Weg gelegt worden sind.
Er bekräftigt die regelmäßige Forderung des ÖRK, die Besatzung zu beenden und gleiche Rechte für alle Menschen in der Region zu gewährleisten.