Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) ist sehr besorgt über die fortwährenden und weitreichenden Angriffe Israels auf Zivilgesellschaften und die Infrastruktur im besetzen Gazastreifen, dem Westjordanland und im Libanon, die auch auf das benachbarte Syrien und weitere Gebiete übergreifen.
Der Tribut, den diese brutalen Militärangriffe fordern, ist entsetzlich. Sie führen zu einem katastrophalen Verlust an Menschenleben. Es wurden bereits mehr als 50.000 Zivilpersonen getötet, darunter Kinder, humanitäre Helfer, medizinisches Personal und Journalisten, sowie Zehntausende schwer verletzt und traumatisiert. Wir beobachten mit großer Trauer die fortwährenden Angriffe auf Krankenhäuser, Kliniken und Krankenwagen im Gazastreifen und im Libanon. Die vorsätzliche Zerstörung von medizinischen Einrichtungen, die Verweigerung des Zugangs für humanitäre Hilfe und die Behinderung von Hilfslieferungen verstoßen sowohl gegen das Völkerrecht als auch gegen die Unantastbarkeit des Lebens.
Im besetzten Norden des Gazastreifens stecken schätzungsweise 400.000 Menschen fest. Ihnen wird der Zugang zu lebensnotwendigen Gütern wie Nahrung, Wasser, Brennstoff und medizinischer Versorgung verwehrt, was gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenwürde verstößt. Das Ausmaß der Ernährungsunsicherheit im Gazastreifen nimmt seit Oktober stark zu, als Israel begann, die humanitären und kommerziellen Nahrungsmittellieferungen in den Norden und die kommerziellen Nahrungsmittellieferungen in den Süden zunehmend einzuschränken. In den am stärksten betroffenen Gebieten im nördlichen Gazastreifen ist die Versorgung mit Lebensmitteln seit dem 1. Oktober 2024 aufgrund der Belagerung nahezu vollständig blockiert. Für den Großteil des nördlichen Gazastreifens droht eine Hungersnot.
Berichte von UNICEF bestätigen, dass zahllose Kinder durch den Konflikt physische und psychische Wunden davongetragen haben. Viele wurden durch Sprengstoff verstümmelt, mehr als eine Million Kinder sind vom Hunger bedroht.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Gewalt in Israel und im Gazastreifen führten verstärkte Raketenangriffe durch die Hisbollah zur Evakuierung vieler Israelis aus ihren Häusern in Nordisrael. Seit September 2024 haben israelische Raketenangriffe im Libanon mehr als 3.000 Menschen getötet, mehr als 13.000 verletzt, mehr als 1,2 Millionen vertrieben und kritische Infrastruktur und die fragile Wirtschaft des Landes zerstört. Mehr als 30 komplette Dörfer und Tausende von Häusern wurden zerstört.
Die regionale Ausweitung dieser Konflikte nach Syrien destabilisert die Region weiter. Israel führt seine Raketenangriffe auf Infrastrukturen und zivile Gegenden in Syrien, unter anderem auf Damaskus, weiter. Diese fortwährende Gewalt führte zu tragischen Todesopfern in der Zivilbevölkerung und beschädigte wichtige kulturelle und wirtschaftliche Stätten, unter anderem UNESCO-Weltkulturerbestätten im Libanon und in Syrien. Die regionalen Auswirkungen dieser Aktionen befeuern die Instabilität und bedrohen die Aussichten auf einen dauerhaften Frieden.
Neue Gesetze, die kürzlich vom israelischen Parlament verabschiedet wurden, sollen Aktivitäten des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) in den palästinensischen besetzten Gebieten und Israel verbieten und israelische Behördenvertreter an der Zusammenarbeit mit dem Hilfswerk hindern. Dadurch werden zahllose Kinder und Familien noch stärker gefährdet, die auf die humanitäre Unterstützung durch UNRWA angewiesen sind. Neben der Deckung des unmittelbaren humanitären Bedarfs ist UNRWA der wichtigste Dienstleiter für soziale Dienste, wie z. B. Bildungsangebote für die Kinder im Gazastreifen. Ausserdem steht UNRWA für das Engagement der internationalen Gemeinschaft für das Recht auf Rückkehr und das Streben nach einer gerechten Lösung für die palästinensischen Flüchtlinge.
Die UNO-Untersuchungskommission[1] kam vor kurzem zum Schluss, dass einige Aspekte der Taten sowohl der Hamas als auch Israels Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Dieser Krieg und seine tragischen Konsequenzen unterstreichen das Bedürfnis nach Rechenschaftspflicht und sofortigem Eingreifen der globalen Gemeinschaft, um die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens zu schützen und das Völkerrecht zu wahren. Der Kreis der Gewalt muss durchbrochen und die zugrundeliegenden Probleme, die in der Bevölkerung der Region Wut, Frustration und Entfremdung hervorrufen – wie politische Unterdrückung, anhaltende israelische Besatzung, wirtschaftliche Marginalisierung und fehlende Rechenschaftspflicht – angesprochen werden. Diese nicht bewältigten Missstände bilden einen fruchtbaren Boden für alle Arten von Extremismus, auch für religiösen Extremismus.
Das Leiden in der Region ist nicht nur eine regionale Krise, sondern eine globale moralische und politische Herausforderung. Die selektive Anwendung des Völkerrechts, häufig beeinflusst durch politische Interessen, schwächt das Vertrauen in die globale Steuerung und untergräbt Bemühungen um Frieden. Wir sind alle dazu aufgerufen, uns auf die gemeinsamen Werte zu konzentrieren, die die Menschheit verbinden. Nur durch ein kollektives Engagement für Gerechtigkeit, Rechenschaftspflicht und Frieden sowie die Achtung des entsprechenden Rechtsrahmens, der geschaffen wurde, um uns alle vor Missbrauch der Mächtigen zu schützen, können wir darauf hoffen, Sicherheit, Würde und Gerechtigkeit für alle Menschen in der Region und der ganzen Welt wiederherzustellen.
Glaubwürdige Anschuldigungen wegen Völkermords im Gazastreifen, Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und seine Grundsätze sowie Scholastizid und Ökozid erfordern dringend globale Aufmerksamkeit und Rechenschaft. Da die Grenzen des Gazastreifens von Israels Verteidigungstruppen kontrolliert werden, muss der Staat Israel sicherstellen, dass die palästinensische Bevölkerung dort notwendige Nahrungsmittel und medizinische Güter erhält.
Die für die Klärung dieser Fragen zuständigen internationalen Rechtsinstanzen – der Internationale Gerichtshof (IGH) und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) – sind derzeit mit vorläufigen Verfahren (einschließlich der vom IStGH ausgestellten Haftbefehle) befasst, bevor diese endgültig entschieden werden.
Anlässlich der Tagung vom 21.-26. November 2024 in Zypern in der Nähe der betroffenen Region und sehr besorgt über die schwerwiegenden Realitäten, veröffentlicht der Exekutivausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen die folgenden Aufrufe:
- Waffenstillstand und humanitärer Zugang
Wir rufen zu einem sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen, im Libanon und der gesamten Region auf, um weitere Verluste an Leben und Lebensgrundlagen zu verhindern und die Einhaltung des Völkerrechts wiederherzustellen. In Anerkennung der entsprechenden Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht fordern wir, Hindernisse für den humanitären Zugang zu beseitigen und den Zugang zu humanitärer Hilfe für die in den Konfliktgebieten eingeschlossenen Menschen im Gazastreifen, in den besetzten palästinensischen Gebieten, im Libanon und in anderen vom Konflikt betroffenen Gebieten bedingungslos zu ermöglichen.
- Waffenembargo und Souveränität
Wir rufen zu einem Waffenembargo für Israel und der Verhinderung von Waffenlieferungen an bewaffnete Gruppen wie Hamas und Hisbollah auf, deren Taten auf ernsthafte Verstöße gegen das Völkerrecht hinweisen, um eine weitere Gewalteskalation zu verhindern und die Zivilbevölkerung zu schützen. Wir drängen auch darauf, die territoriale Integrität aller Staaten in der Region zu respektieren, deren Souveränität Israel straflos verletzt.
- Souveräner palästinensischer Staat
Wir betonen die dringende Notwendigkeit eines souveränen palästinensischen Staates basierend auf den Grenzen von 1967 und erkennen das im Völkerrecht verankerte Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes an. Es ist unbedingt erforderlich, dass sie in diesem Zusammenhang die gleichen Grundrechte wie andere erhalten. Wir unterstützen im Gebet alle Bemühungen um eine gerechte und dauerhafte Lösung, die zu einem lebensfähigen, unabhängigen palästinensischen Staat führt.
- Rechtsstaatlichkeit und die Rolle der Vereinten Nationen
Wir bestätigen die Überzeugung des ÖRK, dass die Achtung der Grundsätze des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte wesentlich für die Verwirklichung eines nachhaltigen Friedens in der Region ist. Wir begrüßen die Mobilisierung der Rechtsinstanzen wie dem IGH und IStGH zu dieser Situation und rufen zu vollständiger Rechenschaftspflicht für alle Verstöße auf. Gerechtigkeit, die auf Menschenrechten einschließlich dem Recht auf Selbstbestimmung basiert, ist nicht nur eine moralische Pflicht, sondern eine Bedingung für die Stabilität in der Region. Wir bekräftigen die Unterstützung des ÖRK für die Rolle der Vereinten Nationen, insbesondere UNRWA, bei der Bereitstellung lebenswichtiger humanitärer Hilfe und Unterstützung für die von diesem Konflikt bedrohte Bevölkerung. Die Vereinten Nationen nehmen damit eine Verantwortung wahr, die Israel als Besatzungsmacht trägt, sich aber weigert, ihr nachzukommen.
- Solidarität mit den Kirchen und Gemeinschaften des Nahen Ostens
Entschieden unterstützen wir die Kirchen im Nahen Osten, insbesondere im Libanon, in Syrien, im Irak und in Palästina/Israel, wo das Leben und die Existenzgrundlage aller Gemeinschaften unmittelbar bedroht sind. Darüber hinaus sehen sich die christlichen Gemeinschaften mit weiteren Herausforderungen konfrontiert, darunter die Beschlagnahmung von Kircheneigentum, schwindende Mitgliederzahlen und kulturelle Erosion. Wir fordern Kirchen weltweit dazu auf, praktische Unterstützung, Mittel und Fürsprache zu leisten, um die Zukunft dieser Gemeinschaften zu schützen und damit den Ruf des Evangeliums zu ehren, Menschen in Not zur Seite zu stehen.
- Religiöse Rechtfertigung
Wir lehnen jegliche Interpretation von Religion ab, die Besetzung, Gewalt oder die Entmenschlichung anderer rechtfertigt, und rufen Mitgliedskirchen noch einmal dazu auf, den sogenannten christlichen Zionismus zu studieren und über dessen Folgen nachzudenken. Solche Verzerrungen des Glaubens zur Rechtfertigung politischer Ambitionen ist ein Verrat an der religiösen Wahrheit. Der ÖRK ruft alle Glaubensgemeinschaften auf, sich gemeinsam gegen den Einsatz von Religion als Waffe zu wenden und sich für gewaltfreie Ansätze zur Konfliktlösung einzusetzen.
- Engagement für Frieden und Gerechtigkeit
Als eine globale Gemeinschaft von Kirchen engagieren wir uns weiterhin für Gerechtigkeit, Frieden und den Schutz menschlicher Leben und aller Kreaturen Gottes. Wir rufen die globale Gemeinschaft dazu auf, mit Integrität, Mut und Mitgefühl zu agieren. In den Worten von Jesaja: „Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache.“ (Jesaja 1:17). Mögen diese Grundsätze unser gemeinsames Streben nach einem gerechten und nachhaltigen Frieden für alle Menschen im Nahen Osten leiten.
[1]Vollständiger Name: Unabhängige Internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete, einschließlich Ostjerusalem und Israel