Nicht doch, mein Bruder, schände mich nicht; denn so tut man nicht in Israel. Tu nicht eine solche Schandtat! Wo soll ich mit meiner Schande hin? Und du wirst in Israel sein wie ein Ruchloser.“ (2. Samuel 13, 12-14)

1. Mit dem Fortdauern des Konflikts in der Demokratischen Republik Kongo (République Démocratique du Congo, RDC) haben die brutalen Akte sexueller Gewalt gegen Frauen massiv zugenommen und sich – insbesondere seit dem Beginn der militärischen Operationen im Januar 2009 – über das ganze Land ausgebreitet. Tausende von Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt und zu sexueller Sklaverei sowie häufig auch zum Kriegsdienst an den Grenzen gezwungen. Wie die Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen im Februar 2008 in ihrem Bericht an den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UNO) erklärte, ist „sexuelle Gewalt eine wesentliche Komponente des bewaffneten Konflikts in der RDC“. Frauen in Gebieten, in denen ein bewaffneter Konflikt ausgetragen wird, sind Opfer der sexuellen Gewalt seitens verschiedener Akteure wie z.B. der Forces Armées de la République Démocratique du Congo (FARDC), der Police Nationale Congolaise (PNC), verschiedener bewaffneter Gruppen und zunehmend auch von Zivilpersonen.

2. Besonders akut ist die Zunahme der sexuellen Gewalt gegen Frauen in Süd-Kivu, wo nichtstaatliche bewaffnete Gruppen und insbesondere Milizen aus den Nachbarländern sexuelle Gewalttaten von unvorstellbarer Grausamkeit verüben, die zusätzlich zu der Vergewaltigung auf die vollständige physische und psychische Zerstörung der Frauen durch sexuelle Sklaverei abzielen. Dies hat Folgen für das gesamte gesellschaftliche Gefüge. Frauen werden Opfer von brutalen Gruppenvergewaltigungen, häufig im Beisein ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft. Sehr oft werden Männer unter Androhung bewaffneter Gewalt gezwungen, ihre eigenen Töchter, Mütter oder Schwestern zu vergewaltigen. Diese Frauen werden häufig mit dem HIV-Erreger infiziert und deshalb von ihren Familien verstoβen und, sofern sie verheiratet sind, von ihren Ehemännern verlassen. Es besteht Besorgnis angesichts der Tatsache, dass weder die Sicherheitskräfte noch die Justiz sich des Problems der sexuellen Gewalt annehmen, und dass die überlebenden Vergewaltigungsopfer weder genügend Betreuung noch Schutz erhalten. Die Mehrzahl der Fälle sexueller Gewalt, die seit Januar in Kivu bekannt wurden, werden Soldaten der Streitkräfte der Regierung zugeschrieben. Es ist ferner berichtet worden, dass Soldaten und Polizeibeamte in der Provinz Équateur systematisch Repressalien gegen einheimische Zivilpersonen ergriffen haben, darunter auch Massenvergewaltigungen. Bei den Vorbereitungen für die militärischen Operationen, deren Ziel die Verfolgung der Forces Démocratiques de Libération du Rwanda (FDLR) ist, werden Zivilpersonen in zunehmendem Maβe zu Opfern von Mord, gewaltsamem Eindringen in Häuser und Vergewaltigung. Diese bewaffneten Gruppen, die aus den Wäldern heraus operieren, überfallen und plündern Dörfer, schicken Menschen in die Zwangsarbeit, vergewaltigen und versklaven Frauen und Mädchen.

3. Ein unabhängiger UNO-Menschenrechtsexperte berichtete der UNO-Generalversammlung im vergangenen Jahr, die sexuelle Gewalt, der Frauen in der RDC ausgesetzt sind, sei aufgrund ihres Umfangs und ihrer Grausamkeit als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen. In der UNO-Sicherheitsratsresolution 1820 vom Juni 2008 hieβ es, dass Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder eine die Tatbestandsmerkmale des Völkermords erfüllende Handlung darstellen können. Des Weiteren unterstrich die Resolution, dass sexuelle Gewaltverbrechen von Amnestiebestimmungen, die im Zusammenhang mit Konfliktbeilegungsprozessen erlassen werden, ausgenommen werden müssen, und forderte die Mitgliedstaaten auf, ihrer Verpflichtung zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die für solche Handlungen verantwortlich sind, nachzukommen, um sicherzustellen, dass allen Opfern sexueller Gewalt, insbesondere Frauen und Mädchen, gleicher Schutz durch das Gesetz und gleicher Zugang zur Justiz gewährt wird. Dennoch herrscht in der gesamten RDC ein Klima der Straflosigkeit bei Verbrechen gegen Frauen, und die örtlichen Behörden unternehmen wenig, um den Verbrechen ein Ende zu setzen oder die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen. Die Justiz ist auβerstande, die Problematik der sexuellen Gewalt aufzugreifen, und den vergewaltigten Frauen wird nicht genügend Betreuung und Schutz geboten. Daher sind die meisten dieser Frauen sozial ausgegrenzt und HIV-positiv. Selbst die UNO verfügt offenbar weder über die Mittel noch über die Mechanismen, um gegen eine so schwerwiegende Verletzung der Menschenwürde vorzugehen.

4. Angesichts des besorgniserregenden und anhaltenden sexuellen Missbrauchs von Frauen in der RDC ist es höchst bedauerlich, dass die Kirchen nicht ihre Stimme erheben, um diese furchtbaren Gewalttaten zu verurteilen. Für die Kirchen gehört sexuelle Gewalt offenbar zur Privatsphäre, und Gewalt ist für sie nach wie vor ausschlieβlich physische Gewalt, womit sie sowohl die psychischen, soziologischen und spirituellen Auswirkungen als auch die zerstörerischen Folgen für die Gemeinschaft auβer Acht lassen. Im Rahmen religiös-kultureller, gesellschaftlicher und selbst kirchlicher Praktiken sind „offene Geheimnisse“, die das Leben von Frauen gefährden, weiterhin an der Tagesordnung, während sexuelle Gewalt und das Risiko einer HIV-Infektion Tag für Tag alarmierend zunehmen. In der Botschaft an die Achte ÖRK-Vollversammlung zum Abschluss der Dekade der Kirchen in Solidarität mit den Frauen (1988-1998) hieβ es, dass „Gewalt gegen Frauen eine Sünde ist und gegen den Willen Gottes verstöβt“. Es ist Aufgabe der ganzen Kirche, sich in der Nachfolge Christi engagiert dafür einzusetzen, dass alle Menschen teilhaben können an der Fülle des Lebens. Die Kirche muss vertrauensvoll und mitfühlend dafür eintreten, dass alle Formen von Gewalt beseitigt werden. Der ÖRK bekräftigt, dass seine Mitgliedskirchen dafür sorgen müssen, dass die Unschuldigen geschützt und die Unterdrückten befreit werden. Es sollte der ungerechten Tendenz ein Ende gesetzt werden, den Opfern die Schuld zu geben und die Überlebenden anzuklagen, als ob sie es seien, die sich versündigt haben. Die Gewalttäter sollten im Rahmen der transformativen Gerechtigkeit zur Verantwortung gezogen werden. In 1. Mose 1, 27 heiβt es, dass Gott den Menschen als Mann und Weib zu seinem Bilde schuf. Insofern sind Mann und Frau gleich, und daher ist Gewalt gegen Frauen eine Sünde, die gegen die von Gott gewollte Fülle des Lebens verstöβt.

5. Angesichts der Tatsache, dass alle Schutzmechanismen, die die zunehmende sexuelle Gewalt gegen Frauen in der RDC hätten eindämmen sollen, versagt haben, müssen die verschiedenen Akteure dringend Maβnahmen ergreifen, um eine weitere Entmenschlichung des Landes zu verhindern. Die Überlebenden der sexuellen Gewalt in der RDC benötigen moralische Unterstützung, um ihre Wunden zu heilen und um die geschlechtsspezifische Diskriminierung sowie die beständige Bedrohung ihres Lebens und ihrer Sicherheit zu überwinden. Die ÖRK-Mitgliedskirchen, zivilgesellschaftliche Organisationen, die Regierung der RDC und die internationale Gemeinschaft müssen diesbezüglich ihre Verantwortung wahrnehmen.

Angesichts dessen fasst der Zentralausschuss des ÖRK auf seiner Tagung in Genf (Schweiz) vom 26. August – 2. September 2009 folgenden Beschluss:

Der Zentralausschuss,

A. ruft die ÖRK-Mitgliedskirchen nachdrücklich auf, Gewalt gegen Frauen öffentlich zu verurteilen und sich konstruktiv um die Überwindung dieser Gewalt zu bemühen, indem sie erklären, dass Gewalt gegen Frauen eine Sünde ist, und indem sie klare Positionen zur Frage der sexuellen Belästigung entwickeln, die auch deutlich machen, welche Folgen solche Belästigungen haben;

B. ermutigt alle ÖRK-Mitgliedskirchen, auch weiterhin ihre Solidarität mit den Frauen in der Demokratischen Republik Kongo (RDC) zum Ausdruck zu bringen, damit diese wissen, dass sie in ihrem Kampf nicht allein sind; zudem sollten sie im Rahmen der ÖRK-Dekade zur Überwindung von Gewalt (2001-2010) öffentliche Kampagnen zur Bekämpfung der Gewalt durchführen;

C. appelliert an die ÖRK-Mitgliedskirchen und zivilgesellschaftliche Organisationen, Frauen aus allen Teilen der RDC die Möglichkeit zu bieten, sich miteinander sowie auch mit ihren Schwestern in den anderen afrikanischen Ländern und auf den anderen Kontinenten zu vernetzen, um die Frauen durch Solidarität zu stärken und den Heilungsprozess zu fördern;

D. ruft die ÖRK-Mitgliedskirchen auf, demütig zu bekennen, dass sie durch Unterlassung gesündigt haben, als sie angesichts der von Frauen erlittenen Verleugnung der Menschenwürde und des Verlustes von Menschenleben durch Aids schwiegen, und des Weiteren durch die Einsetzung einer glaubwürdigen Wahrheits- und Versöhnungskommission, der alle Akteure angehören, die die Opfer von solchem Missbrauch begleitet haben, Anstoβ zu Busse, Vergebung, Transformation und Wiedergutmachung zu geben;

E. ermutigt die ÖRK-Mitgliedskirchen, sich zu verpflichten, Wege zu finden, wie sie alle diejenigen seelsorgerlich und psychologisch begleiten können, die durch verschiedene Formen von Gewalt traumatisiert wurden. So besteht zum Beispiel die Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, insbesondere mit dem Frauenreferat der Kirche Christi im Kongo (ECC), berufsbildende Programme für Gewaltopfer aufzustellen, damit sie ihren Lebensunterhalt verdienen können, oder auch rechtliche Mechanismen einzuführen die die strafrechtliche Verfolgung der Täter ermöglichen. Des Weiteren werden die Mitgliedskirchen ermutigt, Bildungsstrategien zu entwickeln, die den Abbau von Geschlechtsrollenstereotypen bei Jungen und Mädchen fördern.

F. ruft alle Parteien des bewaffneten Konflikts nachdrücklich auf, sich unverzüglich zu verpflichten, allen Akten sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen in der RDC ein Ende zu setzen;

G. unterstützt die an die kongolesische Regierung (RDC) gerichteten Forderungen nach einem Ende der Straflosigkeit für Vergewaltigung und der Entwicklung einer wirksamen Strategie für das Vorgehen gegen sexuelle Gewalt;

H. ruft die Regierung der RDC nachdrücklich auf, die für sexuelle Gewalt Verantwortlichen vor Gericht zu stellen;

I. ruft die Regierung der RDC nachdrücklich auf, die Sicherheit aller Bürger und Bürgerinnen des Landes zu garantieren und insbesondere Frauen und Mädchen vor allen Formen sexueller Gewalt zu schützen;

J. unterstützt die Empfehlungen der Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen in ihrem Bericht an den UNO-Menschenrechtsrat (Februar 2008), denen zufolge die Regierung der RDC, die UNO – insbesondere die UN-Mission im Kongo – der Internationale Strafgerichtshof und die internationale Gemeinschaft geeignete Schritte unternehmen sollten, um der sexuellen Gewalt gegen Frauen im Land ein Ende zu setzen;

K. ersucht den Generalsekretär der UNO, Richtlinien zu erlassen und Strategien zu entwickeln, welche die UN-Mission im Kongo in die Lage versetzen, unter Einhaltung ihres Mandats Zivilpersonen – und zwar vor allem Frauen und Mädchen, die in Kampfzonen eingeschlossen sind – besser vor allen Formen sexueller Gewalt zu schützen.

 

Das folgende Gebet soll die Kirchen dabei unterstützen, sich für die Anliegen zu engagieren, die in der obigen Erklärung angesprochen sind:

Die ÖRK-Mitgliedskirchen rufen alle Kirchen auf, auch weiterhin zu Gott zu beten, er möge der Gewalt ein Ende machen und die Opfer der Gewalt im Kongo unterstützen mit seiner Macht, die Stärke gibt.

Gott, der du das Leben in seiner ganzen Fülle geschaffen hast, erlöst und erhältst,

zu dir bringen wir die Frauen und Mädchen, denen Gewalt angetan und damit die Freude und die ganze Fülle des Lebens verweigert wurde.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist eine Sünde, die sie der Gerechtigkeit und der Liebe ihrer Mitmenschen beraubt.

Inmitten all dieses Schmerzes und dieser Erniedrigung sind wir der Überzeugung, dass du jedes der misshandelten Mädchen und jede der misshandelten Frauen in deiner Hand birgst, ihren Namen kennst, sie in dein Mitgefühl einhüllst und ihnen die gleiche schützende Liebe schenkst, die deine gesegnete Mutter dir in deinem Menschsein geschenkt hat.

Vergib uns, dass wir im Angesicht solchen Leids geschwiegen haben.

Vergib uns, dass wir unfähig waren, diese Gewalt als Sünde gegen dich und als Verstoβ gegen deinen Willen zu bezeichnen.

Vergib uns, wenn wir religiös-kulturelle, gesellschaftliche und kirchliche Praktiken fortsetzen, die das Leben von Frauen und Mädchen gefährden.

Und wenn du uns vergibst, dann

befähige uns zur Solidarität mit den Frauen und Mädchen, die in Gewalt und Leid eingeschlossen sind.

Mache uns zu Fürsprechern der transformativen Gerechtigkeit, die nach Wahrheit und Versöhnung von Einzelnen und Gemeinschaften sucht.

Wecke in uns den Wunsch nach einer inklusiven Gemeinschaft von Frauen und Männern, die nach deinem Bilde und als Partner in deiner Mission geschaffen wurden.