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Von Bischof Dr. Wolfgang Huber

Vortrag beim EKD-Kongress »Zum Bild Gottes geschaffen. Bioethik in evangelischer Perspektive «, Französische Friedrichstadtkirche zu Berlin, 28./29. Januar 2002. Der Autor ist seit 1994 Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin- Brandenburg. Er ist Mitglied des Rates der EKD und des Nationalen Ethikrates.

Hochrangige Forschungsziele werden in diesen Tagen dafür ins Feld geführt, dass der Weg zur Forschung mit embryonalen Stammzellen freigemacht werden soll. Der Forschungsfreiheit soll ein so hoher Wert zukommen, dass mit ihr auch eine Einschränkung der Menschenwürde oder 56 9/2002 epd-Dokumentation doch eine Abstufung des Lebensschutzes gerechtfertigt werden kann.

Forschungsfreiheit - Menschenwürde - Lebensschutz: drei anspruchsvolle Konzeptionen werden ins Spiel gebracht. Alle drei sind in unserem Land mit grundrechtlichem Schutz ausgestattet.

1.

Die Forschungsfreiheit hat in unserer Verfassungsordnung eine ungewöhnlich starke Stellung. Sie wird nicht, wie beispielsweise die Meinungsfreiheit, durch die allgemeinen Gesetze, die allgemeinen Bestimmungen zum Schutz der Jugend oder die Rechte der persönlichen Ehre eingeschränkt. Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind in diesem Lande schlicht frei. Diese Freiheit entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. Aber sie kann nicht durch ein einfaches Gesetz eingeschränkt werden. Grenzen findet sie an der Würde des Menschen und an den anderen Grundrechten, nicht am einfachen Gesetz. Das hat offenkundig darin seinen Grund, dass unsere Verfassungsordnung die Forschungsfreiheit selbst als einen Ausdruck der Menschenwürde ansieht. Im Drang nach Erkenntnis und im Bemühen um besseres Verstehen äußert sich das Menschsein selbst. Denn es gehört zum Wesen des Menschen, dass er sich zu seiner Welt verhält und sie forschend zu verstehen versucht.

Auch nach evangelischem Verständnis ist dies ein Grundzug menschlicher Existenz. Wenn in der evangelischen Theologie von der »Weltlichkeit der Welt« die Rede ist, so wird damit hervorgehoben: Der Glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat »samt allen Kreaturen«, schließt nicht aus, sondern ein, dass wir uns um das Verstehen dieser von Gott geschaffenen Welt bemühen. Die Unterscheidung zwischen dem unerforschlichen Schöpfer und seiner erforschbaren Schöpfung macht das gerade möglich. Heilig ist Gott, nicht ein ausgegrenzter Bezirk der Welt. Gott würdigt diese Welt, Ort seiner Offenbarung zu sein. Aber die Welt bleibt Welt, Gottes Schöpfung, Gegenstand menschlichen Erkennens. Glaube und Wissenschaft stehen zueinander nicht im Widerspruch. Auch aus der Sicht des Glaubens kann gesagt werden: Wer willkürlich die Forschungsfreiheit einschränken wollte, würde damit die Menschenwürde selbst angreifen.

2.

Doch zugleich gilt: Die Menschenwürde ist ein Maßstab auch für die Forschungsfreiheit. Ein Gebrauch der Freiheit zur Forschung, der die Menschenwürde selbst relativiert oder gar aushöhlt, hebt sich selbst auf. Je exponierter Forschungen sind, desto sorgfältiger ist das zu bedenken. Mit außerordentlichem Pathos sagt das Grundgesetz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Eine Einschränkung dieser unantastbaren Würde ist nicht vorgesehen.

Freilich gehört es auch zu dem hohen Rang der Menschenwürde, dass sie sich der Instrumentalisierung widersetzt. Wer meint, dass jede Einzelfrage unter unmittelbarem Rückgriff auf den Schutz der Menschenwürde gelöst und entschieden werden könne, läuft Gefahr, den Begriff der Menschenwürde zur billigen Münze zu machen. Ungewollt arbeitet er am Ende denen in die Hände, die sagen, der Begriff der Menschenwürde - der sich jeder abschließenden Definition entzieht - sei ohnehin nur eine Leerformel ohne praktische Bedeutung.

Deshalb hat es einen guten Sinn, wenn auf die Menschenwürde einerseits in der Begründung von Menschenrechten und Grundrechten, andererseits im Sinn einer allgemeinen Schrankensetzung Bezug genommen wird. Die Menschenwürde bildet zum einen den Begründungs- und Interpretationshorizont der Menschenrechte und Grundrechte. Und der Schutz der Menschenwürde bildet zugleich eine allgemeine Schranke für alle Ansprüche, über einen Menschen verfügen zu wollen, ihn zum bloßen Instrument zu machen, ihn nur als Mittel zum Zweck zu benutzen. Der Begriff der Menschenwürde steht somit für Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung, in welchen (um es mit einer berühmten Formel Kants zu sagen) die Menschheit in jedem Menschen niemals nur als Mittel, sondern stets zugleich als Zweck in sich selbst anerkannt und geachtet wird. Unverzichtbar ist der Begriff der Menschenwürde in unseren Zusammenhängen im Blick auf die Selbstzwecklichkeit des Menschen.

3.

In seiner begründenden wie in seiner grenzsetzenden Funktion hat der Begriff der Menschenrechte unbedingte Bedeutung; die Menschenwürde gilt als unantastbar. Anders verhält es sich mit epd-Dokumentation 9/2002 57 dem Lebensschutz. Das Grundgesetz respektiert das gleiche Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Aber es fügt hinzu: »In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.« Unsere Verfassungsordnung behauptet keine absolute Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Die Formel von der »Heiligkeit des Lebens « ist ihr fremd.

Fremd ist sie auch dem christlichen Glauben. Das Leben ist ihm wichtig, aber nicht in einem absoluten Sinn. Er rechnet damit, dass es gute Gründe dafür geben kann, das Leben einzusetzen. Jesu Opfertod ist zwar nicht eine Einladung zur Widerholung. Im Gegenteil; Weil Jesus »ein für allemal « starb, ist eine Wiederholung seines Opfers ausgeschlossen. Aber im Einsatz für andere das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, bleibt eine Möglichkeit christlicher Existenz. Beispiele dafür stehen uns allen vor Augen: »Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde«- so sehr dieser Satz aus dem Johannesevangelium (Joh 15,13) missbraucht wurde, so wahr bleibt er doch.

Diese christliche Einsicht spiegelt sich auch in unserer Verfassungsordnung. Sie rechnet mit der Möglichkeit des Eingriffs in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auf Grund eines Gesetzes. Ein solcher Eingriff kann freilich nur dann überhaupt in Betracht kommen, wenn das zur Erhaltung von Leben als unabweisbar nötig erscheint. Notwehr und Nothilfe oder polizeiliches Eingreifen zur Rettung von Leben sind solche Fälle.

Beispiele dafür gibt es auch im Bereich der Medizin. Beim Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen etwa wird Leben gegen Leben abgewogen; das werdende Leben wird geopfert, um das Leben der Mutter zu retten. Solche Abwägungen können in sehr schwieriges Gelände führen; das zeigt sich an der hoch problematischen Praxis der Spätabtreibungen. Davon muss man noch einmal diejenigen Schwangerschaftsabbrüche unterscheiden, die zwar rechtswidrig sind, aber (innerhalb der ersten drei Monate) nach erfolgter Beratung straffrei bleiben. Die neu entflammte Diskussion über den moralischen Status des Embryos wird - bei allen Unterschieden der Problemlage - auch eine neue Diskussion über die ethische Beurteilung des Schwangerschaftskonflikts auslösen müssen.

Die Schlüsselfrage der heutigen Diskussion aber heißt: Können Heilungshoffnungen oder andere hochrangige Forschungsziele eine Einschränkung des Lebensschutzes für Embryonen auf den frühesten Stufen ihrer Entwicklung begründen? Wer so fragt, setzt voraus, dass Embryonen auch auf den frühen Stufen ihrer Entwicklung am Schutz des menschlichen Lebens teilhaben.

Die Gründe dafür will ich hier nicht noch einmal wiederholen. Ich kann mich der Einsicht nicht entziehen, dass jede Grenzsetzung innerhalb der organischen Entwicklung des Embryos oder des Fötus mit einem großen Willkürrisiko behaftet ist, mag die Nidation, der Ausschluss der Mehrlingsbildung, die Entwicklung der neuronalen Strukturen des Gehirns oder ein anderes Kriterium für diese Grenzziehung herangezogen werden. Die ethische Verpflichtung geht dahin, für den Schutz des werdenden menschlichen Lebens eine möglichst willkürarme Grenzsetzung zu Grunde zu legen. Sie ist am ehesten in der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zu finden. Damit ist nicht gesagt, dass der Mensch mit seiner genetischen Ausstattung identisch sei. Die Orientierung an der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle als Beginn für die Schutzwürdigkeit eines menschlichen Lebewesens hat keineswegs einen genetischen Determinismus zur Folge.

4.

Dann aber widerspricht die verbrauchende Embryonenforschung dem Gebot des Lebensschutzes. Kann es dennoch eine Rechtfertigung für sie geben - die dann freilich nur durch Gesetz erfolgen könnte? Nach dem Modell der Notwehr oder der Nothilfe lässt sich eine solche Rechtfertigung nicht konstruieren. Denn in ihr steht individuelles Leben gegen individuelles Leben. Hier aber steht eine allgemeine und ihrer Natur nach ungewisse Hoffnung auf künftige Mittel zur Lebenserhaltung oder Lebensförderung gegen die Bewahrung und Förderung eines individuellen Lebens. Hochrangige Forschungsziele sind aber keine ultima ratio. Nach der Konfliktregel, die hinter den Bestimmungen zum rechtswidrigen, aber straffreien Schwangerschaftsabbruch stehen, lässt sich hier erst recht nicht verfahren. Denn es handelt sich nicht um einen Konflikt zwischen einer Mutter in ihrer konkreten Lebenssituation und dem werdenden Leben. Es stehen vielmehr ein konkretes individuelles Leben und allgemeine Ziele wissenschaftlicher oder therapeutischer Art gegeneinander.

Die allgemeine, ihrem Wesen nach unbestimmte Erwartung, dass hochrangige Forschung auch der Erhaltung des Lebens oder der Förderung von 58 9/2002 epd-Dokumentation Lebensqualität zugute kommen kann, kann den tötenden Eingriff ein individuelles Leben nicht rechtfertigen. Intendierte Forschungsziele enthalten in sich selbst keine ethischen Kriterien für die Vertretbarkeit der gewählten Mittel. Man kann nicht sagen: Je höher das Forschungsziel, desto stärker relativiert sich der Lebensschutz.

Für eine Abstufung des Lebensschutzes argumentieren manche mit einer Umkehrung der Beweislast. Begründungspflichtig ist nach dieser Argumentation nicht, wer den Eingriff in den Lebensschutz vornehmen möchte. Begründungspflichtig ist, wer ihn unterlassen will. Denn er wird mit der Frage konfrontiert, was mit den »überzähligen Embryonen« geschehen soll. Die Antwort, sie sollten der Forschung zugeführt werden, befriedigt nicht, weil auf keinen Fall alle jetzt in der Welt existierenden Embryonen oder Prä-Embryonen zu Forschungszwecken verwendet werden können. Die Aufgabe, sie auf würdige Weise zu »beseitigen«, stellt sich in jedem Fall. Zugleich aber kann man nicht ausschließen, dass die Embryonenforschung, wenn sie erst einmal in Gang gekommen ist, nach neuen, besseren Embryonen verlangen wird. Die gezielte Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken wäre die Folge.

Eine andere Testfrage gegenüber einer restriktiven Haltung heißt, ob man von therapeutischen Möglichkeiten, die durch verbrauchende Embryonenforschung im Ausland erschlossen wurden, Gebrauch machen würde. Antwortet der Gefragte mit »Ja«, muss er sich einen Wertungswiderspruch vorhalten lassen. Antwortet er mit »Nein«, setzt er sich dem Vorwurf aus, dass er gegen das Gebot der Lebenserhaltung, ja im Grunde gegen das Gebot der Nächstenliebe verstößt.

Aber es ist ein Fehlschluss, wenn daraus die Pflicht abgeleitet wird, dem Verbrauch von Embryonen zuzustimmen. Denn damit schließt man nicht etwa vom Sein auf ein Sollen, sondern vom Noch-nicht-sein auf ein Sollen. Auch hier aber gilt: Der Zweck heiligt nicht das Mittel. Das Ziel, neue therapeutische Möglichkeiten zu erschließen, muss mit Mitteln verfolgt werden, die ethisch als vertretbar gelten können. Selbst die Annahme, dass man zur Anwendung therapeutischer Mittel verpflichtet wäre, die auf ethisch illegitime Weise zustande kamen, würde das ethische Urteil über die Mittel selbst nicht verändern.

5. Nun wird geltend gemacht, die Verwendung von bereits existierenden embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken werde von dieser Überlegung nicht berührt. Die Tötungshandlung, durch die der Zugriff auf diese Zellen ermöglicht wurde, liege bereits zurück. Die Zelle als solche sei weder ein möglicher Träger von Menschenwürde noch unterliege sie dem Lebensschutz. Dagegen ist jedoch zu bedenken: Die Nutzung embryonaler Stammzellen, auch wenn sie aus dem Ausland importiert wurden, macht sich eine Tötungshandlung zu Nutze. Zusätzlich aber kann der Gebrauch embryonaler Stammzellen eine Entwicklungsdynamik auslösen, die zur Inanspruchnahme weiterer embryonaler Stammzellen und damit auch zum »Verbrauch« von weiteren Embryonen führt. Kann die Forschung an embryonalen Stammzellen, selbst wenn sie zunächst zeitlich befristet wird, auf verlässliche Weise so eingegrenzt werden, dass die Gefahr der »slippery slope« damit ausgeschlossen ist? Es ist nicht eine unzulässige Dramatisierung, wenn man nach den wahrscheinlichen Szenarien fragt, die sich aus einer Zulassung des Imports von embryonalen Stammzellen ergeben würden.

Hubert Markl, der mit seinen jüngsten Beiträgen zu unserer Thematik viel Aufsehen erregt haben, hat am 24. Dezember 1983 einen Aufsatz veröffentlicht, der unter dem Titel stand: »Die Zukunft ist kein Besitz«. Der Mensch, so sagt Markl, unterscheidet sich vom Tier gerade dadurch, dass er nicht alles machen darf, was er kann. Denn der Mensch folgt Normen, das Tier nimmt Möglichkeiten wahr. Die Freiheit der Forschung, so argumentierte Markl damals, unterliegt drei elementaren Normen: Sie darf sich nicht anmaßen, alles Leben zu zerstören. Sie darf auch nicht große Teile der Biosphäre verwüsten und viele Arten von Lebewesen innerhalb weniger Menschengenerationen vernichten. Sie darf schließlich aber auch nicht die menschliche Fortpflanzung künstlich manipulieren und gezielt in den Bestand und die Vermehrung menschlicher Erbanlagen eingreifen. Der Mensch, so fügte Markl hinzu, beginnt sein Dasein nicht erst dann, wenn er ins standesamtliche Geburtsregister eingetragen wird.

Heute verfügen wir über ganz andere Möglichkeiten als 1983. Aber es bleibt unverändert unsere Pflicht, das menschliche Leben auch in den Stadien zu achten, in denen es noch nicht ins standesamtliche Geburtsregister eingetragen ist.