Religiöse Pluralität und christliches Selbstverständnis

Vorbereitungspapier Nr. 13

 

 

Einführung

Das vorliegende Dokument ist das Ergebnis eines Studienprozesses, der als Antwort auf nachdrückliche Empfehlungen des ÖRK-Zentralausschusses 2002 an die drei Mitarbeiterteams von Glauben und Kirchenverfassung, Interreligiöse Beziehungen und Dialog sowie Mission und Evangelisation und deren Kommissionen oder Beratungsorgane in Gang gesetzt wurde. Die Frage des theologischen Verständnisses religiöser Pluralität hatte oft auf der Tagesordnung des ÖRK gestanden, und in den Jahren 1989 und 1990 konnte ein gewisser Konsens erzielt werden.1 In den letzten Jahren aber war man zu der Ansicht gelangt, dass ein neuer Ansatz in dieser schwierigen und umstrittenen Frage notwendig sei.

Rund 20 Religionswissenschaftler/innen, Missionstheologen/innen und systematische Theologen/innen aus verschiedenen Kontexten und Konfessionen, die mit den drei erwähnten ÖRK-Netzwerken in Arbeitsbeziehungen stehen, kamen im Oktober 2003 zu einer ersten Konsultation in Bossey, Schweiz, zusammen, auf der sie Ideen und Denkanstöße sammelten . Ihre Diskussionen bildeten die Grundlage für ein erstes Dokument, das im März 2004 von einer kleinen Redaktionsgruppe ausgearbeitet wurde. Nach intensiven weiteren Redaktionsarbeiten fand im Oktober 2004, wiederum in Bossey, die abschließende Konsultation statt, auf der das Dokument noch einmal überarbeitet wurde, um dann als Diskussionspapier weite Verbreitung zu finden.

Das Dokument ist das Ergebnis guter Zusammenarbeit zwischen Theologen/innen, die an der Arbeit von Glauben und Kirchenverfassung, Interreligiöse Beziehungen und Mission und Evangelisation beteiligt sind. Eine solche Zusammenarbeit darf in der jüngsten Geschichte der ökumenischen Bewegung als quasi einmalig bezeichnet werden.

Es muss jedoch betont werden, dass das Papier bislang keinem Leitungs- oder beratenden Organ des ÖRK vorgelegt worden ist und dass es keine Position wiedergibt, die von der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, der Kommission für Weltmission und Evangelisation oder der Referenzgruppe für Interreligiöse Beziehungen und Dialog offiziell angenommen worden wäre. Es soll vielmehr als Diskussionspapier dienen und erhebt nicht den Anspruch, eine abschließende oder ökumenisch akzeptierte Position in der Frage des christlichen Selbstverständnisses in einer religiös pluralistischen Welt zum Ausdruck zu bringen.

Die drei Programmmitarbeiter/innen, die den Prozess begleitet haben:

Jacques Matthey
Mission und Evangelisation

Hans Ucko
Interreligiöse Beziehungen und Dialog

Kersten Storch
Glauben und Kirchenverfassung

Religiöse Pluralität und christliches Selbstverständnis

 

Schlussfassung

Präambel

"Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen" (Ps 24,1).

"Denn vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergang ist mein Name herrlich unter den Heiden, und an allen Orten wird meinem Namen geopfert und ein reines Opfer dargebracht; denn mein Name ist herrlich unter den Heiden, spricht der Herr Zebaoth" (Mal 1,11).

"Petrus aber tat seinen Mund auf und sprach: Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht; sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm." (Apg 10,34-35).

1. Welche Bedeutung haben die Erfahrungen des Psalmisten, des Propheten und des Petrus für uns heute? Was bedeutet es, unseren Glauben an Jesus Christus voller Freude zu verkünden und dennoch zu versuchen, Gottes Gegenwart und Wirken in der Welt zu erkennen? Wie verstehen wir solche Aussagen in einer religiös pluralistischen Welt?

I. Pluralität als Herausforderung

2. Christen leben heute in fast allen Teilen der Welt in religiös pluralistischen Gesellschaften. Die religiöse Pluralität bestimmt ihr tägliches Leben und zwingt sie, Menschen anderer religiöser Traditionen mit neuen Augen zu sehen und angemessene Beziehungen zu ihnen zu entwickeln. Die an vielen Orten zu beobachtende Zunahme von religiösem Extremismus und Militanz lässt interreligiöse Beziehungen immer wichtiger werden. Religiöse Identitäten, Bindungen und Gefühle sind in so vielen internationalen und interethnischen Konflikten zu bedeutsamen Komponenten geworden, dass es bisweilen heißt, die "Politik der Ideologien", die im 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle gespielt hat, sei in unserer Zeit durch eine "Politik der Identität" ersetzt worden.

3. Alle religiösen Gemeinschaften werden durch neue Begegnungen und Beziehungen verändert. Die Globalisierung des politischen, wirtschaftlichen und sogar religiösen Lebens übt auf Gemeinschaften, die zuvor in geographischer oder gesellschaftlicher Isolation gelebt haben, ganz neue Formen des Drucks aus. Das Bewusstsein von der Interdependenz menschlichen Lebens und der Notwendigkeit, sich über religiöse Grenzen hinweg gemeinsam mit den drängenden Problemen der Welt zu befassen, ist gestiegen. Alle religiösen Traditionen stehen daher vor der Herausforderung, ihren Beitrag zur Entstehung einer globalen Gemeinschaft zu leisten, deren Mitglieder in gegenseitiger Achtung und Frieden miteinander leben. Es geht hier um die Glaubwürdigkeit religiöser Traditionen als Kräfte, die einer gebrochenen Welt Gerechtigkeit, Frieden und Heilung bringen können.

4. Die meisten religiösen Traditionen haben jedoch ihre eigene Geschichte, in der sie Kompromisse mit politischen Machthabern eingegangen sind und Mitschuld an der Gewalt tragen, die die Geschichte der Menschheit so unheilvoll geprägt hat. So hat das Christentum der Welt z.B. einerseits die Botschaft von Gottes bedingungsloser Liebe und Annahme aller Menschen gebracht. Andererseits ist seine Geschichte unglückseligerweise auch mit Verfolgungen, Kreuzzügen, mangelnder Sensibilität gegenüber indigenen Kulturen und der Komplizenschaft mit imperialistischen und kolonialistischen Vorhaben verknüpft gewesen. De facto sind diese Ambivalenz und jene Kompromisse mit Macht und Privilegien Teil aller religiösen Traditionen und mahnen uns, diese nicht romantisch zu verklären. Des Weiteren weisen die meisten religiösen Traditionen eine sehr große interne Vielfalt auf, die mit schmerzlichen Spaltungen und Auseinandersetzungen verbunden ist.

5. Heute müssen diese religionsinternen Konflikte im Blick auf die Notwendigkeit gesehen werden, das gegenseitige Verständnis und das friedliche Zusammenleben der Religionen zu stärken. Angesichts der wachsenden Polarisierung von Gemeinschaften, des weit verbreiteten Klimas der Angst und der Kultur der Gewalt, die unsere Welt im Griff hat, besteht die größte Herausforderung für die religiösen Traditionen darin, ihrem Auftrag, der zerbrochenen menschlichen Gemeinschaft Heilung und Ganzheit zu bringen, gerecht zu werden.

Der sich wandelnde Kontext des christlichen Glaubens

6. Die globale religiöse Landschaft ist ebenfalls im Wandel begriffen. In einigen Teilen der westlichen Welt verlieren die institutionellen Ausdrucksformen des Christentums an Bedeutung. Es zeichnen sich neue Formen religiöser Bindungen ab, da die Menschen ihren persönlichen Glauben zunehmend von ihrer Zugehörigkeit zu einer Kirche als Institution trennen. Die Suche nach authentischer Spiritualität inmitten säkularer Lebensformen stellt die Kirchen vor neue Herausforderungen. Darüber hinaus empfinden Angehörige anderer Traditionen, wie Hindus, Muslime, Buddhisten, Sikhs usw., die die entstandene Lücke zunehmend füllen, als Minderheiten häufig das Bedürfnis, in Dialog mit der Mehrheitsgemeinschaft zu treten. Dies fordert Christen dazu heraus, ihren Glauben so zu formulieren, dass sie sich selbst darüber klar werden, was ihnen wichtig daran ist, und dies auch ihren Gesprächspartnern zu vermitteln; Dialog setzt sowohl das verbindliche Bekenntnis zum eigenen Glauben als auch die Fähigkeit voraus, diesen Glauben in Wort und Tat mitzuteilen.

7. Zugleich verzeichnet das Christentum, insbesondere in seinen evangelikalen und pfingstlichen Ausdrucksformen, in einigen Regionen der Welt ein rapides Wachstum. In einigen der anderen Regionen unterliegt es radikalen Veränderungen, da Christen sich neuen, dynamischeren Formen kirchlichen Lebens zuwenden und in neue Beziehungen mit indigenen Kulturen treten. Während das Christentum also in einigen Teilen der Welt im Rückgang zu sein scheint, hat es sich in anderen zu einer überaus dynamischen Kraft entwickelt.

8. Diese Veränderungen machen es notwendig, dass wir unseren Beziehungen zu anderen religiösen Gemeinschaften mehr Aufmerksamkeit schenken als zuvor. Sie fordern uns dazu heraus, "Andere" in ihrem Anderssein zu akzeptieren, Fremde willkommen zu heißen, selbst wenn ihre "Fremdartigkeit" uns manchmal bedrohlich erscheint, und sogar Versöhnung mit denen anzustreben, die sich als unsere Feinde bezeichnen. Mit anderen Worten, wir stehen vor der Herausforderung, ein geistliches Klima und einen theologischen Ansatz zu entwickeln, die einen Beitrag zur Schaffung kreativer und konstruktiver Beziehungen unter den religiösen Traditionen der Welt leisten.

9. Die kulturellen und lehrmäßigen Unterschiede zwischen den verschiedenen religiösen Traditionen haben den interreligiösen Dialog jedoch immer erschwert. Dies wird heute durch die Spannungen und Feindseligkeiten verschärft, die durch globale Konflikte und gegenseitige Verdächtigungen und Ängste hervorgerufen werden. Des Weiteren hält sich der Eindruck, dass Christen den Dialog lediglich als neues Instrument ihrer Mission benutzen, und die kontroversen Diskussionen über "Bekehrung" und "Religionsfreiheit" dauern weiter an. Daher haben Dialog, Versöhnung und friedensstiftende Maßnahmen über Religionsgrenzen hinweg eine neue Dringlichkeit erhalten. Doch können sie nie nur mit Hilfe einzelner Veranstaltungen oder Programme verwirklicht werden. Sie setzen einen langen und schwierigen Prozess voraus, der von Glaube, Mut und Hoffnung getragen sein muss.

Pastorale und glaubensbezogene Dimensionen des interreligiösen Dialogs

10. Es besteht die Notwendigkeit, Christen, die in einer religiös pluralistischen Welt leben, seelsorgerlich zuzurüsten. Viele Christen suchen nach Wegen, wie sie ihren eigenen Glauben verbindlich leben und doch offen gegenüber anderen sein können. Einige praktizieren spirituelle Disziplinen anderer religiöser Traditionen, um ihren christlichen Glauben und ihr Gebetsleben zu vertiefen. Wieder andere finden in anderen religiösen Traditionen eine zusätzliche geistliche Heimat und sprechen von der Möglichkeit einer "doppelten Zugehörigkeit". Viele Christen bitten um Rat in der Frage interreligiöser Ehen, des Aufrufs zum gemeinsamen Gebet mit anderen und des adäquaten Umgangs mit Phänomenen von Militanz und Extremismus. Andere ersuchen um Rat für ihre Zusammenarbeit mit Nachbarn anderer religiöser Traditionen in Fragen der Gerechtigkeit und des Friedens. Religiöse Pluralität und ihre Folgen haben heute Auswirkungen auf unser tagtägliches Leben.

11. Als Christen versuchen wir, neue Beziehungen zu anderen religiösen Traditionen aufzubauen, weil wir glauben, dass dies integraler Bestandteil sowohl der Botschaft des Evangeliums als auch unserer Mission als Mitarbeiter/innen Gottes bei der Heilung der Welt ist. Das Geheimnis der Beziehung Gottes zu allen Menschen und die vielfältigen Antworten, die die Völker der Welt auf dieses Geheimnis gegeben haben, laden uns daher ein, uns intensiver mit der Wirklichkeit anderer religiöser Traditionen und unserer eigenen Identität als Christen in einer religiös pluralistischen Welt zu befassen.

II. Religiöse Traditionen als spirituelle Wege

Der christliche Weg

12. Religiöse Traditionen werden häufig auch als "spirituelle Wege" bezeichnet. Der spirituelle Weg des Christentums hat seine Entwicklung zu einer religiösen Tradition bereichert und geprägt. Es entstand in einer vorwiegend jüdisch-hellenistischen Kultur. Die Christen haben am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, "Fremde", eine verfolgte Minderheit zu sein, die inmitten mächtiger Religionen und Kulturen darum kämpfte, ihre eigene Identität zu finden. Und als das Christentum zu einer Weltreligion heranwuchs, bildeten sich unterschiedliche Strömungen heraus und es wurde durch die vielen Kulturen, mit denen es in Berührung kam, verwandelt.

13. Im Osten standen die orthodoxen Kirchen im Verlauf ihrer ganzen Geschichte in einem komplexen Prozess kultureller Verflechtung und Abgrenzung; über die Jahrhunderte hinweg bewahrten und überlieferten sie den orthodoxen Glauben durch die Integration ausgewählter kultureller Elemente. Andererseits haben die orthodoxen Kirchen auch darum gerungen, der Versuchung des Synkretismus zu widerstehen. Im Westen übernahm das Christentum, als es sich zur Mehrheitsreligion eines mächtigen Reiches entwickelt hatte, zeitweilig die Rolle des Verfolgers. Es wurde auch zur "gastgebenden Kultur", die die europäische Kultur in vielfältiger Weise positiv geprägt hat. Gleichzeitig blickt es in seinen Beziehungen zum Judentum, Islam und indigenen Traditionen auf eine unrühmliche Geschichte zurück.

14. Die Reformation, in deren Gefolge der Protestantismus mit seiner Vielzahl von Konfessionen und Denominationen entstand, verwandelte das äußere Erscheinungsbild des westlichen Christentums, während die Aufklärung mit der Entstehung der Moderne, der Säkularisation, des Individualismus und der Trennung von Kirche und Staat eine kulturelle Revolution bewirkte. Die missionarische Expansion in Asien, Afrika, Lateinamerika und anderen Teilen der Welt warf Fragen zur Indigenisierung und Inkulturation des Evangeliums auf. Die Begegnung mit dem reichen spirituellen Erbe der asiatischen Religionen und der traditionellen afrikanischen Religionen führte zur Entstehung theologischer Traditionen, die auf dem kulturellen und religiösen Erbe dieser Regionen basieren. Der Aufstieg charismatisch und pfingstlich orientierter Kirchen in allen Teilen der Welt hat dem Christentum noch eine neue Dimension hinzugefügt.

15. Zusammengefasst kann man sagen, dass der "geistliche Weg" des Christentums dieses zu einer sehr komplexen weltweiten religiösen Tradition hat werden lassen. Das Christentum wird sich im Bemühen, inmitten unterschiedlicher Kulturen, Religionen und philosophischen Traditionen zu leben und Antworten auf gegenwärtige und künftige Herausforderungen zu geben, auch in Zukunft weiter verändern. In diesem Kontext - dem Kontext eines Christentums, das dem Wandel unterworfen war und ist, - ist es erforderlich, eine theologische Antwort auf den religiösen Pluralismus zu geben.

Religionen, Identitäten und Kulturen

16. Auch andere religiöse Traditionen haben in ihrer Entwicklung vor ähnlichen Herausforderungen gestanden. So gibt es nicht nur eine Ausdrucksform des Judentums, des Islam, des Hinduismus, des Buddhismus etc.. Sobald diese Religionen über ihr jeweiliges Ursprungsland hinausgewachsen sind, sind sie durch die Begegnung mit anderen Kulturen geprägt worden, haben sie verändert und sind durch sie verändert worden. Die meisten der heutigen großen religiösen Traditionen haben die Erfahrung gemacht, "gastgebende Kultur" für andere religiöse Traditionen zu sein bzw. ihrerseits in von anderen Religionen geprägten "Gastkulturen" aufgenommen zu werden. Das bedeutet, dass die Identität von Religionsgemeinschaften und ihren einzelnen Mitgliedern nie statisch, sondern fließend und dynamisch ist. Keine Religion bleibt völlig unberührt von ihrer Interaktion mit anderen religiösen Traditionen. Es geht immer mehr an der Realität vorbei, von "Religionen" als solchen, vom "Judentum", "Christentum", "Islam", "Hinduismus", "Buddhismus" etc. zu sprechen, als wären es statische, homogene Gebilde.

17. Diese Tatsache wirft mehrere geistliche und theologische Fragen auf. Welche Beziehung besteht zwischen "Religion" und "Kultur"? Welcher Art ist der Einfluss, den sie aufeinander ausüben? Wie können wir religiöse Pluralität theologisch deuten? Welche Möglichkeiten bietet uns unsere eigene Tradition, um angemessen mit diesen Fragen umzugehen? Das reiche Erbe der modernen ökumenischen Bewegung, die sich intensiv mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat, kann uns bei unseren Untersuchungen helfen.

III. Fortführung der laufenden Diskussion

Der ökumenische Weg

18. Seit der Zeit der Urgemeinde glauben die Christen daran, dass die Botschaft von Gottes Liebe, die in Jesus Christus Ausdruck gefunden hat, mit anderen Menschen geteilt werden muss. Aber gerade die Verkündigung dieser Botschaft hat, insbesondere in Asien und Afrika, die moderne ökumenische Bewegung mit der Frage nach Gottes Gegenwart unter Menschen anderer religiöser Traditionen konfrontiert. Hat Gott sich in anderen Religionen und Kulturen offenbart? Steht die christliche Offenbarung in "Kontinuität" mit dem religiösen Leben anderer oder handelt es sich um eine "Diskontinuität", die uns eine völlig neue Dimension des "Wissens von Gott" eröffnet? Dies sind schwierige Fragen, die nach wie vor zu Spaltungen zwischen Christen führen.

19. Das Dialogprogramm des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) hat stets betont, wie wichtig es ist, die Realität anderer religiöser Traditionen zu respektieren und deren Besonderheit und Identität anzuerkennen. Es hat auch immer wieder die Notwendigkeit hervorgehoben, sich gemeinsam mit anderen für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt einzusetzen. Das Dialogprogramm hat ferner unser Bewusstsein dafür geschärft, dass die Art und Weise, in der wir über unsere und andere religiöse Traditionen sprechen, zu Konfrontationen und Konflikten führen kann. Einerseits erheben religiöse Traditionen den Anspruch, universale Wahrheiten zu verkünden. Andererseits bedeutet dies, dass der Wahrheitsanspruch der einen Religion mit dem anderer Religionen kollidieren kann. All diese Erkenntnisse sowie konkrete Erfahrungen des Zusammenlebens mit Menschen anderer Religionen auf lokaler Ebene haben dazu geführt, dass Christen von ihren Beziehungen mit anderen als "Dialog" sprechen. Doch müssen hier noch viele Fragen geklärt werden. Was bedeutet Dialog, wenn die betroffenen Gemeinschaften im Konflikt miteinander stehen? Wie sollen wir mit dem Konflikt umgehen, der für einige zwischen Bekehrung und Religionsfreiheit besteht? Wie gehen wir mit den zutiefst unterschiedlichen Einstellungen der verschiedenen Religionsgemeinschaften zu den Beziehungen zwischen Religion und ethnischer Zugehörigkeit, kulturellen Praktiken und Staat um?

20. Die Kommission für Weltmission und Evangelisation (CWME) des ÖRK ging in ihren Diskussionen über das Wesen des Missionsauftrags und seine Implikationen in einer Welt unterschiedlicher Religionen, Kulturen und Ideologien vom Konzept der missio Dei aus, Gottes eigener heilbringender Mission in der Welt, die selbst dem menschlichen Zeugnis vorausgeht und an der wir in Christus berufen sind teilzuhaben. Auf der Tagesordnung der CWME stehen mehrere Fragen, die mit der vorliegenden Studie über religiöse Pluralität zu tun haben: Welche Beziehung besteht zwischen der praktischen Zusammenarbeit mit Menschen anderer religiöser Traditionen (im Engagement für Gerechtigkeit und Frieden), der Beteiligung am interreligiösen Dialog und dem Evangelisationsauftrag der Kirche? Welche Folgen ergeben sich aus der inneren Beziehung zwischen Kulturen und Religionen für den Inkulturationsansatz in der Mission? Was bedeutet es für die interreligiösen Beziehungen, wenn die Mission sich, wie die Konferenz für Weltmission und Evangelisation 2005 nahe legt, auf den Aufbau heilender und versöhnender Gemeinschaften konzentriert?

21. Das Plenum der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK, das 2004 zum ersten Mal in einem mehrheitlich muslimischen Land (in Kuala Lumpur, Malaysia) tagte, sprach von der "Reise des Glaubens", der "gemeinsamen Pilgerschaft" als einem Weg, der von der Vision der "gegenseitigen Annahme" inspiriert ist. Die Kommission stellte die Frage: Wie verfolgen die Kirchen das Ziel sichtbarer christlicher Einheit in der heutigen zunehmend multireligiösen Welt? Wie kann das Streben nach sichtbarer Einheit unter den Kirchen ein effektives Zeichen für die Versöhnung der Gesellschaft als Ganzer sein? In welchem Ausmaß werden Fragen ethnischer und nationaler Identität von religiöser Identität beeinflusst und umgekehrt? Die Kommission untersuchte auch weitere wichtige Fragen, die sich in multireligiösen Kontexten stellen: mit welchen Herausforderungen sind Christen in ihrer Formulierung einer authentischen christlichen Theologie konfrontiert, die andere annimmt und aufnimmt? Wo liegen die Grenzen der Vielfalt? Gibt es zuverlässige Zeichen des Heils außerhalb der Kirche? Welchen Beitrag leisten Erkenntnisse anderer Traditionen zu unserem Verständnis vom Menschsein?

22. Es ist bedeutsam, dass alle drei Programmbereiche des ÖRK gleichermaßen Fragen behandeln, die für eine Theologie der Religionen wichtig sind. So hat es in jüngster Zeit Konferenzen gegeben, auf denen sie den Versuch unternommen haben, das Thema zu sondieren und Stellungnahmen auszuarbeiten, die die Diskussionen vorwärts bringen könnten.

Jüngste Entwicklungen

23. In ihrem Bemühen um christlichen Konsens in der Frage von Gottes Heil bringender Gegenwart im Leben von Menschen anderer Religionen fasste die Weltmissionskonferenz in San Antonio (1989) die Position zusammen, die der ÖRK gemeinsam vertreten kann: "Wir kennen keinen anderen Weg zum Heil als Jesus Christus; zugleich aber können wir dem Heilswirken Gottes keine Grenzen setzen." Sie erkannte an, dass zwischen dieser Aussage und der Bejahung von Gottes Gegenwart und Wirken im Leben von Menschen anderer Glaubenstraditionen eine Spannung besteht, und so heißt es im Bericht von San Antonio: "Wir schätzen diese Spannung und versuchen nicht, sie zu lösen".

Die Frage, die sich im Anschluss an die Konferenz stellte, lautete, ob die ökumenische Bewegung sich mit diesen maßvollen Worten als Ausdruck theologischer Demut zufrieden geben oder ob sie sich mit der darin enthaltenen Spannung auseinandersetzen und neue, kreative Aussagen zu einer Theologie der Religionen machen sollte.

24. 1990 unternahm der ÖRK auf einer Konsultation zur Theologie der Religionen in Baar, Schweiz, den Versuch, über San Antonio hinauszugehen, und arbeitete eine wichtige Erklärung aus, in der er klar zum Ausdruck brachte, was der christliche Glaube, dass Gott als Schöpfer und Erhalter im religiösen Leben aller Völker gegenwärtig ist, impliziert: "Diese Überzeugung, dass Gott als der Schöpfer aller Dinge in der Pluralität der Religionen gegenwärtig und aktiv ist, macht es für uns unvorstellbar, dass Gottes Heilshandeln auf irgendeinen Kontinent, Kulturkreis oder Gruppe von Menschen begrenzt werden könnte. Die Weigerung, die vielen und verschiedenartigen religiösen Zeugnisse ernst zu nehmen, die unter den Nationen und Völkern der ganzen Welt gefunden werden, läuft darauf hinaus, das biblische Zeugnis von Gott als dem Schöpfer aller Dinge und dem Vater des Menschengeschlechts zu verleugnen."

25. Die Erklärungen von Mission und Evangelisation, Glauben und Kirchenverfassung und Interreligiösem Dialog haben sich somit weiterentwickelt, so dass wir uns ermutigt fühlen, uns neu mit der Frage der Theologie der Religionen zu befassen. Eine solche Neubesinnung ist heute aus theologischer und seelsorgerlicher Sicht dringend geboten. Das Thema der Neunten ÖRK-Vollversammlung "In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt" ruft ebenfalls zu einer solchen Reflexion auf.

IV. Auf dem Weg zu einer Theologie der Religionen

26. Wie sollte eine Theologie der Religionen heute aussehen? Es hat bereits viele Vorschläge dazu gegeben und in der Heiligen Schrift gibt es zahlreiche Ansätze, die unsere Aufgabe zu einer Herausforderung werden lassen. Zwar erkennen wir die Vielfalt des biblischen Zeugnisses an, haben jedoch für den Einstieg in unsere Diskussion und als hermeneutischen Schlüssel das Thema der "Gastfreundschaft" gewählt.

Die "Gastfreundschaft" eines gnädigen Gottes

27. Unser theologisches Verständnis von religiöser Pluralität setzt bei unserem Glauben an den einen Gott an, der alles erschaffen hat, den lebendigen Gott, der von allem Anfang an in der ganzen Schöpfung gegenwärtig und aktiv war. Die Bibel bezeugt Gott als Gott aller Nationen und Völker, dessen Liebe und Barmherzigkeit die ganze Menschheit umfasst. Wir sehen im Bund mit Noah einen Bund mit der ganzen Schöpfung, den Gott nie gebrochen hat. In der Weise, wie er Nationen durch ihre Traditionen der Weisheit und des Verstehens leitet, erkennen wir seine Weisheit und Gerechtigkeit, die sich bis an die Enden der Erde ausbreitet. Gottes Herrlichkeit erfüllt die ganze Schöpfung. Die hebräische Bibel legt Zeugnis vom universalen Heilshandeln und der Gegenwart Gottes in der ganzen Menschheitsgeschichte durch das Wort oder die Weisheit und den Geist ab.

28. Wenn Paulus sich im Neuen Testament auf die Fleischwerdung des Wortes Gottes bezieht, so spricht er von Gastfreundschaft und einem Leben für "Andere". In Form einer Doxologie verkündet er: "Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz" (Phil 2,6-8). Der sich selbst entäußernde Christus und seine Bereitschaft, unser Menschsein anzunehmen, ist die innere Mitte unseres Glaubensbekenntnisses. Das Geheimnis der Fleischwerdung Gottes stellt Gottes tiefste Identifikation mit unserer "conditio humana" dar und bringt die bedingungslose Gnade Gottes zum Ausdruck, mit der er die Menschheit in ihrem Anderssein und ihrer Entfremdung angenommen hat. Paulus fährt in seiner Doxologie mit dem Lobpreis des auferstandenen Christus fort: "Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist" (Phil 2,9). Diese Aussage hat die Christen dazu geführt, Jesus Christus als den Einen zu bekennen, in dem die ganze Menschheitsfamilie mit Gott in einem unwiderruflichen Bund vereint wurde.

29. Diese in Jesus Christus offenbarte Gnade Gottes ruft uns in unserer Beziehung zu anderen zu einer Haltung der Gastfreundschaft auf. Paulus leitet den Lobpreis mit folgenden Worten ein: "Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Jesus Christus entspricht" (Phil 2,5). Unsere Gastfreundschaft erfordert Selbstentäußerung. Indem wir andere in bedingungsloser Liebe annehmen, haben wir Teil am Grundmuster von Gottes erlösender Liebe. Unsere Gastfreundschaft gilt nicht nur denen, die unserer eigenen Gemeinschaft angehören; das Evangelium gebietet uns vielmehr, sogar unsere Feinde zu lieben und Gottes Segen für sie zu erbitten (Mt 5,43-48; Röm 12,14). Als Christen müssen wir daher das richtige Gleichgewicht zwischen unserer Identität in Christus und unserer Offenheit gegenüber anderen finden, die in einer sich selbst entäußernden Liebe zum Ausdruck kommt, - einer Liebe, die eben aus unserer Identität in Christus erwächst.

30. Während seines öffentlichen Wirkens heilte Jesus nicht nur Menschen, die seiner eigenen Tradition angehörten, sondern er reagierte auch positiv auf den tiefen Glauben der kanaanäischen Frau und des römischen Hauptmanns (Mt 15,21-28; 8,5-11). Jesus wählte einen "Fremden", den Samariter, um zu zeigen, dass die Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe Barmherzigkeit und Gastfreundschaft voraussetzt. Da die Evangelien Jesu Begegnung mit andersgläubigen Menschen als zufällig und nicht als Teil seiner zentralen Mission darstellen, liefern diese Geschichten uns nicht die nötigen Informationen, um klare Schlussfolgerungen im Blick auf eine Theologie der Religionen zu ziehen. Allerdings kennzeichnen sie Jesus als jemanden, der alle, denen es an Liebe und Akzeptanz fehlte, annahm. Das Gleichnis Jesu vom Weltgericht, das uns im Matthäusevangelium überliefert wird, geht noch einen Schritt weiter, indem es Offenheit gegenüber den Opfern der Gesellschaft, Gastfreundschaft gegenüber Fremden und die Annahme des Anderen als unerwartete Ausdrucksformen der Gemeinschaft mit dem auferstandenen Christus darstellt (Mt 25,31-46).

31. Es ist bedeutsam, dass Jesu Gastfreundschaft zwar Menschen am Rand der Gesellschaft galt, dass er selbst jedoch Ablehnung erfuhr und häufig auf die Gastfreundschaft anderer angewiesen war. Die Tatsache, dass Jesus sich Ausgegrenzten zuwandte und gleichzeitig selbst die Erfahrung machte, ausgegrenzt zu werden, dient als Quelle der Inspiration für Menschen, die in unserer heutigen Zeit Solidarität mit den Armen, Verachteten und Ausgeschlossenen der Gesellschaft zeigen. So geht das biblische Verständnis von Gastfreundschaft weit über die gängige Vorstellung von Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit gegenüber anderen hinaus. Die Bibel versteht Gastfreundschaft hauptsächlich als radikale Offenheit gegenüber anderen, die auf dem Bekenntnis zur Würde aller Menschen beruht. Jesu Beispiel und sein Gebot der Nächstenliebe dienen uns dabei als Quelle der Inspiration.

32. Der Heilige Geist hilft uns, Christi Offenheit gegenüber anderen in unserem eigenen Leben zu leben. Die Person des Heiligen Geistes schwebte und schwebt immer noch über dem Angesicht der Erde, um zu erschaffen, zu erbauen und zu bewahren, herauszufordern, zu erneuern und zu verwandeln. Wir bekennen, dass das Wirken des Geistes unsere Definitionen, Beschreibungen und Begrenzungen übersteigt, wie der Wind, der "bläst, wo er will" (Joh 3,8). Unsere Hoffnungen und Erwartungen wurzeln in unserem Glauben, dass die "Ökonomie" des Geistes die ganze Schöpfung umfasst. Wir erkennen, dass der Geist Gottes in einer Weise wirkt, die wir nicht vorhersagen können. Wir sehen, wie die Kraft des Heiligen Geistes in den Menschen wirksam ist, sie erbaut und in ihrem universalen Verlangen und Streben nach Wahrheit, Frieden und Gerechtigkeit (Röm 8,18-27) inspiriert. "Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit", wo immer sie auch zum Ausdruck kommen, sind die Frucht des Geistes (Gal 5, 22-23; vgl. Röm 14,17).

33. Wir glauben, dass dieses umfassende Wirken des Heiligen Geistes auch im Leben und in den Traditionen von Völkern anderer Religionen gegenwärtig ist. Die Menschen haben zu allen Zeiten und an allen Orten auf die Gegenwart und das Wirken Gottes unter ihnen eine Antwort gegeben und Zeugnis von ihren Begegnungen mit dem lebendigen Gott abgelegt. In ihrem Zeugnis geht es sowohl um das Suchen als auch das Finden von Ganzheit, Erleuchtung, göttlicher Wegweisung, innerer Ruhe oder Befreiung. Dies ist der Kontext, in dem wir als Christen Zeugnis von dem Heil ablegen, das wir in Christus erfahren haben. Dieser Dienst des Zeugnisses unter unseren Nächsten anderer Religionszugehörigkeit muss ein "Zeichen dafür (sein), was Gott unter ihnen getan hat und weiterhin tut" (San Antonio 1989).

34. Wir sehen die Pluralität religiöser Traditionen sowohl als Ergebnis der mannigfaltigen Wege, in denen Gott sich Völkern und Nationen mitgeteilt hat, als auch als eine Manifestation des Reichtums und der Vielfalt der Antwort des Menschen auf Gottes Gnadengaben. Unser christlicher Glaube an Gott fordert uns heraus, den ganzen Bereich religiöser Pluralität ernst zu nehmen und stets die Gabe der kritischen Unterscheidung anzuwenden. Wir müssen versuchen, "die Weisheit, Liebe und Kraft, die Gott den Menschen anderer Religionen gegeben hat" (Bericht aus Neu Delhi, 1961), in neuer und tieferer Weise zu verstehen, und "offen für die Möglichkeit (zu sein), dass der Gott, den wir in Jesus Christus kennen, uns auch im Leben unserer Nächsten anderen Glaubens begegnen kann" (San Antonio 1989, § 29). Wir glauben auch, dass der Heilige Geist, der Geist der Wahrheit, uns leiten wird, damit wir es lernen, den Schatz des Glaubens, der uns bereits gegeben wurde, neu zu verstehen, und durch die Bereitschaft, von unseren Nachbarn anderer Religionen zu lernen, zu neuen und unerwarteten Einsichten in das göttliche Geheimnis gelangen.

35. Es ist also unser Glaube an den dreieinigen Gott - den Gott, der Vielfalt in Einheit ist, der erschafft, Ganzheit bringt und alles Leben erbaut und nährt, - der uns hilft, allen Menschen mit Gastfreundschaft und Offenheit zu begegnen. Wir haben Gottes großmütige Gastfreundschaft der Liebe empfangen. Wir können nicht anders darauf antworten.

V. Aufruf zur Gastfreundschaft

36. Wie sollten Christen angesichts der Großmut und Gnade Gottes reagieren? "Gastfrei zu sein, vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt"2 (Hebr 13,2). Im Kontext der heutigen Welt bedeutet Gastfreundschaft gegenüber Fremden nicht nur, dass wir Menschen aufnehmen, die wir nicht kennen, die arm und ausgebeutet sind; mit Fremden sind auch Menschen gemeint, die hinsichtlich ihrer ethnischen, kulturellen und religiösen Zugehörigkeit "anders" sind als wir. Das Wort "Fremde" in der Bibel will den "Anderen" nicht objektivieren, sondern erkennt an, dass es Menschen gibt, die uns im Blick auf ihre Kultur, Religion, Rasse und andere Formen menschlicher Vielfalt tatsächlich "fremd" sind. Unsere Bereitschaft, andere in ihrem "Anderssein" zu akzeptieren, ist das Markenzeichen wahrer Gastfreundschaft. Durch unsere Offenheit gegenüber dem "Anderen" können wir Gott in neuer Weise begegnen. Gastfreundschaft beinhaltet damit sowohl die Erfüllung des Gebots, "unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst", als auch die Möglichkeit, Gott neu zu entdecken.

37. Zur Gastfreundschaft gehört auch unser Umgang miteinander innerhalb der christlichen Familie; manchmal sind wir uns in unserer Gemeinschaft genauso fremd wie uns Menschen sind, die außerhalb unserer Gemeinschaft stehen. Aufgrund des sich verändernden Weltkontextes, insbesondere der steigenden Mobilität und Migrationsbewegungen, sind wir mal "Gastgeber" für andere, mal "Gäste", die die Gastfreundschaft anderer empfangen; mal nehmen wir "Fremde" auf, mal sind wir selbst "Fremde" bei anderen. Es wäre daher vielleicht angebracht, zu einem Verständnis von Gastfreundschaft als "Offenheit füreinander" zu gelangen, das die Unterscheidung zwischen "Gastgebern" und "Gästen" überwindet.

38. Gastfreundschaft ist nicht nur eine einfache, leichte Art des Umgangs mit anderen. Sie stellt häufig nicht nur eine gute Gelegenheit, sondern auch ein Risiko dar. In Situationen politischer oder religiöser Spannungen können Akte der Gastfreundschaft großen Mut erfordern, besonders wenn sie denen gelten, mit denen wir zutiefst uneins sind oder die uns sogar als ihre Feinde betrachten. Auch wenn es ein Ungleichgewicht, verzerrte Machtbeziehungen oder unausgesprochene Probleme unter den Beteiligten gibt, erweist sich der Dialog als sehr schwierig. Mitunter sieht man sich vielleicht auch gezwungen, die tiefen Überzeugungen derer zu hinterfragen, die unsere Gastfreundschaft empfangen bzw. uns ihre Gastfreundschaft geschenkt haben, und mitunter werden unsere eigenen Überzeugungen im Gegenzug in Frage gestellt.

Die Kraft der gegenseitigen Verwandlung

39. Die Christen haben es nicht nur gelernt, mit Menschen anderer religiöser Traditionen zusammenzuleben, sondern sind durch diese Begegnungen auch verwandelt worden. Wir haben uns zuvor unbekannte Aspekte der Gegenwart Gottes in der Welt entdeckt und Elemente unserer eigenen christlichen Traditionen wiedergefunden, die wir bis dahin vernachlässigt hatten. Wir sind uns auch stärker vieler Bibelstellen bewusst geworden, die uns aufrufen, anderen gegenüber offener zu sein.

40. Praktizierte Gastfreundschaft und eine Haltung der Offenheit gegenüber Fremden schaffen Raum für gegenseitige Verwandlung und sogar Versöhnung. Ein solches auf Gegenseitigkeit beruhendes Verhältnis wird in der Geschichte von der Begegnung zwischen Abraham, dem Vater des Glaubens, und Melchisedek, dem nichtisraelitischen König von Salem (1. Mose 14), beispielhaft dargestellt. Abraham empfing den Segen Melchisedeks, der als Priester "Gottes des Höchsten" beschrieben wird. Die Geschichte macht deutlich, dass Abrahams Verständnis von dem Gott, der ihn und seine Familie aus Ur und Haran geführt hatte, erneuert und erweitert wurde.

41. Zu gegenseitiger Verwandlung kommt es auch in der Geschichte von der Begegnung zwischen Petrus und Kornelius, die Lukas in der Apostelgeschichte erzählt. Der Heilige Geist bewirkt, dass Petrus aufgrund seiner Vision und nachfolgenden Begegnung mit Kornelius zu einem neuen Selbstverständnis gelangt und bekennt: "Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht; sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm" (Apg 10,34-35). In diesem Fall wird Kornelius, der "Fremde", zum Werkzeug der Verwandlung von Petrus und Petrus wird zum Werkzeug der Verwandlung von Kornelius und seines ganzen Haushalts. Wenn es in dieser Geschichte auch nicht primär um interreligiöse Beziehungen geht, so wirft sie doch ein Licht darauf, wie Gott uns durch die Begegnung mit anderen über die Grenzen unseres Selbstverständnisses hinausführen kann.

42. Aus diesen Beispielen und den darin geschilderten vielfältigen Erfahrungen des täglichen Lebens können wir Schlüsse für eine Vision gegenseitiger Gastfreundschaft unter Völkern unterschiedlicher religiöser Traditionen ziehen. Aus christlicher Sicht hat dies viel mit unserem Dienst der Versöhnung zu tun. Es setzt sowohl voraus, dass wir dem "Anderen" Zeugnis von Gott in Christus geben, als auch, dass wir offen dafür sind, dass Gott durch den "Anderen" zu uns sprechen kann. Wenn Mission in diesem Sinne verstanden wird, so bietet sie keinen Raum für Triumphalismus, sondern trägt dazu bei, die Ursachen religiöser Konflikte zu beseitigen und der häufig damit einhergehenden Gewalt ein Ende zu setzen. Gastfreundschaft setzt voraus, dass Christen andere als "zum Bilde Gottes geschaffen" annehmen, im Bewusstsein, dass Gott durch andere zu uns sprechen und uns verwandeln kann, genau wie Gott uns benutzen kann, um andere zu verwandeln.

43. Die biblische Geschichte und unsere ökumenischen Erfahrungen machen deutlich, dass solch gegenseitige Verwandlung im Mittelpunkt jedes authentischen christlichen Zeugnisses steht. Offenheit für den "Anderen" kann den "Anderen" verwandeln, genau wie sie auch uns verwandeln kann. Sie kann anderen eine neue Sicht des Christentums und des Evangeliums vermitteln; sie kann sie auch in die Lage versetzen, ihren eigenen Glauben aus einer neuen Perspektive heraus zu verstehen. Eine solche Offenheit und die daraus resultierende Verwandlung können wiederum unser Leben in vielfältiger und erstaunlicher Weise bereichern.

VI. Das Heil ist Gottes allein

44. Die religiösen Traditionen der Menschheit stellen in ihrer großen Vielfalt "Wege" oder "Pilgerfahrten" dar, die die Wahrheit unserer Existenz zu ergründen versuchen und menschliche Erfüllung anstreben. Auch wenn wir "Fremde" füreinander sein mögen, so gibt es doch Augenblicke, in denen sich unsere Wege kreuzen und die uns "religiöse Gastfreundschaft" abverlangen. Sowohl unsere persönlichen Erfahrungen heute als auch bestimmte historische Situationen legen Zeugnis davon ab, dass solche Gastfreundschaft möglich ist und in leiser, unauffälliger Weise gewährt wird.

45. Voraussetzung für die Gewährung von Gastfreundschaft ist eine Theologie, die dem "Anderen" gegenüber "gastfrei" und "fremdenfreundlich" ist. Unsere Reflexion über das Wesen des biblischen Zeugnisses von Gott, über das, was Gott unserer Überzeugung nach in Christus vollbracht hat, und über das Wirken des Geistes zeigt, dass eine Haltung der Gastfreundschaft, die den "Anderen" in seinem Anderssein annimmt, zum Wesenskern des christlichen Glaubens gehört. Es ist dieser Geist, der die Theologie der Religionen in einer Welt inspirieren muss, die der Heilung und Versöhnung bedarf. Und es ist dieser Geist, der uns auch zur Solidarität mit allen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind, bewegen kann.

46. Wir müssen anerkennen, dass dem Menschen und seinen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten Grenzen gesetzt sind, die es ihm unmöglich machen, das Geheimnis des Heils, das Gott der Menschheit geschenkt hat, vollständig zu ergründen. Keine menschliche Gemeinschaft ist dazu in der Lage. All unser theologisches Denken stößt letztlich an die Grenzen unserer eigenen Erfahrungen und kann es unmöglich mit der Größe des göttlichen Heilsplans für die Welt aufnehmen.

47. Wenn wir dies in Demut erkannt haben, dann können wir sagen, dass Gott - und Gott allein - über das Heil entscheidet. Wir besitzen das Heil nicht; wir haben Anteil daran. Wir bringen niemandem das Heil; wir legen Zeugnis davon ab. Wir entscheiden nicht darüber, wer das Heil empfängt; wir überlassen dies der Vorsehung Gottes. Denn unser eigenes Heil wird uns durch die immerwährende "Gastfreundschaft" zuteil, die Gott selbst auch uns schenkt. Es ist Gott selber und Gott allein, der der "Gastgeber" des Heils, sein Hort und Hüter, ist. Und doch finden wir in der eschatologischen Vision vom neuen Himmel und der neuen Erde auch das machtvolle Bild, dass Gott sowohl "Gastgeber" als auch "Gast" unter uns ist: "Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein…" (Offb 21,3).

 

März 2005

 

Übersetzt aus dem Englischen
Sprachendienst des ÖRK

 

1 Für die Weltmissionskonferenz 1989 siehe Bericht aus San Antonio, insbesondere Seiten 141-144, und für die Konsultation 1990 in Baar, Schweiz, siehe Current Dialogue Nr. 19, Januar 1991, S. 47-51.

2 Mit dem griechischen Wort φιλοξενίας (ξένος fremd) ist an dieser Stelle Gastfreundschaft gegenüber Fremden gemeint.