Übersetzt aus dem Englischen
Sprachendienst des ÖRK

Vorbereitungspapier Nr. 4

Einleitung

Das vorliegende Papier befasst sich mit dem Thema „Mission als Versöhnung aus ökumenischer Sicht“ und ist Teil des Vorbereitungsprozesses für die Konferenz für Weltmission und Evangelisation (CWME). Es ist aus einer Konsultation hervorgegangen, an der zehn in ihrer jeweils eigenen Spiritualität verwurzelte Missionstheologen/innen aus fünf Kontinenten teilgenommen haben, die aus verschiedenen Kirchentraditionen – wie der orthodoxen, protestantischen, pfingstkirchlichen und römisch-katholischen – stammten. In einem intensiven Arbeitsprozess gelang es ihnen, einige gemeinsame Überzeugungen herauszuarbeiten und zu formulieren. Die Erklärung wurde vom CWME-Planungsausschuss für die Konferenz (CPC) auf seiner Tagung im März 2004 in der Nähe von Athen als Studiendokument entgegengenommen. Der Ausschuss beschloss, dieses Dokument einem größeren Kreis mit der Bitte um Reaktionen, Kommentare, Kritik, Änderungs- und Verbesserungsvorschläge zugänglich zu machen. Dann wird das Papier, eventuell in einer überarbeiteten Fassung, der ÖRK-Kommission für Weltmission und Evangelisation auf ihrer Tagung im Herbst dieses Jahres vorgelegt werden.

In seiner vorliegenden Form gibt das Papier weder die offizielle Position des Ökumenischen Rates der Kirchen noch eines seiner Beratungsgremien für Mission und Evangelisation wider. Es soll lediglich einen Beitrag zum Vorbereitungsprozess für die nächste Weltmissionskonferenz leisten.

Reaktionen, Kommentare, Vorschläge, zusätzliche Überlegungen können Sie an folgende Adresse senden:

Pfr. Jacques Matthey, Programmreferent für Missionsstudien
Ökumenischer Rat der Kirchen
150, route de Ferney
Postfach 2100
CH-1211 Genf 2
Schweiz

 

Einsendeschluss für Stellungnahmen ist der 15. August 2004

Das Papier ist wie auch alle anderen Vorbereitungspapiere für die Konferenz auf der Konferenz-Webseite (www.mission2005.org) veröffentlicht.

Genf, Ende März 2004

„Komm, Heiliger Geist, heile und versöhne“

Auf dem Weg zur Mission als Versöhnung

1) Mission als Versöhnung – Entstehung eines neuen Paradigmas

Mission ist zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten immer wieder anders verstanden worden. Seit Ende der 1980er Jahre wird Mission zunehmend mit Versöhnung und Heilung in Verbindung gebracht. Darüber hinaus ist das Thema der Versöhnung in vielen verschiedenen Kontexten wichtig geworden und inspiriert Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen. In dieser Situation werden wir daran erinnert, dass Versöhnung die innere Mitte des christlichen Glaubens darstellt. Die versöhnende Liebe Gottes, die in Jesus Christus manifest geworden ist, ist ein wichtiges biblisches Thema und ein zentrales Element im Leben und Dienst der Kirche. Der Heilige Geist ruft uns zum Dienst der Versöhnung auf, der sowohl in der Spiritualität als auch in den Strategien unserer Mission und Evangelisation zum Ausdruck kommen muss.

Es gibt eine Reihe von Gründen dafür, dass das Thema der Versöhnung in der heutigen Welt so stark in den Vordergrund getreten ist. Dies hat zu tun mit den gegenwärtigen Tendenzen der Globalisierung, der Postmoderne und der Fragmentierung, wie sie in dem CWME-Studiendokument „Mission und Evangelisation in Einheit heute“ (2000) beschrieben werden.1

Die Globalisierung hat die verschiedenen menschlichen Gemeinschaften in der Welt enger als je zuvor in Kontakt miteinander gebracht und deutlich gemacht, dass es nur eine Menschheit gibt. Gleichzeitig hat sie die Vielfalt der Interessen und der Weltanschauungen der verschiedenen Gruppen hervortreten lassen. Auf der einen Seite gibt es neue Möglichkeiten, Einheit zum Ausdruck zu bringen und die Grenzen zu überwinden, die uns trennen. Auf der anderen Seite ist es jedoch auch zu einem Zusammenprall der Kulturen, der Religionen, der wirtschaftlichen Interessen und der Geschlechter gekommen, der tiefe Verletzungen und Schuldvorwürfe nach sich gezogen hat. Die wachsende Feindschaft, die durch die Globalisierung und das Machtgefälle in der heutigen Welt entstanden ist, ist in den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem nachfolgenden „Krieg gegen den Terror“ in erschütternder Weise zum Ausdruck gekommen. Ebenfalls in diesem Kontext hat eine Reihe von Initiativen dazu beigetragen, dass Gesellschaften im Anschluss an Konflikte durch Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung wieder aufgebaut werden konnten. Die Christen sind dazu aufgerufen, in Unruhe-, Gewalt- und Konfliktsituationen mit ihrem Zeugnis einen Beitrag zur Schaffung von Frieden in Gerechtigkeit zu leisten. Zur Stärkung des Engagements der Kirchen für Versöhnung und Frieden hat der Ökumenische Rat der Kirchen die Dekade zur Überwindung von Gewalt (2001-2010) ausgerufen.

Aufgrund der allgegenwärtigen Dominanz der globalen Marktkräfte hat die Wirtschaftspolitik der reicheren Länder ungeheure und oft höchst schädliche Auswirkungen auf ärmere Länder. Die meisten profitieren nicht von der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern sind deren Opfer. Ungerechte Handelsgesetze schützen die reicheren Länder und führen zur Ausgrenzung und Ausbeutung der ärmeren. Viele der ärmeren Länder werden erdrückt von einer Schuldenlast, deren Rückzahlung unerträgliche Auswirkungen hat. Strukturanpassungsprogramme, die von internationalen Institutionen erzwungen werden, berücksichtigen kaum die Kompetenz der Menschen vor Ort, und es sind wiederum die Armen, die am meisten darunter zu leiden haben. In dieser Situation hat die Schuldenerlasskampagne einen signifikanten Beitrag zur Aufklärung über das Handelsungleichgewicht geleistet und die Beschlüsse der G8 spürbar beeinflusst. Dringend vonnöten ist wahre Versöhnung, die einschließt, dass die Reichen Buße tun und den Armen Gerechtigkeit widerfährt.

Das globale Netzwerk der Kommunikation bringt einigen Menschen Vorteile und schließt andere aus. Durch die wachsenden Möglichkeiten des Dialogs und der Zusammenarbeit trägt es in mancherlei Hinsicht zur Ausweitung der Gemeinschaft und zur Stärkung alternativer Bewegungen bei, die sich für den Wandel einsetzen. Allerdings wird die Massenkultur der Postmoderne, die auf diesem Wege verbreitet wird, häufig als Bedrohung der persönlichen und nationalen Identität empfunden und trägt zur wachsenden Fragmentierung von Gesellschaften bei. Infolge der Globalisierung haben viele Menschen ihre Familien- und Gemeinschaftswurzeln verloren, viele sind durch Migration heimatlos geworden und Ausgrenzung ist ein weit verbreitetes Phänomen. Viele sehnen sich nach menschlicher Nähe und spüren ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft. In dieser Situation sind wir dazu aufgerufen, versöhnende und heilende Gemeinschaften zu sein.

Wir vertrauen darauf, dass der Geist Gottes uns und die ganze Schöpfung in Ganzheit und Unversehrtheit leiten und uns mit Gott und miteinander versöhnen möge. Angesichts der machtvollen und unvorhersehbaren Einflüsse der globalen Kräfte war es jedoch noch nie so schwierig wie heute, wo wir vor schwerwiegenden persönlichen und strategischen Entscheidungen in der Mission stehen, das Wirken des Heiligen Geistes in den komplexen Situationen der Welt zu erkennen. 1996, auf der letzten ÖRK-Konferenz für Mission und Evangelisation, wurden wir in Salvador de Bahía, Brasilien, daran erinnert, wie die Verursacher wirtschaftlicher Ungerechtigkeit der indigenen Bevölkerung ihre Rechte vorenthalten und die Naturschätze ausgeplündert haben, die der Schöpfer allen Menschen geschenkt hat. Wir haben dafür um Vergebung gebeten und uns für Versöhnung eingesetzt. Wir haben in Salvador bekräftigt, dass „der Geist, der an Pfingsten auf uns ausgegossen wurde, alle Kulturen zu würdigen Trägern der Liebe Gottes macht“ und in Menschen, die unterdrückten Gruppen angehören, „das Bild Gottes erwecken (kann)“, und wir haben uns verpflichtet, uns „um alternative Modelle der Gemeinschaft, gerechtere Wirtschaftssysteme, faire Handelspraktiken, verantwortlichen Umgang mit den Medien und gerechte Umweltpolitik zu bemühen“2.

Im gegenwärtigen Klima der Postmoderne erleben wir ein Wiedererstarken der Religionen, insbesondere in ihrer konservativen Form. Ferner gibt es eine Vielfalt neuer religiöser Bewegungen und einen Durst nach spirituellen Erfahrungen. Auf der einen Seite erweitert die Vielfalt der spirituellen Ausdrucksformen, mit denen wir es zu tun haben, unser Bewusstsein für Spiritualität wie auch unseren Horizont. Auf der anderen Seite stehen wir aufgrund der Probleme, die durch aggressive Methoden der Missionstätigkeit geschaffen werden, vor der Herausforderung, eine Spiritualität der Versöhnung für die Missionsarbeit zu entwickeln.

Was den christlichen Glauben anbetrifft, so verlieren einige Kirchen zwar nach wie vor an Bedeutung, aber viele erleben ein rapides zahlenmäßiges Wachstum. Der Schwerpunkt des Christentums hat sich deutlich in die ärmeren Länder der Welt verlagert und die pfingstlich-charismatische Ausdrucksform des christlichen Glaubens ist mittlerweile am weitesten verbreitet. Das schnelle Wachstum der Pfingstkirchen ist ein bemerkenswertes Phänomen unserer Zeit. Die positiven Auswirkungen dieser Entwicklung geben für die Zukunft des christlichen Glaubens Anlass zu großer Hoffnung und Ermutigung. Die Pfingstkirchen lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Theologie des Heiligen Geistes und auf die Art und Weise, wie der Geist die Kirche immer wieder für ihre Mission in jedem Zeitalter erneuert. Gleichzeitig erinnert uns das Spannungs- und Spaltungspotenzial in der heutigen Zeit daran, dass der Geist in enger Verbindung mit Versöhnung und Frieden steht.

Seit dem Pfingstereignis hat der Heilige Geist die Kirche inspiriert, Jesus Christus zu verkündigen, und wir folgen auch heute noch gehorsam dem Befehl, das Evangelium in aller Welt zu predigen. Der Heilige Geist hat den Sohn Gottes gesalbt, den Armen die Gute Nachricht zu bringen, und wir versuchen, seine befreiende Mission fortzuführen, indem wir an der Seite der Unterdrückten und Ausgegrenzten für Gerechtigkeit zu kämpfen. Im Bewusstsein, dass der Geist Gottes von allem Anfang an in der Schöpfung gegenwärtig war und uns in unserer Mission und Evangelisation vorausgeht, haben wir auch das schöpferische Wirken des Geistes in den unterschiedlichsten Kulturen bekräftigt und haben den Dialog mit Angehörigen anderer Religionen aufgenommen. Konfrontiert mit der oben beschriebenen Lage in der Welt entdecken wir heute neu das versöhnende und heilende Amt des Heiligen Geistes.

2) Gott der Versöhnung: theologische, biblische und liturgische Perspektiven zur Versöhnung

Heiliger Geist und Versöhnung

Die Versöhnung ist das Werk des dreieinigen Gottes und vollendet Gottes ewigen Schöpfungs- und Heilsplan durch Jesus Christus: „Denn es hat Gott wohlgefallen, dass in ihm alle Fülle wohnen sollte und er durch ihn alles mit sich versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz“ (Kol 1,19-20). Im dreieinigen Gott kommt das eigentliche Wesen der Versöhnung, auf die wir hoffen, zum Ausdruck: „Die Dreieinigkeit, die Quelle und Bild unserer Existenz ist, zeigt die Bedeutung der Verschiedenheit, des Andersseins und der intrinsischen Beziehungen bei der Schaffung einer Gemeinschaft“3.

Der Heilige Geist befähigt die Kirche, an diesem Werk der Versöhnung mitzuwirken, wie im Dokument „Mission und Evangelisation in Einheit heute“ festgestellt wird: „Die Mission Gottes (missio Dei) ist Quelle und Fundament der Mission der Kirche, des Leibes Christi. Durch Christus im Heiligen Geist wohnt Gott der Kirche inne und befähigt und kräftigt ihre Glieder.“4 Das Amt des Geistes (2. Kor 3,8) ist ein Amt der Versöhnung, das uns durch Christus gegeben und anvertraut worden ist (2. Kor 5,18-19).

In der Kraft des Geistes wächst die Kirche als koinonia – als Gemeinschaft des Heiligen Geistes (2. Kor 13,13) – fortwährend in eine heilende und versöhnende Gemeinschaft hinein, die die Freuden und Leiden ihrer Mitglieder teilt und all jenen die Hand reicht, die der Vergebung und Versöhnung bedürfen. Nach der Apostelgeschichte (2,44-45; 4,32-37) hat die Urgemeinde, die am Pfingsttag ins Leben gerufen wurde, ihre Güter unter ihren Mitgliedern verteilt und die Wechselbeziehung zwischen „geistlichen“ und „materiellen“ Anliegen in der christlichen Mission und im kirchlichen Leben betont. Ein Aspekt des „befähigenden Amtes" des Heiligen Geistes ist es, Christen und christliche Gemeinschaften mit charismatischen Gaben auszustatten, zu denen auch die Fähigkeit des Heilens gehört (1. Kor 12,9; Apg 3).

Die Kirche selbst bedarf der ständigen Erneuerung durch den Geist, damit sie in der Lage ist, den Willen Christi zu erkennen, und damit der Geist ihr die Augen auftun kann über die Spaltung und die Sünde in ihrer Mitte (Joh 16,8-11). Diese Buße der Kirche Christi ist bereits Teil des Dienstes und Zeugnisses der Versöhnung in der Welt.

Der Heilige Geist „bläst, wo er will“ (Joh 3,8). Das heißt, dass der Geist keine Grenzen kennt und ebenfalls zu Menschen aller Religionen wie auch zu Menschen ohne religiöse Bindungen – deren Zahl in dieser Zeit der Säkularisierung stetig wächst – spricht. Die Kirche ist aufgerufen, die Zeichen des Geistes in der Welt zu erkennen, in der Kraft des Geistes Zeugnis von Christus abzulegen (Apg 1,8) und sich für Befreiung und Versöhnung in all ihren Formen einzusetzen (2. Kor 5,18-19).

In den Leiden der Gegenwart teilt der Geist unser „Seufzen“ und den Geburtsschmerz der ganzen Schöpfung, die der „Knechtschaft der Vergänglichkeit“ unterworfen ist (Röm 8,26 und 21-22). Daher sehnen wir uns in Hoffnung und Freude nach der Erlösung unseres Leibes (Röm 8,23). Derselbe Geist Gottes, der beim Schöpfungsakt „auf dem Wasser schwebte“ (1. Mose 1,2), wohnt der Kirche inne und wirkt oft auf geheimnisvolle und verborgene Weise in der Welt. Der Geist wird teilhaben am Hereinbrechen der neuen Schöpfung, wenn der dreieinige Gott alles in allem sein wird.

Versöhnung in der Bibel

Die Bibel ist voller Versöhnungsgeschichten. Im Alten Testament werden immer wieder Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen Brüdern, Familienmitgliedern und Völkern geschildert; in einigen dieser Geschichten versöhnen sich die streitenden Parteien am Ende, in anderen nicht. Das Alte Testament erkennt und beklagt die Dimension der Gewalt und unterstreicht die Notwendigkeit und die Macht der Versöhnung. Die Familiengeschichten von Jakob und Esau (1. Mose 25,19-33,20) oder von Joseph und seinen Brüdern (1. Mose 37-45) sind Beispiele für zwischenmenschliche Konflikte – und vielleicht auch für Konflikte zwischen Gemeinschaften. Sie veranschaulichen ferner, welch machtvolle Wirkung die Versöhnungsbereitschaft von Menschen entfalten kann, die versuchen, Streit und Feindschaft beizulegen und erlittene oder empfundene Ungerechtigkeit zu beenden, indem sie Verhandlungen führen, Vergebung schenken und nach Grundlagen für eine gemeinsame Zukunft suchen. Das Alte Testament spricht auch immer wieder von der Entfremdung zwischen Gott und seinem Volk sowie von Gottes Verlangen und Drängen nach Versöhnung und der Wiederherstellung einer Beziehung, die durch den Hochmut der Menschen und ihre mannigfaltige Auflehnung gegen den Gott des Lebens und der Gerechtigkeit verletzt und zerbrochen wurde. Versöhnung ist somit ein wichtiges Thema in den biblischen Geschichten und den liturgischen Texten Israels – wie den Psalmen -, obwohl es in der hebräischen Sprache kein eigenes Wort für Versöhnung gibt. In den Büchern der Klagetradition, wie dem Buch Hiob und den Klageliedern, wird die Sehnsucht des Menschen nach Versöhnung mit Gott mit ergreifenden Worten zum Ausdruck gebracht.

Ähnlich ist es im Neuen Testament, wo der Begriff „Versöhnung“ selbst zwar keinen herausragenden Platz einnimmt, der Versöhnungsgedanke jedoch insgesamt eine zentrale Rolle spielt. Im Johannesevangelium sind Wahrheit und Frieden Schlüsselbegriffe; das Lukasevangelium stellt eine enge Verbindung zwischen der Erlösung und dem heilenden Dienst Jesu dar. Die Apostelgeschichte schildert, wie Juden und Heiden in einer neuen Gemeinschaft miteinander versöhnt wurden. Und in all seinen Briefen fordert Paulus mit großem Nachdruck, dass es keine Spaltungen unter denjenigen geben darf, die Christus in seinem Leib versöhnt hat, und dass das gemeinschaftliche Leben der Christen die erste Verkörperung von Gottes Heilsplan der Versöhnung aller Dinge sein sollte. Paulus glaubt nicht nur an die Einheit von Juden und Heiden, sondern auch an die von Sklaven und Freien, Männern und Frauen in Christus (Gal 3,28).

Abgesehen von Mt 5,24, wo es um die Versöhnung zwischen einzelnen Menschen geht, finden wir die Begriffe „Versöhnung“ und „versöhnen“ – auf Griechisch katallage und katallassein – nur in den Briefen des Apostels Paulus (2. Kor 5,17-20; Röm 5,10-11; 11,15; 1. Kor 7,11 und dann Eph 2,16 und Kol 1,20-22). Der Apostel setzt sich jedoch so eindringlich mit dem Thema auseinander, dass es zu einem Schlüsselkonzept für die christliche Identität insgesamt geworden ist. Paulus verwendet den Begriff „Versöhnung“, um das Wesen Gottes zu erforschen, den Inhalt des Evangeliums als gute Nachricht zu interpretieren und Dienst und Mission des Apostels und der Kirche in der Welt zu erläutern. Das Wort „Versöhnung“ wird so zu einem Begriff, der praktisch alles einschließt, was die innere Mitte des christlichen Glaubens ausmacht.

Im Folgenden wollen wir kurz zusammenfassen, wie Paulus den Begriff „Versöhnung“ verwendet:

1. Der Begriff „Versöhnung“ setzt schon an sich die Erfahrung zerbrochener Gemeinschaft voraus. Dies kann die Form von Entfremdung, Spaltung, Feindschaft, Hass, Ausgrenzung, Zerbrochenheit und gestörten Beziehungen annehmen. Im Allgemeinen schließt es auch ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit, Verletzung und Leid ein. Versöhnung wird sowohl in der biblischen als auch in der Allgemeinsprache als Verpflichtung und Engagement verstanden, diese zerbrochenen und zerstörten Beziehungen zu heilen und neue Gemeinschaft und Beziehungen aufzubauen.

2. Paulus wendet den Begriff „Versöhnung“ auf drei verschiedene, sich aber überschneidende Ebenen der Zerbrochenheit und Feindschaft an, in denen Beziehungen geheilt werden: Versöhnung zwischen Gott und den Menschen; Versöhnung zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen; Versöhnung des ganzen Kosmos.

3. Versöhnung ist sehr viel mehr als nur die oberflächliche Beseitigung von Störungen, als die Verwirklichung eines Status quo der bloßen Koexistenz. Versöhnung zielt auf eine Verwandlung der Gegenwart, auf tiefe Erneuerung ab. Der „Friede“, von dem Paulus spricht, ist zwar sicher auch Friede mit Gott (vgl. Röm 5,1 und 11), aber er meint auch Verwandlung menschlicher Beziehungen und Aufbau von Gemeinschaft. Dieser Friede ist der radikale neue Friede zwischen Juden und Heiden, der möglich geworden ist, weil Christus den Zaun der Feindschaft abgebrochen hat (Eph 2,14). Er ist auch die Verwandlung der ganzen Schöpfung in ein Werk des Friedens, wie es im Kolosserbrief 1,20 heißt. Mit den Worten des Paulus hat Christus „alles mit sich versöhnt, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz“. Dieser Vers macht deutlich, dass Versöhnung in der Tat eine neue Schöpfung im Blick hat, wie Paulus es so deutlich auch in 2. Kor 5,17 zum Ausdruck bringt. Die Kategorie der „neuen Kreatur“ macht deutlich, dass es bei der Versöhnung um sehr viel mehr als um die Heilung von Zerbrochenheit geht. Hier ist die Rede von einer völlig neuen Seinsweise.

4. Nach Paulus ist Gott derjenige, der die Initiative zur Versöhnung ergreift. Ja, Gott hat die Versöhnung der Welt bereits vollbracht: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber“ (2. Kor 5,19). Die Menschen können sich zwar um Versöhnung bemühen und der Versöhnung dienen, aber die Initiative und die Wirksamkeit der Versöhnung liegen bei Gott. Die Menschen sind lediglich Empfänger der Gabe der Versöhnung. Daher müssen wir – und dies ist von grundlegender Bedeutung - klar zum Ausdruck bringen, dass christliches Leben und Sein in der Erfahrung der Versöhnung durch Gott selbst wurzelt. Christen lernen zu verstehen, was Gott in Christus bereits vollbracht hat.

5. Fundament und Mittelpunkt der christlichen Geschichte von der Versöhnung, wie wir sie in den Paulusbriefen finden, sind die Geschichte von Leiden, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Christi. Die Fleischwerdung des Jesus von Nazareth verbindet das Leiden Jesu, des Sohnes Gottes, mit dem Leiden der ganzen Menschheit und ist daher Ausdruck der tiefen Solidarität Gottes mit einer geschundenen, zerbrochenen und gepeinigten Welt. Das Kreuz ist zugleich Ausdruck des göttlichen Protestes gegen dieses Leiden, denn Jesus von Nazareth erlitt dieses Leid als unschuldiges Opfer. Er lehnte es ab, seine Zuflucht in Gewalt zu suchen. Vielmehr bestand er auf der Feindesliebe und machte die Liebe zu Gott und seinen Mitmenschen zum Hauptanliegen seines Lebens. Der grausame Akt, „dem, der gerecht war“ das Leben in dieser Welt zu nehmen, spricht schon an sich das Urteil über eine Welt, in der die Mächtigen die Oberhand über ihre Opfer zu behalten scheinen. In Christus, durch dessen Wunden wir heil geworden sind (1. Petr 2,24), begegnen wir auch Gott, der das Unrecht in dieser Welt mit der Macht der Liebe richtig stellt, mit der er sich in seinem Sohn für andere hingab, selbst für die, die Gewalt üben und Ungerechtigkeit schaffen.

6. Der Heilige Geist befähigt die Menschen, an der Geschichte Gottes, der die Welt in Jesus Christus versöhnt hat, teilzuhaben. In Röm 5, wo Paulus darlegt, wie Gott Sünder und sogar Feinde Gottes und Gottlose mit sich selbst versöhnt, sagt der Apostel, dass die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen worden ist. In Jesus Christus, der auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist, haben wir nicht nur die Gabe der Versöhnung empfangen, sondern in ihm sind wir auch zum Dienst in die Welt gesandt worden. Dies kommt z.B. in der ethischen Unterweisung des Paulus zum Ausdruck, in der er Einzelne und Gemeinden eindringlich dazu aufruft, Zeichen der ihnen zuteil gewordenen Versöhnung zu sein und diese Versöhnung konkret zu leben (vgl. Röm 12,9-21). Es kommt auch in der Art und Weise zum Ausdruck, wie Paulus über seine eigene Mission spricht: „das Amt, das die Versöhnung predigt“ (2. Kor 5,18). An diesem Amt der Versöhnung teilzuhaben – d.h. die Versöhnung, die der Heilige Geist bringt, mit in die Welt zu tragen, und allen Menschen Gottes Werk der Versöhnung zu verkünden – das ist die christliche Berufung heute genau wie zu Paulus’ Zeiten.

Versöhnung in der Liturgie

Die Mission der Kirche, die ihr in der Kraft des Heiligen Geistes zukommt, erwächst aus Lehre, Leben und Werk unseres Herrn Jesus Christus. Diese müssen jedoch vor dem Hintergrund des jüdischen Erwartungshorizonts gesehen werden. Kernstück dieser Erwartungen war die Vorstellung von der Ankunft eines Messias, der „in den letzten Tagen“ der Geschichte sein Reich errichten würde (Joel 3,1; Jes 2,2 und 59,21; Hes 36,24, usw.), indem er alle verstreuten und betrübten Kinder Gottes an einen Ort zusammenrufen, sie mit sich versöhnen und zu einem Leib um sich herum versammeln würde (Mi 4,1-4; Jes 2,2-4; Ps 147,2-3). Im Johannesevangelium wird klar zum Ausdruck gebracht, dass der Hohepriester weissagte: „…Jesus sollte sterben …nicht für das Volk allein, sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen“ (Joh 11,51-52).

Auf dieser Lehre Jesu vom Reich Gottes baute die Kirche ihre Mission auf. Die Apostel und alle nachfolgenden Christen haben den Auftrag, nicht einen festen Bestand religiöser Überzeugungen, Lehren und sittlicher Gebote zu verkünden, sondern das Kommen des Gottesreiches, die gute Nachricht von einer neuen Wirklichkeit, die „in den letzten Tagen“ kommen wird. In deren Mittelpunkt steht der gekreuzigte und auferstandene Christus, die Inkarnation des Wortes Gottes, das unter den Menschen wohnte, und Gottes ständige Gegenwart durch den Heiligen Geist in einem Leben der Gemeinschaft und vollkommenen Versöhnung.

Diese Versöhnung haben die ersten christlichen Gemeinden in ihrem liturgischen, genauer gesagt, in ihrem (im weiteren Sinne) „eucharistischen“ Leben erfahren. Diese Gemeinden litten unter Zwietracht und Spaltungen, doch da sie durch die Gnade unseres Herrn mit Gott versöhnt worden waren, spürten sie die Verpflichtung, diese Versöhnung auch miteinander zu leben durch die Eingliederung in das eine Volk Gottes in der Eucharistie. Dies war ein bedeutsamer, Identität stiftender Akt, der als Manifestation (genauer gesagt, als Vorgeschmack) des kommenden Reiches gefeiert wurde. Es ist kein Zufall, dass die Teilnahme am Tisch des Herrn einen bewussten Akt der Versöhnung mit den Schwestern und Brüdern durch den „Kuss der Liebe“ voraussetzt (Mt 5,23-24). Darüber hinaus kommt das Herrenmahl nicht zustande, wenn die Gemeinschaft dieses Mahl nicht miteinander teilt (1. Kor 11,20-21).

Dieser eucharistische Akt war nicht der einzige liturgische Versöhnungsritus im Heilungsprozess. Die Taufe als Akt der Buße war ein gemeinsames Zeichen der Eingliederung in den einen Leib und Geist (Eph 4,4-5).5 Der Akt des Bekenntnisses, der für einige Kirchen sakramentale Bedeutung hat, wurde ursprünglich als notwendiger Prozess der Versöhnung mit der Gemeinschaft – als Sakrament der Versöhnung – verstanden. Es gab auch den Akt – oder das Sakrament – der Salbung mit ihrer heilenden Wirkung. Für viele Kirchen hat auch das Abendmahl selbst heilende Bedeutung. Diese Beispiele lenken unsere Aufmerksamkeit auf Versöhnung und Heilung in Leben und Mission der Kirche.

Diese symbolische Darstellung des Reiches Gottes in der Gemeinschaft bildete den Ausgangspunkt für die christliche Mission, das „Sprungbrett“ für den Exodus der Kirche in die Welt, in der sie Zeugnis ablegt. Die missionarische Aufgabe der Kirche erwächst direkt aus diesem Bewusstsein, dass die Kirche der dynamische, vereinte Leib der versöhnten Gläubigen ist, die den Auftrag haben, Zeugnis vom kommenden Reich Gottes abzulegen. Indem wir uns bemühen, in der Welt „das Amt der Versöhnung“ (2. Kor 5,18) manifest werden zu lassen, werden wir zu einer „versöhnenden“ Gemeinschaft. Dieses ganzheitliche Missionsverständnis schließt eine Verpflichtung zur Verkündigung des Evangeliums ein. „Evangelisation verfolgt das Ziel, eine versöhnende und versöhnte Gemeinschaft aufzubauen (vgl. 2. Kor 5,19), die auf die Fülle des Gottesreiches hinweist, das ‚Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist’ (Röm 14,17) ist“. Diese Erklärung aus dem Vorbereitungsdokument für Salvador klingt in der jüngsten ÖRK-Missionserklärung an: „Von der Evangelisation zu sprechen bedeutet, die Verkündigung von Gottes Angebot von Freiheit und Versöhnung zusammen mit der Einladung hervorzuheben, sich denen anzuschließen, die Christus nachfolgen, und für die Herrschaft Gottes zu arbeiten.“6

3) Die Mission der Versöhnung und Heilung – Ziel, Prozess und Dynamik

Die Tatsache, dass Kirchen überall auf der Welt sich gegenwärtig ganz neu auf ihre Ressourcen für Versöhnung und Heilung besinnen und dass parallel dazu in vielen Gesellschaften der Welt das Interesse an Heilung und Versöhnung wächst, hat uns dazu veranlasst, neu darüber nachzudenken, wozu Gott uns heute in der Mission aufruft. Im Bewusstsein, dass die Versöhnung, die wir in Jesus Christus empfangen haben und die in der christlichen Gemeinschaft zeichenhaft Wirklichkeit geworden ist, uns anvertraut worden ist, damit wir sie als Botschafter Christi (2. Kor 5,18-20) der Welt bringen, sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass Mission Versöhnung bedeutet.

Um zu verstehen, was Teilhabe an Gottes Mission der Versöhnung bedeuten kann, werden wir uns im folgenden Kapitel mit den Zielen und Prozessen der Versöhnung und Heilung befassen. Dies schließt einige allgemeine Gedanken und Überlegungen zu der Frage ein, wie Versöhnung und Heilung entstehen, d.h. welche Dynamik diesen Prozessen zugrunde liegt.

Versöhnung – Ziel und Prozess

Versöhnung setzt Frieden in Gerechtigkeit voraus. Die Vision von Versöhnung beinhaltet die Herstellung von Gemeinschaft und Gemeinschaft bedeutet, dass Zerbrochenheit und Sektierertum überwunden sind, dass Menschen zusammenleben und sich gegenseitig mit Achtung und Toleranz begegnen. Versöhnung führt dazu, dass die Menschen in einer angstfreien Atmosphäre miteinander kommunizieren können. Sie impliziert Integration, Toleranz und Rücksichtnahme. Versöhnte Gemeinschaft bedeutet, dass Differenzen im Dialog und ohne Anwendung von Gewalt beigelegt werden.

Versöhnung wird zum einen zwischen Einzelpersonen angestrebt, um Spaltungen, Feindschaft und Konflikte, die aus der Vergangenheit herrühren, zu überwinden. Hier muss die interne Dynamik, die das Verhalten beider Seiten, von Opfern und Tätern, bestimmt, untersucht werden. Versöhnung muss zum anderen auch zwischen Gruppen oder Gemeinschaften herbeigeführt werden. In diesen Fällen gilt es, den gesellschaftlichen und strukturellen Beziehungen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Und Versöhnung muss manchmal auch innerhalb und zwischen Völkern hergestellt werden, wobei die Struktur ganzer Gesellschaften auf dem Prüfstein steht. Im ersten Fall, der Versöhnung zwischen Einzelpersonen, geht es häufig um die Wiederherstellung von Würde und Menschlichkeit. Im zweiten Fall konzentriert sich Versöhnung auf die Frage, wie das Zusammenleben sowohl unter den Menschen als auch in der ganzen Schöpfung aussehen kann. Im dritten Fall müssen die Institutionen der Gesellschaft selbst aufmerksam geprüft werden, damit Wiederaufbau möglich ist.

Versöhnung ist sowohl ein Ziel als auch ein Prozess. Als Einzelpersonen und Gesellschaften brauchen wir eine Vision, damit wir auf dem Weg zu einem zukünftigen Zustand des Friedens und der Wohlergehen beharrlich vorwärts gehen. Aber wenn wir den Prozess nicht verstehen, können wir in unserer Arbeit leicht den Mut und die Orientierung verlieren. In der Praxis werden wir feststellen, dass mal das Ziel, mal der Prozess im Vordergrund steht, denn für Versöhnung und Heilung brauchen wir beides. Im Folgenden werden wir uns auf den Prozess und insbesondere auf die persönlichen und gesellschaftlichen Dimensionen und die Dynamik, die ihm zugrunde liegen, konzentrieren und der Frage nachgehen, wie der christliche Glaube das Hinwirken auf einen Zustand der Versöhnung und Heilung inspirieren und vorantreiben kann.

Die Dynamik der Versöhnung

Wir müssen sowohl der Einleitung des Prozesses der Versöhnung als auch seiner konsequenten Fortführung unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Die an diesem Prozess Beteiligten werden häufig in Opfer und Täter eingeteilt. Manchmal fällt es leicht, beide Parteien voneinander zu unterscheiden und zu identifizieren, wie es z.B. häufig bei Opfern von Vergewaltigungen und Vergewaltigern der Fall ist. Aber bei lange andauernden Konflikten können Opfer zu einem späteren Zeitpunkt selbst zu Tätern und Täter wiederum zu Opfern werden. Aufgrund dessen ist es wenig hilfreich, die Beteiligten in klare Kategorien einzuteilen. Wenn die Kirche sich auch in besonderer Weise um die Opfer bemüht, so erfordern Versöhnung und Heilung doch sowohl Rehabilitierung und Heilung des Opfers als auch Buße und Verwandlung des Täters. Diese Dinge geschehen nicht immer in klarer Abfolge, aber eine „neue Kreatur“ (2 Kor 5,17) kann nur entstehen, wenn beide Seiten einen Wandel durchlaufen.

Vier Aspekte des Versöhnungs- und Heilungsprozesses erfordern besondere Aufmerksamkeit: Wahrheit, Erinnerung, Gerechtigkeit und Vergebung.

Die Wahrheit über die Vergangenheit herauszufinden, ist häufig schwierig, weil Übergriffe und Grausamkeiten unter dem Deckmantel des Schweigens verborgen werden. Heilung setzt voraus, dass das Schweigen gebrochen wird und dass die Wahrheit ans Licht kommen kann. Heilung ermöglicht das Eingeständnis von zuvor verdecktem Missbrauch.

Manchmal, wie z.B. unter repressiven Regimes, findet eine systematische Verzerrung der Wahrheit statt. Dort wo Wahrheit herrschen sollte, behalten Lügen die Oberhand. In solchen Fällen ist es nötig, beharrlich für die Wahrheit einzutreten. Das ist besonders dann erforderlich, wenn die Sprache der Versöhnung selbst missbraucht wird. Es hat Fälle gegeben, in denen die Täter zur „Versöhnung“ aufgerufen haben, wobei sie in Wirklichkeit meinten, die Opfer sollten das ihnen widerfahrene Unrecht vergessen und das Leben sollte weitergehen, als wäre nichts geschehen. In solchen Fällen ist die Bedeutung des Wortes „Versöhnung“ so vergiftet, dass es nicht mehr verwendet werden kann. In anderen Fällen drängen die Täter zu voreiliger „Versöhnung“, damit die Ansprüche der Opfer nicht mehr zur Sprache kommen können. Sie tun dies z.B., indem sie Christen Schuldgefühle vermitteln, weil sie nicht schnell vergeben können. Gegen diese missbräuchliche Verwendung des Begriffs der Versöhnung muss Widerstand geleistet werden.

In verschiedenen Ländern sind nach langjährigen Konflikten und Kämpfen nationale Wahrheits- und Versöhnungskommissionen eingerichtet worden, die den Auftrag haben, die Wahrheit über die Vergangenheit offen zu legen. Die Kommission in Südafrika ist vielleicht die bekannteste unter ihnen. Die Notwendigkeit, solche Kommissionen einzurichten, zeigt, wie schwierig die Suche nach der Wahrheit ist und welche Bedeutung ihr gleichzeitig für Versöhnung und Heilung zukommt.

Das christliche Verständnis von Wahrheit kann in solchen Situationen weiterhelfen. Der Geist Gottes ist Wahrheit (Joh 14,17) und Jesus betete für die Heiligung seiner Jünger in der Wahrheit (Joh 17,17). Die Wahrheit herauszufinden, kann insbesondere nach Konfliktsituationen schwierig sein. Die Achtung der Wahrheit erwächst aus der Erkenntnis, dass Gott die Quelle der Wahrheit ist.

Erinnerung ist eng mit Wahrheit verbunden. Wie stellt sich die Vergangenheit in unserer Erinnerung dar? Wie sollen wir von ihr sprechen? Authentische Erinnerung sollte die Wahrheit über die Vergangenheit sagen. Traumatische Erinnerungen an geschehenes Unrecht und grausame Verbrechen bedürfen der Heilung, wenn sie Bausteine für die Schaffung einer neuen Art von Zukunft werden sollen. Erinnerungen zu heilen, bedeutet, dass diese ihr Vergiftungspotenzial verlieren. Wenn dies geschieht, dann halten sie uns nicht mehr in der Vergangenheit gefangen, sondern geben uns die Kraft, eine Zukunft zu gestalten, in der das Unrecht der Vergangenheit sich nicht mehr wiederholen kann.

Bei Erinnerungen geht es nicht nur um die Vergangenheit. Sie sind auch Identität stiftend. Die Art und Weise, wie wir uns an die Vergangenheit erinnern, bildet sowohl die Grundlage für unser Zusammenleben und unsere Beziehungen in der Gegenwart als auch dafür, wie wir uns unsere Zukunft vorstellen. Aus diesem Grund ist die Erinnerung für den Prozess der Versöhnung und Heilung von zentraler Bedeutung.

Erinnerungen, die nicht heilen, können der Versöhnung im Wege stehen. Manchmal gelingt es erst den nachfolgenden Generationen, Versöhnung herbeizuführen. In einigen Fällen sind die Opfer so in ihren Erinnerungen gefangen, dass sie Hilfe benötigen, um davon freizukommen. In einigen wenigen Fällen wollen die Opfer nicht geheilt werden und benutzen ihre Erinnerungen, um jeglichen Fortschritt zu vermeiden. Diejenigen, die Versöhnungsarbeit leisten, haben die wichtige Aufgabe, Opfer zu begleiten, damit diese sich von traumatischen Erinnerungen befreien können.

Projekte zur Offenlegung von Erinnerungen, die unterdrückt oder verzerrt worden sind, haben häufig große Bedeutung, um gemeinsam eine neue Zukunft aufzubauen zu können. Das zeigen Beispiele wie die Veröffentlichung der Ergebnisse von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen (wie in Südafrika) oder die Sammlung von Erinnerungen über das, was in der Vergangenheit geschehen ist (wie in Guatemala). Die Offenlegung von Erinnerungen kann für Täter, die noch an der Macht sind, eine Bedrohung darstellen (wie die brutale Ermordung von Bischof Gerardi in Guatemala kurz nach seiner Verkündigung der Ergebnisse eines solchen Berichts in erschreckender Weise deutlich gemacht hat).

Für das christliche Leben und Zeugnis ist es von zentraler Bedeutung, dass wir Erinnerungen offen legen und es zulassen, dass sie uns helfen, unser Leben in der Gegenwart zu leben wie auch unsere Zukunft zu planen. Wir feiern die Eucharistie, um uns daran zu erinnern, was Jesus zugestoßen ist - der Verrat an ihm, sein Leiden, sein Tod – und wie er von den Toten auferweckt wurde. Es ist diese Erinnerung an das, was Gott in Jesus vollbracht hat, die uns Hoffnung gibt, und es ist der Geist Christi, der uns Kraft für unser Werk der Versöhnung gibt.

Gerechtigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für Versöhnung. Drei Arten von Gerechtigkeit sind vonnöten: erstens vergeltende Gerechtigkeit, bei der die Täter für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist wichtig, weil damit einerseits geschehenes Unrecht festgestellt und andererseits zum Ausdruck gebracht wird, dass solches Unrecht in Zukunft nicht mehr hingenommen wird. Vergeltende Gerechtigkeit sollte die Aufgabe von rechtmäßig verfassten Staaten sein. Bestrafung außerhalb dieses Rahmens kann das Werk von Regimegegnern sein oder zu bloßer Rache degenerieren und sollte vermieden werden. Wenn der Staat selbst in das Unrecht verstrickt ist, kann es möglich sein, vergeltende Gerechtigkeit durch gewaltlosen Protest zu erreichen, wie z.B. die „Mütter der Plaza de Mayo“ in Argentinien. Dies erfordert große persönliche Opfer.

Zweitens muss wiedergutmachende Gerechtigkeit geschehen, bei der die Opfer das, was ihnen zu Unrecht genommen worden ist, entweder direkt oder in symbolischer Weise zurückerhalten. Dies kann entweder durch Wiedergutmachung oder Entschädigung geschehen. In anderen Fällen, wenn der Täter oder das Opfer z.B. tot sind, mag es nötig sein, die Versöhnung in anderer Form zum Ausdruck zu bringen – z.B. durch eine öffentliche Gedenkstätte. Und schließlich ist strukturelle Gerechtigkeit vonnöten, die mit der Reform gesellschaftlicher Institutionen einhergeht, um zu verhindern, dass sich konkrete Fälle von Ungerechtigkeit in Zukunft wiederholen. Bestimmte Dimensionen der wiedergutmachenden und strukturellen Gerechtigkeit erfordern häufig besondere Aufmerksamkeit. Um z.B. wirtschaftliche Gerechtigkeit zu erreichen, ist eine Reform des internationalen Handelsrechts und der Handelsmechanismen notwendig. Geschlechtergerechtigkeit setzt voraus, dass die besondere soziale Kompetenz und die Beiträge von Frauen zur Überwindung von Ungerechtigkeit und zur Herstellung gerechter Beziehungen beachtet werden. Sexismus und Rassismus können nur durch strukturelle Reformen besiegt werden. In den letzten Jahren ist auch die Notwendigkeit ökologischer Gerechtigkeit in den Vordergrund getreten.

Der Heilige Geist sprach durch die alttestamentlichen Propheten, um Ungerechtigkeit zu verurteilen, und salbte Jesus Christus, damit er den Unterdrückten Freiheit brächte (Lk 4,18-19). Wenn Christen sich heute engagieren und insbesondere den Prozess der wiedergutmachenden Gerechtigkeit sowie die Reformen voranbringen wollen, die Voraussetzung für strukturelle Gerechtigkeit sind, dann gibt der Geist ihnen genau wie damals die Gabe der Prophezeiung und der mutigen Entschlossenheit. Die biblischen Bilder des Bundes - Annahme aller Menschen durch Gott; rechte Beziehungen zwischen Gott und den Menschen – unterstützen diese Bemühungen um gesellschaftliche Reformen, die in der Bibel in der Geldsammlung zum Ausdruck kommen, die der Apostel Paulus für Jerusalem durchführt, damit zwischen den Kirchen ein „Ausgleich“ geschehe und sie sich gegenseitig helfen, wenn eine von ihnen Not leidet (2. Kor 8,14).

Vergebung wird häufig als spezifisch religiöse Dimension der Versöhnung und Heilung angesehen. Es ist wichtig zu erkennen, dass Vergebung nicht bedeutet, dass wir über vergangenes Unrecht hinwegsehen oder gar auf Strafe verzichten. Vergebung erkennt an, was in der Vergangenheit geschehen ist, strebt aber eine neue Beziehung sowohl zum Täter als auch zur Tat an. Ohne Vergebung bleiben wir mit unseren Beziehungen in der Vergangenheit gefangen und können keine neue Art von Zukunft aufbauen.

Wenn wir heute die Versöhnung der menschlichen Gemeinschaft anstreben, so erfordert dies neben einer christlichen Vision von Versöhnung, dass wir mit den verschiedenen Glaubensgemeinschaften in Austausch treten. Für uns als Christen bedeutet das, dass wir die Vision der anderen großen religiösen Traditionen von Heilung und Ganzheit kennen lernen müssen, denn in vielen Situationen wird es notwendig sein, dass wir mit ihnen zusammenarbeiten. In diesen Situationen müssen wir als Christen auch in der Lage sein, unseren Gesprächspartnern eine Vorstellung über unseren eigenen Beitrag zu der gemeinsamen Aufgabe zu vermitteln. Viele Kulturen verfügen über eigene spirituelle und rituelle Ressourcen, um Versöhnung und Heilung herbeizubringen. Wenn immer möglich, müssen diese in unsere Versöhnungsarbeit einbezogen werden.

Vergebung ist für Christen von ganz besonderer Bedeutung. Wir glauben, dass Gott derjenige ist, der Sünden vergibt (Mk 2,7-12). Jesus kam unter uns und verkündigte die Vergebung der Sünden (Lk 24,47), er offenbarte uns die Gnade Gottes und die Möglichkeit, die Vergangenheit zugunsten einer ganz neuen Art von Zukunft zu überwinden. Die persönliche Erfahrung, angenommen zu werden und Gottes Gnade zu empfangen, kann das Leben eines Menschen völlig verändern und ihn bewegen, sich anderen in Liebe zuzuwenden und sich für die Verwandlung der Gesellschaft einzusetzen, wie die Geschichte von Zachäus zeigt (Lk 19,1-10). Als Jesus auferstanden war und seinen Jüngern den Heiligen Geist einblies, sandte er sie mit dem Auftrag zur Sündenvergebung in die Welt (Joh 20,21-23).

Vergebung durch Gott steht in engem Zusammenhang mit unserer Bereitschaft, anderen zu vergeben (siehe Mt 6,12 und 14-15). Aufgrund dessen meinen Christen häufig, dass wir „vergeben und vergessen“ sollten. Das ist jedoch nicht das, was in der Bibel geschrieben steht. Wir können Unrecht nie so vergessen, als wäre es nicht geschehen. Dies von Opfern zu verlangen, würde bedeuten, sie einmal mehr zu erniedrigen. Wir können Unrecht nie vergessen, aber wir können uns in anderer Weise daran erinnern – und dies öffnet uns den Weg zu einer neuen Beziehung zur Vergangenheit und zum Täter. Genau dazu sind wir als Christen aufgerufen.

Versöhnung und Heilung sind Ziele, die wir anstreben. In der Sprache der Bibel heißen diese Ziele Shalom oder Reich Gottes. In unserer heutigen Sprache bezeichnen wir sie auch als Vision von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Mit anderen Worten: Versöhnung und Heilung müssen die Gesamtheit der Schöpfung Gottes umfassen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Geschichte ist es uns noch nicht möglich, sie vollständig zu beschreiben oder zu erfassen. Aber wir müssen versuchen, dies zu tun, denn indem wir es tun, erneuern wir die Hoffnung. Tatsächlich müssen wir in unserem Engagement für Versöhnung und Heilung in unserer Welt mal Versöhnung als Ziel, mal den Prozess zur Erreichung dieses Ziels im Auge haben. Dies kann ein langer und schwieriger Kampf sein und es wird uns nur gelingen, diesen Kampf zu kämpfen, wenn wir es im Geist der Liebe tun, die „alles erträgt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet“ (1. Kor 13,7). In diesem Prozess verlieren wir nicht die Hoffnung und konzentrieren uns in unserer Arbeit gleichzeitig auf das versöhnende und heilende Wirken des Heiligen Geistes in der ganzen Schöpfung.

4) Versöhnung: die Mission der Kirche

Der Heilige Geist verwandelt die Kirche und gibt ihr die Kraft, missionarisch zu sein: „Der Heilige Geist gestaltet Christen um zu lebendigen, mutigen und kühnen Zeugen (vgl. Apg 1,8).“ Daher ist Mission für die Kirche nicht eine Option, sondern ein Imperativ: „Mission steht ihm Mittelpunkt des christlichen Glaubens und der christlichen Theologie. Sie ist keine Option, sondern ein existentieller Ruf und eine existentielle Berufung. Mission gehört zum eigentlichen Wesen der Kirche und aller Christen und bedingt dieses.“ Die Kirche ist von ihrem Wesen her dazu berufen, an der Mission Gottes teilzunehmen: „Die Teilnahme an der Mission Gottes … durch Christus im Heiligen Geist … sollte deshalb für alle Christen und alle Kirchen … etwas ganz Natürliches sein.“7

Die Mission, die die Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes hat, besteht darin, in einem Kontext der Zerbrochenheit versöhnende und heilende Arbeit zu leisten. Versöhnung stellt einen wichtigen Schwerpunkt und ein wichtiges Merkmal der Mission Gottes und damit der Mission der Kirche dar: „So ist das Ziel der Mission ‚eine versöhnte Menschheit und erneuerte Schöpfung’. … Die Kirche ist in die Welt gesandt, um Menschen und Nationen zur Buße zu rufen, Vergebung der Sünden und einen Neuanfang in den Beziehungen mit Gott und den Nächsten durch Jesus Christus zu verkünden.”8 Versöhnung bedeutet Verwirklichung von Shalom, d.h. Herstellung – oder Wiederherstellung – harmonischer Beziehungen, die auf Gerechtigkeit gründen. Sie ist ein ganzheitlicher Prozess, der von Gott eingeleitet worden ist und die ganze Schöpfung, Menschheit und Natur, umfasst. Wir und die ganze Schöpfung ringen darum, von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei zu werden, und dabei „hilft … der Geist unserer Schwachheit auf … und vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen“ (Röm 8,22-26). Angesichts der zerbrochenen Beziehungen in der heutigen Welt besteht die besondere Herausforderung für die Kirchen darin, die Gabe der Versöhnung Gottes in ihrem Leben und Dienst tiefer zu erfassen und sie der ganzen geschaffenen Ordnung zu bringen.

Versöhnung im Kontext der Zerbrochenheit

An erster Stelle steht die zerbrochene Beziehung zwischen Gott und Menschheit. Das Evangelium der Versöhnung ruft uns dazu auf, uns Gott zuzuwenden, zu Gott umzukehren und unseren Glauben an den Einen zu erneuern, der uns unaufhörlich zur Gemeinschaft mit Gott, miteinander und mit der ganzen Schöpfung einlädt. Wir freuen uns zutiefst, dass diese Versöhnung durch unseren Heiland Jesus Christus möglich geworden ist: „Wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben“ (Röm 5,11). Unsere Mission ist es, diese Versöhnung der ganzen Welt zu bringen und unsere Kraft in den Dienst des Geistes Gottes in der Schöpfung zu stellen.

Der Hauptgrund für die Zerbrochenheit der heutigen Welt liegt in der Verzerrung und Zerstörung der ganzheitlichen Beziehung, die in der göttlichen Ordnung zwischen der Menschheit und der übrigen Schöpfung bestand. Die Aufteilung der Schöpfung in Mensch und Natur, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, hat bei einem Teil der Menschheit zu der Tendenz geführt, die Natur zu erobern und zu zerstören. Ein Großteil der ökologischen Krise, mit der wir heute konfrontiert sind, kann auf die mangelnde Achtung vor dem Leben und der Ganzheit der Schöpfung zurückgeführt werden. Was Christen anstreben, ist die Heilung der Umwelt – die Versöhnung der Umwelt: die Versöhnung von „allem …, es sei auf Erden oder im Himmel“ (Kol 1,20). Im Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel bekennen wir, dass der Heilige Geist der Herr ist und lebendig macht. Mission im Geist verbürgt eine neue Perspektive – eine Mission, in deren Mittelpunkt das Leben steht, die die Erde gedeihen lässt und menschliche Gemeinschaften stärkt. Dieses Modell kosmischer Versöhnung und Heilung stellt eine machtvolle Grundlage für die Versöhnung der Menschheit dar.

Zerbrochenheit ist auch im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen spürbar. Das Bild Gottes wird verzerrt, wo Entfremdung und Feindschaft herrschen. Diese entstehen häufig im Zusammenhang mit Machtstrukturen, die konkreten Ausdruck in der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste, Rasse, Religion oder einem bestimmten Geschlecht, ihrer sexuellen Neigung und ihrem sozioökonomischen Status finden. Angesichts dessen setzt sich eine Mission, die Versöhnung und Heilung anstrebt, dafür ein, diese Grenzen zu überwinden und zu transzendieren und so das Bewusstsein vom Bild Gottes im Menschen wiederherzustellen. Konkret gesprochen bedeutet dies, dass es die Mission der Kirche ist, all diese Trennmauern –sowohl jene innerhalb als auch außerhalb der Kirche – abzubauen. Es bedeutet, dass die Kirche sich an den ökumenischen Bemühungen um Versöhnung innerhalb und unter den Kirchen und an dem Engagement der Menschen für den Wiederaufbau der Gesellschaft auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Menschenrechten beteiligt. Der Leib Christi ist mit verschiedenen geistlichen Gaben ausgestattet (1. Kor 12,8-10; siehe auch Röm 12,6-8). Wenn diese im Geist der Liebe eingesetzt werden (1. Kor 13,1-3; Röm 12,9-10), so bauen sie die Gemeinschaft auf und bringen deren versöhnte Einheit in Verschiedenheit zum Ausdruck.

In einem Kontext, in dem es Opfer und Verursacher von Ungerechtigkeit und Ausbeutung gibt, kommt der Kirche eine besondere missionarische Rolle zu, nämlich die, eine Brücke zwischen Armen und Reichen, Frauen und Männern, Schwarzen und Weißen usw. zu schlagen. Der Heilige Geist ist als der „Mittler-Gott“ beschrieben worden, weil er die Aufgabe hat, Gemeinschaft zu schaffen und zu bewahren (Eph 2,18; 4,3; John V. Taylor9). Die Position des „Mittlers“, der „dazwischen“ steht, darf nicht als wertneutrale Position verstanden werden; vielmehr handelt es sich hierbei um eine ziemlich riskante Position, die großen persönlichen Einsatz verlangt. Zwar ergreift die Kirche Partei für die Opfer, aber ihre Mission ist es auch, die Herausforderungen des Evangeliums an die Täter heranzutragen. Mission, die in dieser Weise vermittelnd „dazwischen steht“, ist eine Mission, die den Machtlosen Kraft gibt, indem sie sich an ihre Seite stellt, und die gleichzeitig auch die Verursacher von Verletzungen auffordert, Buße zu tun. Auf diese Weise wird sie zu einer Mission, die beiden Seiten ein neues Leben ermöglicht.

Zerbrochenheit ist leider auch ein Merkmal der heutigen Kirche. Die Spaltungen unter den Kirchen, seien es lehrmäßige oder nicht-theologische, stellen eine Herausforderung für die Mission der Versöhnung und der Heilung dar. Eine geteilte Kirche ist eine Fehlentwicklung des Leibes Christi (1. Kor 1,13) und betrübt den Heiligen Geist (Eph 4,25-32). Wenn es den Kirchen nicht gelingt, sich miteinander zu versöhnen, so missachten sie den Ruf des Evangeliums und können kein glaubwürdiges Zeugnis ablegen. „Die Kirche, die in eine Welt gesandt ist, welche angesichts des Konkurrenzdenkens und der Spaltungen in der menschlichen Gemeinschaft der Einheit und stärkerer Interdependenz bedarf, ist berufen, Zeichen und Werkzeug von Gottes versöhnender Liebe zu sein… Unsere Spaltungen machen unser Zeugnis unglaubwürdig und widersprechen unserem Zeugnis von der Versöhnung in Christus.“10 Die Kirchen haben bedeutsame Fortschritte auf dem Weg zur gegenseitigen Anerkennung von Taufe, Eucharistie und Amt und auch zu einem gemeinsamen Zeugnis gemacht. Die Verkündigung des Evangeliums der Versöhnung ist dann glaubwürdig, wenn die Kirche eine versöhnte und heilende Gemeinschaft ist.

Wenn Ziel und Prozess der Mission Versöhnung sein sollen, dann ist es unabdingbar, dass die Kirche sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt und einen Prozess der Introspektion und Selbstprüfung im Blick auf ihre Mission in der Welt durchläuft. Jede glaubwürdige Mission der Kirche muss mit dem Eingeständnis beginnen, dass nicht all ihre Missionsarbeit Abbild der Mission war und ist, die Gott will und die er selbst durch Werk und Dienst des Heiligen Geistes in der Welt ausführt (missio Dei). Wenn wir erklären, dass wir Gott lieben, aber gleichzeitig unseren Bruder oder unsere Schwester hassen, dass sind wir Lügner (1. Joh 4,20). Dort, wo christliche Missionsarbeit sich zur Komplizin imperialistischer Kolonialisierungspolitik und der damit einhergehenden gewaltsamen Zerstörung indigener Kulturen und Religionen, Zersplitterung von Gemeinschaften und sogar Spaltungen unter Christen gemacht hat - und weiterhin macht -, sind Buße und Umkehr (metanoia) notwendig. Buße setzt das Bekenntnis zur Sünde der gewaltsamen Kolonialisierung im Namen des Evangeliums voraus. Das ist wichtig für die „Heilung der Erinnerungen“, die integraler Bestandteil der Mission der Versöhnung und Heilung ist. Die Kirche muss Sorge tragen, dass sie die Wunden der Vergangenheit heilt (vgl. Jer 6,14f). Während wir diese Sünden bekennen, erkennen wir auch an, dass es sehr viel authentische christliche Missionsarbeit im Geist des Friedens und der Versöhnung gegeben hat und gibt. Solche Missionsarbeit schafft Frieden mit Gott und heilt Leben, sie führt zur Wiederherstellung von Gemeinschaften und sozioökonomischen Befreiung marginalisierter Völker.

Spiritualität der Versöhnung

Die Mission der Versöhnung und Heilung bedarf einer entsprechenden Spiritualität: einer Spiritualität, die heilt, verwandelt, befreit und Beziehungen aufbaut, die auf gegenseitiger Achtung beruhen. Eine wahre Spiritualität der Versöhnung und Heilung spiegelt die Interaktion von Glaube und Praxis wider, die christliches Zeugnis (martyria) ausmacht. Christliches Zeugnis setzt eine Spiritualität der Selbstprüfung und des Sündenbekenntnisses (metanoia) voraus, die zur Verkündigung (kerygma) des Evangeliums der Versöhnung, zum Dienst (diakonia) der Liebe, zum Gottesdienst (leiturgia) in Wahrheit und zur Lehre der Gerechtigkeit führt. Die Ausübung dieser geistlichen Gaben schafft versöhnte Gemeinschaften (koinonia).11

Die Spiritualität der Versöhnung ist eine Spiritualität der Demut und Selbstentäußerung (kenosis; Phil 2,7) und stellt gleichzeitig eine Erfahrung der heiligenden und verwandelnden Kraft des Heiligen Geistes dar. In seinen unablässigen Bemühungen um eine Versöhnung der Juden und Heiden sowie anderer Gruppen erklärte der Apostel Paulus, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig wird (2. Kor 12,9; 1. Kor 2,3-5). Die Spiritualität der Versöhnung ist eine Spiritualität des Leidens Jesu wie auch des Pfingstereignisses. Im globalen Kontext der Rückkehr des Imperialismus – insbesondere in Form der Hegemonie der Globalisierung – stellt diese sich selbst entäußernde Spiritualität eine Herausforderung sowohl für die Opfer als auch für die Urheber systemischer Gewalt und Ungerechtigkeit dar. Der Schatz, den wir haben, ist „in irdenen Gefäßen, damit die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns“ (2. Kor 4,7). Die Mission der Kirche besteht in diesem Kontext einmal mehr darin, sich „dazwischen“ zu stellen, zwischen Machthaber und Machtlose zu treten – die Machtlosen zu stärken und die Mächtigen mit der Herausforderung zu konfrontieren, sich ihrer Macht und Privilegien zugunsten der Entmachteten zu entäußern. Die Spiritualität der Versöhnung stellt auch die Machtstrukturen lokaler Gemeinschaften, einschließlich der Kirche, in Frage.

Eine sich selbst entäußernde Spiritualität ist auch eine Spiritualität des Kreuzes. Die Kirche ist aufgerufen, das Kreuz Jesu Christi zu tragen, indem sie sich an die Seite der Leidenden stellt. Ein Beispiel dafür ist das „Ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel“, das darauf abzielt, Palästinenser und Israelis bei ihren gewaltlosen Aktionen und ihrem gemeinsamen anwaltschaftlichen Engagement für ein Ende der Besatzung zu begleiten. Eine solche Spiritualität des gewaltlosen Widerstands ist in einem Zeitalter fortwährender Ausbeutung der Armen und Ausgegrenzten integraler Bestandteil von Versöhnung und Heilung. In diesen und anderen Situationen der Unterdrückung, Diskriminierung und Demütigung stellt das Kreuz Christi die Gotteskraft (1. Kor 1,18) dar, die Erlösung bringt.

Die Sakramente und das liturgische Leben der Kirche sind symbolische Ausdrucksformen dieser Mission der Versöhnung und Heilung. Die Taufe stellt einen Akt der Teilhabe an Tod und Auferstehung Jesu Christi dar. Sie steht symbolhaft für die Spiritualität des Kreuzes, die sowohl Selbstverleugnung bis zum Tod (Mk 8,34 und parallele Stellen) als auch Auferstehung zum Leben (Joh 3,14 usw.) beinhaltet. Die Eucharistie ist ein sakramentaler Akt der Heilung, ein Akt der Erinnerung und ein Nachvollzug des Brechens des Leibes Christi für die Versöhnung der Welt. Das Brot Gottes, das vom Himmel kommt, gibt der Welt das Leben (Joh 6,33). Die Austeilung von Brot und Wein unter allen steht symbolhaft für die Umverteilung des Reichtums und die Gleichheit aller im Reich Gottes, die Jesus Christus verkündet hat. Im Gebet legt die Kirche bei Gott Fürbitte für die Welt ein; sie fungiert als vermittelnde „Zwischeninstanz“, im festen Vertrauen darauf, dass Gott Versöhnung und Heilung bringen wird. Indem sie das Wort predigt, bringt sie den Unterdrückten Trost, verkündet sie Wahrheit und Gerechtigkeit und ruft zu Buße und Vergebung auf. Der Gottesdienst der Kirche stellt selbst ein Zeugnis von der Versöhnung in Christus dar, das die Kirche der Welt gibt, und die Kirche lebt dieses eucharistische Zeugnis in der Kraft des Geistes im täglichen Leben.

Über spirituelle Ressourcen, die Versöhnung und Heilung bringen, verfügen nicht nur die Traditionen des christlichen Glaubens. Dies stellt uns vor die Herausforderung, die interreligiösen Dimensionen der Mission ernst zu nehmen, denn Versöhnung und Heilung im ganzheitlichen Sinne können nicht ohne interreligiöse und interkulturelle Versöhnung erreicht werden. Wie bereits festgestellt, tragen Missions- und Evangelisationsprojekte, die imperialistischen Charakter haben und anderen Religionen und Kulturen herablassend und mit absolutem Wahrheitsanspruch begegnen, zur Feindschaft zwischen Glaubensgemeinschaften bei. Wo dies der Fall ist, muss die christliche Kirche ein Schuldbekenntnis ablegen, das den Opfern dieser Form von Mission Wiedergutmachung anbietet. Eine Möglichkeit, wie dies geschehen kann, besteht darin, die spirituellen Ressourcen anderer Religionen und Kulturen zu würdigen und daraus zu lernen. Andere Traditionen und Erfahrungen der Heilung und Versöhnung, einschließlich derer von indigenen Gemeinschaften, sind wertvoll und kostbar.

Die jüngste ökumenische Erklärung zum Dialog erinnert uns daran, dass „der interreligiöse Dialog seinem Wesen nach kein Instrument ist, mit dem sich Probleme in akuten Krisensituationen lösen lassen“. Allerdings können Beziehungen, die durch geduldigen Dialog in Friedenszeiten aufgebaut worden sind, in Zeiten des Konflikts verhindern, dass die Religion als Waffe benutzt wird, und in vielen Fällen den Weg für Schlichtung und Versöhnungsinitiativen ebnen.12 Dialog setzt gegenseitige Anerkennung voraus, bedeutet Bereitschaft zur Versöhnung und Sehnsucht nach einem gemeinsamen Leben. Ein Dialogprozess kann Vertrauen aufbauen und den Beteiligten Raum für gegenseitiges Zeugnis geben und so zu einem Instrument der Heilung werden. Aber trotz der großen Bedeutung des Dialogs müssen Fragen der Wahrheit, der Erinnerung, der Gerechtigkeit und Vergebung unter Umständen erst geklärt werden, bevor Dialog überhaupt möglich ist. Die „Zwischenposition“ der missionarischen Arbeit bringt es mit sich, dass wir in einigen Situationen aufgerufen sind, mit der prophetischen Autorität des Evangeliums religiöse Praktiken und Überzeugungen zu kritisieren, die Ungerechtigkeit fördern, und zur Buße aufzurufen.

Der Dienst des Heiligen Geistes – an dem die Kirche das Privileg hat teilzuhaben – besteht darin, eine zerbrochene Welt zu heilen und zu versöhnen. Um diese Mission glaubwürdig zu erfüllen, muss die Kirche eine Gemeinschaft sein, die in ihrem eigenen Leben Heilung und Versöhnung in Christus erfährt. Die Spiritualität der Versöhnung entäußert sich selbst und nimmt das Kreuz auf sich, damit die erlösende Kraft Gottes manifest wird. Der Heilige Geist stattet die Kirche mit Gaben und Ressourcen für diese Mission aus und die Christen sind im Geist des Dialogs offen dafür, die Ressourcen, die Menschen anderer Religionen in diese Mission einbringen, zu würdigen. Zur Mission der Kirche gehört es, dass sie zwischen die einander entfremdeten oder in Konflikt miteinander stehenden Parteien geht. Das bedeutet, dass sie sie in ihren Auseinandersetzungen begleitet und gleichzeitig die Mächte der Welt, die Ungerechtigkeit und Gewalt bringen, zur Versöhnung herausfordert. Ziel ist es, versöhnte und heilende Gemeinschaften aufzubauen, die in ihrem Engagement und praktischen Dienst ebenfalls missionarisch ausgerichtet sind.

5) Für die Versöhnung zurüsten: Vision, Pädagogik und Pastoral

In unserer Mission der Versöhnung werden wir von der Vision des Evangeliums vom Frieden auf Erden (Lk 2,14) inspiriert. Indem unser Herr Jesus Christus uns das Reich Gottes in Wort und Tat gepredigt hat, hat er uns vor Augen geführt, wie dieses Reich Gottes aussieht. Es ist das Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit, der Buße und Vergebung, in dem die Ersten die Letzten sind und die Mächtigen die Diener aller. In den Episteln haben die Apostel die Gemeinden gelehrt, Gemeinschaften der Versöhnung zu sein. Diese bringen die Frucht des Geistes hervor: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Keuschheit (Gal 5,22-23). Die Gemeindeglieder werden aufgerufen, sich gegenseitig in Liebe anzunehmen, in Frieden miteinander zu leben, die zu segnen, die sie verfolgen, und die Rache Gott zu überlassen (Röm 12,9-21). Im Buch der Offenbarung hat der Heilige Johannes die Vision beschrieben, die er vom neuen Himmel und der neuen Erde empfangen hat, der neuen Schöpfung, die aus dem Versöhnungswerk Gottes in Christus hervorgeht (Offb 21,1 und 5; vgl. 2. Kor 5,17-18). Das neue Jerusalem ist die versöhnte Stadt, in der Gott mit seinem Volk wohnt. In dieser Stadt wird es keine Trauer, kein Geschrei und keinen Schmerz mehr geben, denn es wird Gerechtigkeit herrschen. Da wird auch keine Nacht mehr sein, denn alles wird vom Licht der Herrlichkeit Gottes erleuchtet werden. Und mitten durch die Stadt läuft der Strom des Lebens zur Heilung der Völker (Offb 21,1-22,5).

Viele haben jedoch Frieden verkündet, wo es keinen Frieden gibt, und haben die tiefen Wunden, die durch zerbrochene Beziehungen und Ungerechtigkeit entstanden sind, nur oberflächlich geheilt (Jer 6,14). Jeder pädagogische und pastorale Missionsansatz muss von der Erkenntnis ausgehen, dass der Dienst der Heilung und Versöhnung ein tief greifender und häufig langwieriger Prozess ist, der daher langfristige Strategien erfordert (Röm 8,25). Sobald die Kirche zu der Überzeugung gelangt ist, dass ihre Mission Gottes Mission und nicht ein von ihr initiierter überhasteter Aktivismus ist, wird die Mission der Kirche sich am langfristigen Ziel der Schaffung von Gemeinschaften der Versöhnung und Heilung ausrichten. Die Erfüllung unserer Hoffnung erfordert Geduld, seelsorgerliche Sensibilität und eine angemessene pädagogische Methode.

Von zentraler Bedeutung für diesen pädagogischen Prozess ist es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was Menschsein bedeutet. Menschen sind von ihrem Wesen her auf Beziehung angelegt, sind im Netzwerk des Lebens miteinander verbunden und aktiv. Für unser Überleben hängen wir voneinander ab und deshalb müssen wir in vertrauensvollen und gerechten Beziehungen miteinander leben und Gemeinschaften der Versöhnung und Heilung aufbauen. Aus christlicher anthropologischer Sicht sind die Menschen Wesen, die von Gott Vergebung erfahren haben. Vergebung als theologische Kategorie hat auch ethische Implikationen. Die Mission der Versöhnung und Heilung, die durch Vergebung möglich wird, setzt Wahrheit und Gerechtigkeit voraus. Mit anderen Worten: durch die Pädagogik der Gerechtigkeit wird Vergebung zu einem radikalen Konzept. Vergebung, die Gerechtigkeit untergräbt, ist keine christliche Vergebung. Teure Nachfolge, die integraler Bestandteil des Dienstes der Heilung und Versöhnung ist, muss sich an der Forderung nach Gerechtigkeit orientieren.

Die pastorale Dimension der christlichen Mission kommt im Mitleiden mit den Zerbrochenen und im Eintreten für das Leben in seiner ganzen Fülle zum Audruck. Eine der wichtigsten Quellen, aus denen wir für diesen Dienst lernen können, stellt der ungeheure Reichtum der alltäglichen Lebenserfahrungen der Menschen dar, insbesondere der Armen und Schwachen. Die Teilhabe der Kirche an den Lebenserfahrungen der Menschen, an ihrem Einsatz für das Leben, wenn immer es ihnen vorenthalten wird, ist vielleicht der beste Lernprozess. Durch diese Pädagogik der gemeinsamen Erinnerungen wird die Kirche in die Lage versetzt, ihre Mission wirksam zu erfüllen.

Die Zurüstung für die Mission in einem Paradigma der Versöhnung hat wichtige Konsequenzen für die gegenwärtigen Modelle der theologischen und missionarischen Ausbildung. Wenn die Kirche von einer Pädagogik der Gerechtigkeit und einer auf Barmherzigkeit basierenden Pastoraltheologie durchdrungen werden soll, so bringt dies Herausforderungen sowohl für die Lehrinhalte als auch für die Lehrmethoden mit sich. Christen, die sich in den Dienst der Versöhnung stellen, werden auch weiterhin Kenntnisse in anderen Sprachen, Kulturen und religiösen Traditionen benötigen, die ihnen helfen, sich mit den Erfahrungen anderer vertraut zu machen und ihnen zu dienen. Genauso wichtig ist jedoch, dass wir über eine Theologie und Spiritualität der Versöhnung verfügen. Wir sollten gemeinsam theologisch untersuchen, wie Gott Versöhnung in der Welt herbeiführt und welchen Anteil Christen daran haben. Die Kirche muss lernen und lehren, wie die Dynamik und die Prozesse der Versöhnung ablaufen und welche Bedeutung die verschiedenen Dimensionen des Dienstes der Versöhnung haben: die Wahrheit offen legen, Erinnerungen heilen, Gerechtigkeit herstellen, Vergebung empfangen und anderen vergeben. Wenn die Kirche die gegenwärtige Kultur der Gewalt überwinden und den Mythos erlösender Gewalt widerlegen will, muss sie in ihrem Leben und Zeugnis zeigen, dass Gerechtigkeit und Erlösung durch gewaltlosen Widerstand verwirklicht werden. Das setzt eine Spiritualität der Versöhnung voraus, die sich um der Gerechtigkeit willen selbst entäußert und das Kreuz auf sich nimmt. Wir tragen auch die Verantwortung dafür, die geistlichen Gaben zu nutzen und weiterzuentwickeln, die, wenn sie im Geist der Liebe eingesetzt werden, Gemeinschaft aufbauen und Uneinigkeit und Feindschaft überwinden (1. Kor 12,8-10; 13,1-3; siehe auch Röm 12,6-10).

Das Thema der Konferenz für Weltmission und Evangelisation 2005 „Komm, Heiliger Geist, heile und versöhne“ lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Mission des Geistes. Nach dem Johannesevangelium wird der Heilige Geist vom Vater als parakletos gesandt, um uns in unserer Einsamkeit und Zerbrochenheit zu begleiten. Der Geist, der Fürsprecher, ist in einer „Zwischenposition“, er steht als Mittler zwischen dem Vater, dem Sohn und der ganzen Schöpfung. Der parakletos ist der Geist der Wahrheit, der uns in alle Wahrheit führt und die Lehre Jesu für uns auslegt. Der Heilige Geist vereint uns mit Gott, dem Vater und dem Sohn, und lässt uns Teil der missio Dei werden, die der Welt das Leben bringt. Der Geist lehrt uns, in Christus zu bleiben und einander zu lieben, um so Zeugnis von der Liebe Christi zu geben. Inmitten von Feindschaft tröstet der Geist uns und gibt uns Mut, die Stimme zu erheben und das Wort Gottes zu verkünden. Der parakletos stellt sich auf die Seite der Leidenden und führt der Welt Sünde, Gerechtigkeit und Gericht vor Augen. Der Geist, der unser Ratgeber ist, ist der Geist des Friedens in einer Welt voller Gewalt (Joh 14,15-16,15).

Der parakletos ist das Modell und das Werkzeug des Versöhnungsdienstes der Kirche. Der Heilige Geist heilt und versöhnt, indem er bei uns ist und uns inspiriert, erleuchtet und stärkt. Im Geist empfangen wir die Kraft zu sagen, was wahr ist, wie auch zu unterscheiden, was falsch und schlecht ist. Der Geist verbindet uns miteinander und im Geist erfahren wir wahre Gemeinschaft (2. Kor 13,13). Obwohl wir und die ganze Schöpfung eine kleine Weile weinen und klagen wie eine Frau, die gebiert, so ist der Geist doch unsere Hebamme und wir glauben, dass unsere Traurigkeit sich, sobald die Mission erfüllt ist, in Freude über das neue versöhnte Leben verwandeln wird (Joh 16,20-22; Röm 8,18-25).

6) Fragen zur weiteren Untersuchung und Diskussion

Der vorliegende Versuch, eine Missionstheologie der Versöhnung zu entfalten, wirft eine Reihe von Fragen auf, die noch weiter und ausführlicher untersucht werden müssen. Dazu gehören:

  • Welche praktischen Implikationen hat der Aufruf zu wirtschaftlicher Versöhnung?

  • Welche Prozesse können im gegenwärtigen Kontext muslimisch-christliche Versöhnung herbeiführen?

  • Welche Beiträge kann die schnell wachsende Pfingstbewegung mit ihrer theologischen Reflexion und ihren Erfahrungen zu einer Missionstheologie der Versöhnung machen?

  • In welcher Weise kann die Theologie des Heiligen Geistes (Pneumatologie) weiter zur Praxis und Theologie der Versöhnung beitragen?

  • Welche Veränderungen bringt Mission als Versöhnung für bestehende Missionsparadigmen mit sich? Was bedeutet es insbesondere für das Verständnis von Bekehrung?

  • Wie kann denjenigen, die aggressive Missionsmethoden einsetzen, die Bedeutung des Geistes der Versöhnung in der Missionsarbeit klar gemacht werden?

  • Wie können wir angemessene Mittel und Möglichkeiten entwickeln und bereitstellen, um Ortskirchen zuzurüsten, damit sie versöhnende und heilende Gemeinschaften werden können?

  • Wie können die Kirchen diejenigen unterstützen, die in besonderer Weise zum Dienst der Versöhnung berufen sind und besondere Gaben für diesen Dienst empfangen haben?

 

1 Mission und Evangelisation in Einheit heute, angenommen als Studiendokument von der ÖRK-Kommission für Weltmission und Evangelisation auf ihrer Tagung im Jahr 2000. Ursprünglich wurde es in der International Review of Mission (IRM) Januar/April 1999 veröffentlicht und ist jetzt in einer leicht überarbeiteten Fassung als CWME-Konferenzvorbereitungspapier Nr. 1 auf der Konferenz-Webseite www.mission2005.org zugänglich gemacht worden.

2 Klaus Schäfer (Hrsg.), Zu einer Hoffnung berufen. Das Evangelium in verschiedenen Kulturen, Verlag Otto Lembeck, Frankfurt am Main 1999, S. 120 und 121. Akte der Verpflichtung der Konferenz für Weltmission und Evangelisation in Salvador da Bahía 1996.

3 Mission und Evangelisation in Einheit heute, op. cit., § 39

4 Ibid., § 13

5 Sowohl für die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung als auch die Gemeinsame Arbeitsgruppe der römisch-katholischen Kirche und des Ökumenischen Rates der Kirchen steht das Thema der gemeinsamen Taufe ganz oben auf der Tagesordnung.

6 ÖRK-Einheit II, Kirchen in Mission: Gesundheit, Bildung, Zeugnis: Vorbereitungsmaterial für die Sektionsarbeit, Konferenz für Weltmission und Evangelisation, Salvador de Bahía. Genf, ÖRK, 1996. Mission und Evangelisation in Einheit heute, op. cit., § 62

7 Drei Zitate aus Mission und Evangelisation heute, op. cit., §§ 13, 9 und 13

8 Ibid., §14

9 John V. Taylor, The Go-Between God: the Holy Spirit and Christian Mission, SCM, London 1972

10 „Die Herausforderung des Proselytismus und die Berufung zu gemeinsamem Zeugnis“, Anhang C des Siebten Berichts der Gemeinsamen Arbeitsgruppe der römisch-katholischen Kirche und des Ökumenischen Rates der Kirchen, ÖRK-Verlagsbüro, Genf 1998, S. 64, §§ 8 und 9

11 Mission und Evangelisation in Einheit heute, op. cit., § 7

12 Siehe Ökumenische Erwägungen zum Dialog und zu den Beziehungen mit Menschen anderer Religionen. 30 Jahre Dialog und überarbeitete Leitlinien.