Erhältlich in:

Olav Fykse Tveit

Andacht, Karlsruhe, 28. Februar 2019:

„Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt.“

 

Das Thema der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen spricht den Kern unseres Glaubens an. Es appelliert insbesondere an unser Verständnis davon, was es bedeutet, eine Gemeinschaft des Glaubens zu sein, des christlichen Glaubens, unseres Glaubens in Christus. Ohne Christus gibt es keine Kirche und auch keinen Glauben der Kirche. Ohne die Liebe Christi gibt es weder eine Identität noch macht es Sinn, gemeinsam ein Ökumenischer Rat der Kirchen zu sein.

Das Thema wird uns helfen, die Beziehung zwischen Kirche sein einerseits und Welt sein andererseits zu überdenken und vielleicht neu zu definieren, besonders die Frage, warum wir dazu berufen sind, in der Welt Kirche zu sein. Wo sonst soll die Kirche sein? Doch greift das Thema auch die Frage auf, was es bedeutet, Teil einer Bewegung zu sein, ein Rat zu sein, eine Gemeinschaft, die definitionsgemäß der Welt dient im Streben nach Gottes Heilsplan für Versöhnung und Einheit.

Das Thema umfasst Wörter – mehrere Wörter – auf die wir genauer eingehen wollen. Dies wird in der kommenden Zeit auf viele Arten geschehen und hat bereits begonnen. Anstatt diese bedeutsamen und aussagekräftigen Wörter des Themas eins nach dem anderen zu erörtern, möchte ich mir anhand einer Geschichte Gedanken zum Thema machen. Es ist eine biblische Geschichte, ein Gleichnis, erzählt von Jesus. Es ist eines der bekanntesten Gleichnisse und eine Geschichte, auf die wir uns in unseren Kirchen oft beziehen – was an sich schon viel darüber aussagt, wie die Liebe Christi die Welt bewegt.

Lesen wir nun den Text und machen wir uns Gedanken darüber, warum dies eine Geschichte ist, oder gar DIE Geschichte, die den Kern unseres Glaubens, wie er im Thema unserer nächsten Vollversammlung ausgedrückt wird, besser in Worte fasst, als jede andere Geschichte:

Lukas 15,11-32

Bei dem Gleichnis geht es um einen verlorenen Sohn. Meistens wird das Gleichnis auch nach diesem anschaulich beschriebenen und verständlichen Teil der Geschichte benannt. Doch geht es ebenso um den anderen Sohn, der nicht in der Lage ist, sich zu versöhnen und über die Bewegung im ersten Sohn zu freuen. Vor allem aber ist es eine Geschichte über den barmherzigen, gnädigen, großzügigen, versöhnenden und einenden Vater.

Das Gleichnis spricht uns auf viele Arten an. Als Lutheranerinnen und Lutheraner erkennen wir in dieser Geschichte, was Luther vor allen anderen Dingen suchte: einen gnädigen Gott, der den Sündern Versöhnung und Heil anbietet, wenn Sie Gott vertrauen, und sich dadurch in Erwartung und Glauben Gott hinwenden. Sogar das Körnchen Glauben, das bewirkt, dass wir uns Gott hinwenden, ist eine Gabe Gottes, eine Erinnerung daran, wozu wir geschaffen wurden. Und ganz gleich in welcher Lage wir uns befinden oder was unsere Taten sind, es gibt eine offene Tür und eine offene Umarmung für jeden Menschen, sogar für diejenigen, die aus den selbstzerstörerischsten, furchtbarsten oder unmenschlichsten Situationen kommen.

In diesem Gleichnis zeigt Jesus, was die Liebe Gottes bedeutet. Sie ist bedingungslos, sie ist weitreichend, sogar aus großer Distanz. Und sie reicht auch über alle Arten von Grenzen und Praktiken hinweg, die wir uns in unseren Kulturen, Familien, Gemeinschaften oder gar Religionen vorstellen können. Die Arme Gottes sind in Jesus Christus offen für jeden einzelnen Menschen.

Eine solch radikale Liebe ist bis zu einem gewissen Grad unergründlich. Und doch ist sie wirklich. Das Kreuz und die Auferstehung Christi liefern uns den Beweis dafür.

Mit dem Höhepunkt des Gleichnisses – wie Lukas es formuliert – richtet sich Jesus an die mächtigen, gebildeten und frommen, rechtschaffenen Führungspersonen („die Pharisäer und die Schriftgelehrten“). Deshalb geht es bei dieser Geschichte gleichermaßen um den „älteren Sohn“, der diese radikale Liebe weder verstehen noch akzeptieren kann. Er kann nicht verstehen, dass die gleiche Liebe und die gleiche Großzügigkeit auch für ihn gelten; jeden Tag. Auch an diesem Tag, an dem der jüngere und ausufernd lebende Bruder zurückkehrt und als derjenige gefeiert wird, der wieder da ist und der einen Prozess der Umkehr durchgemacht hat.

Die Liebe des Vaters hat eine gegenseitige Dimension. Als eine Erinnerung bleibt sie im verlorenen Sohn, auch oder gerade im schlimmsten Moment der Wahrheit über sich selber. Die Erinnerung an das Haus und die Zuwendung seines Vaters geben ihm den Mut, sich auf den Weg zu machen. Zurückzukehren. Die Bewegung in der Liebe Christi führt uns auch dazu, zu gehen, zurück zu Gott, um einen tieferen und besseren Sinn des Lebens zu finden. Die Liebe Christi bewegt sich auf uns zu und zieht uns hin zu Gott. Es ist eine Bewegung im Leben und in der Welt, in der wir leben. Die Liebe Gottes bewegt die Welt, wie sie ist, wenn die Liebe verbunden ist mit unserer Antwort, unserem Wunsch nach Wandel, unserem Wunsch nach einer neuen Realität.

Doch die Liebe Christi bewegt auch die zwei Brüder zueinander hin. Der jüngere bewegt sich zurück nach Hause. Doch auch der ältere erlebt eine Begegnung. Der Vater kommt zu ihm und bittet ihn, am Fest teilzunehmen, an der Gemeinschaft, der Beziehung mit dem anderen Sohn.

Wo also bewegt die Liebe Christi die Welt? Es gibt eine Bewegung in zwei Richtungen: hin zu Gott und zueinander hin.

Die Bewegung hin zu Gott ist eine Bewegung von Gottes Welt, von Gottes Schöpfung, von Gottes geliebter menschlicher Familie. Es ist eine Bewegung weg von den Entfernungen, den Trennungen und der Zerstörung, in die wir uns selber bringen können. Es ist eine Bewegung dahin, wo wir im anderen Gottes Gesicht erkennen, ganz besonders in denjenigen Menschen, die oft ausgegrenzt werden.

Die andere Bewegung ist folglich eine Fortsetzung dieser gleichen Bewegung hin zu Gott; es ist die Bewegung zueinander hin. Die Bewegung hin zu Versöhnung und Einheit. Es ist nicht ein Prozess, in dem Fehler und Versagen verdeckt werden, und auch kein System der Straffreiheit, sondern eine Bewegung zueinander hin, die die Liebe Christi widerspiegelt. Ihre Wirkung auf uns alle liegt in ihrem radikalen „Nein“ zur Sünde und „Ja“ zur Sünderin und zum Sünder.

Die Liebe Christi hat das Potential und die Macht, uns zu Gott und deshalb auch zueinander hin zu bewegen und so Gerechtigkeit und Frieden in Gottes Welt zu bringen.

Das auf Christus ausgerichtete Thema steht nicht im Widerspruch mit der integrativen und gnädigen Art, in einem postchristlichen Kontext gemeinsam Kirche zu sein. Ganz im Gegenteil. Das Thema liefert uns ein glaubwürdiges und wahres Beispiel des gemeinsamen Zeugnisses in einem multireligiösen und multikulturellen Kontext. Uns auf die Liebe Christi zu konzentrieren hilft uns auch zu erkennen, was in den Kirchen und in der Welt, in der wir alle leben, nicht dieser Liebe entspricht, und dagegen anzutreten.

Dies ist der Weg in die Zukunft für die eine ökumenische Bewegung.

Dietrich Bonhoeffer hat sich darüber Gedanken gemacht, wie wir Kirche (und eine Bewegung) sein können, in der wir nicht so an „Religion“ gebunden sind, dass religiöse Formen und Ausdrücke uns daran hindern, gemeinsam durch die Liebe Christi auf eine wahre Art bewegt zu werden. Doch es ist nicht eine gottlose Welt, in der wir uns bewegen oder in die wir eintreten; wir sind immer in Gottes Welt. Dies ist die Welt, die Gott so sehr geliebt hat, dass er seinen eingeborenen Sohn gab. Dies ist die Welt, die immer noch von der Liebe bewegt werden kann und ist.

Nicht mehr. Und nicht weniger.

Amen