27. Oktober 2016, Universität Heidelberg.
Pastor Dr. Olav Fykse Tveit, Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen

1.     Gegenseitig Rechenschaft Ablegen– eine gemeinsame Agenda der Reformation und der ökumenischen Bewegung heute?

Gegenseitig Rechenschaft Ablegen (mutual accountability) muss ein zentraler Aspekt des Gedenkens an die Reformation sein. Wird eine Institution oder eine Ideologie eindimensional und selbstherrlich gefeiert, kann  dies der Welt keine neuen Perspektiven eröffnen, die über den Stolz auf den Erfolg und das Machtgefühl derjenigen, die sich damit identifizieren, hinausgehen. Diese Gedenkfeiern haben nur dann einen Wert, wenn sich die Beteiligten wechselseitig voreinander Rechenschaft ablegen und ihre Verantwortung füreinander wahrnehmen. Das bedeutet, dass wir uns offen und selbstkritisch fragen müssen:

-        Was haben wir gelernt?

-        Welche wichtigen und signifikanten Erkenntnisse haben wir aus dieser besonderen  Geschichte gewonnen?

-        Wie wurde diese Geschichte umgedeutet oder sogar missbraucht?

-        Welchen Nutzen können wir daraus für unsere Zukunft und unser gemeinsames Leben gewinnen?

Der effektivste und zweckmäßigste Ansatz für Menschen christlichen Glaubens und für die Kirche besteht darin, ungeachtet aller Geschehnisse in früheren Zeiten die Gegenwart und die Vergangenheit in Rechenschaft vor Gott zu betrachten. Vor Gott zu stehen, bedeutet gleichzeitig, unsere Rechenschaftspflicht gegenüber der gesamten Schöpfung Gottes und besonders derjenigen anzuerkennen, die nach Gottes Bild geschaffen wurden, des Menschen und der einen Menschheit. Wenn wir aus einer Jubiläumsveranstaltung wirklich etwas lernen wollen, dann sind wir gut beraten, sie im Geiste einer gegenseitigen Rechenschaftspflicht gegenüber Gottes Schöpfung zu begehen, aus der wir durch die Bekräftigung der empfangenen und geteilten Gaben lernen - und durch konstruktive Kritik.

Sich gegenseitig Rechenschaft abzulegen ist ein zentraler Aspekt, der die ökumenische Bewegung als eine Kirchengemeinschaft ins Leben gerufen hat. Dies habe ich in meinem Buch The truth we owe each other. Mutual accountability in the ecumenical movement gezeigt[1]. Es geht eigenlich nicht um eine Pflicht, sondern um eine Haltung. Gegenseitige Rechenschaftspflicht nehmen wir wahr, wenn wir unsere Fragen in transparenter, offener, bescheidener und konstruktiver Weise stellen und sie ebenso beantworten, um zu erfahren, was wir mit unserem gemeinsamen Vermächtnis als Kirchen, mit dem Evangelium und der einen kirchlichen Tradition getan haben. Wechselseitig voreinander Rechenschaft ablegen bedeutet, sich gemeinsam im Dialog zu fragen, wie wir mit den Unterschieden und Spaltungen umgehen, die sich entwickelt haben, und wie wir anwaltschaftlich mit diesem Vermächtnis umgehen. Das führt uns auch zu der Frage, wie wir gegenseitig rechenschaftspflichtig sind gegenüber den Werten und Erkenntnissen, die wir bekräftigen und gemeinsam teilen, und wie wir aus diesem Grunde versuchen, einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu finden. Wir müssen zeigen, dass wir bereit, Rechenschaft voreinander abzulegen, zuverlässig und ehrlich sind. In all diesem sind wir gegenseitig rechenschaftspflichtig in der Frage, wie das Evangelium verkündet wird, damit diejenigen, an die es sich wendet, das Evangelium  wirklich als Worte der Befreiung, Transformation und Hoffnung empfangen können, die die Heilige Schrift für die Kirche und die Welt in jeder Generation und in jedem Kontext bereithält.

Das Evangelium des letzten Sonntags mit dem Gleichnis von Pharisäer und Zöllner in Lukas 18,9-14 zeigt in eindeutiger Weise den Unterschied zwischen Egozentrismus und Stolz auf der einen Seite und der Erkenntnis andererseits, was es bedeutet, umfassend Rechenschaft darüber abzulegen, wer wir als Sünder vor Gott sind. Wir hängen allein von Gottes Gnade ab. Dieses Evangelium zeigt den Zusammenhang zwischen Gottes Geschenk der Gnade, der Rechenschaftspflicht  und der Buße.

Meine These lautet, dass es im Kern der Problematik, die Martin Luther zu seinem Disput über die wirkliche Bedeutung der Buße veranlasst hat, um ein Gefühl der Rechenschaftspflicht, ja sogar der gegenseitigen Rechenschaftspflicht in seinen Thesen vom 31. Oktober 1517 ging. Sein offenes Vorgehen war ein akademisches Privileg auf der Suche nach der Frage, wie die Kirche einen besseren Weg der Rechenschaft gegenüber der Schrift und dem Evangelium finden könnte, damit die Rechenschaftspflicht der Gläubigen einen angemessenen Ausdruck findet. Dies sollte ganz sicher der Kirche und den Gläubigen und auch ihm selbst dienen. Im Gedenken an diese Ereignisse können wir in einem offenen Diskurs lernen, welchen Wert die Buße als eine Macht der echten Befreiung und Transformation hat, und wie man vermeiden kann, dass sie so entstellt wird, dass weder die Kirche noch die Gläubigen Gott und anderen gegenüber tatsächlich rechenschaftspflichtig sind.

2.    Das Erfordernis der Rechenschaftspflicht und der Reformation in der Kirche und in der Welt

Viele der heute geführten ökumenischen Diskussionen im Vorfeld des 500. Reformationsjubiläums im kommenden Jahr blicken auf die Ereignisse des 16. Jahrhunderts zurück, die zur Spaltung der Kirche  geführt haben und in deren Folge es zu weiteren theologischen, politischen und kulturellen Spaltungen und Konflikten gekommen ist. Aus dieser Perspektive hat sich die Frage gestellt, was wir aus den Ereignissen lernen können, die wir als Reformation bezeichnen, und welches Potenzial wir darin für Veränderungen in der heutigen Zeit aus Sicht der Reformation erkennen können.[2]

Der ökumenische Dialog über die Reformation gelingt am besten, wenn es um den Prozess der „Heilung von Erinnerungen“ geht - eine wichtige Dimension der Friedensarbeit der ÖRK-Mitgliedskirchen in Nordirland, Südafrika und vielen anderen Ländern. Ich möchte Kardinal Reinhard Marx und dem Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm zur gemeinsamen Veröffentlichung der Deutschen römisch-katholischen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Titel „Erinnerungen heilen" gratulieren, die sie vor kurzem der Öffentlichkeit vorgestellt  haben[3].

Andere haben interdisziplinäre Forschungen entwickelt -  hier ist das Projekt „Radicalizing Reformation" (Die Reformation radikalisieren) zu nennen. Es zeigt, dass die Reformation zu einem Zeitalter profunder Veränderungen und Transformationen der Weltgeschichte zählt und zu unserer modernen Welt mit ihrer tiefgreifenden Bedrohung des Lebens unserer und zukünftiger Generationen geführt hat. Einer der Initiatoren dieses Projektes war Ulrich Duchrow hier aus Heidelberg.

Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und den Begriff „ökumenisch" als „Haus der lebendigen Steine“ im Sinne  der weltweiten Gemeinschaft christlicher Kirchen sowie als „Gottes Haushalt des Lebens“ interpretieren, womit die gesamte Schöpfung einbezogen ist. Erinnert man sich an den Impuls, den die Reformation für die Transformation der Kirche und der Gesellschaft zur damaligen Zeit bedeutet hat, lautet meine Frage: Welche Erneuerung der Kirchen und der Theologie sind erforderlich angesichts der Bedrohung des Lebens und des Überlebens der Menschheit, mit der wir heute konfrontiert werden? Meine ökumenische Erfahrung sagt mir, dass es hier keine allgemeingültige Antwort und auch keine fertige Pauschallösung gibt. Niemand hat hier allein ein vollständiges Bild der Situation. Wir müssen vielmehr unbedingt verstehen, welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit wir uns als eine vielfältige Gemeinschaft auf den Weg der Gerechtigkeit und des Friedens begeben können, und inwiefern der Kern unseres christlichen Glaubens einen Beitrag zur Bewältigung der wichtigsten Herausforderungen leisten kann, die auf unserem Weg als Menschheit vor uns liegen.

In anderen Worten: Was bedeutet es, und was erfordert es, heute gemeinsam unterwegs zu sein und

-        Christus zu folgen

-        nach Zeichen des kommenden Reichs Gottes Ausschau zu halten

-        den Weg zu erkennen, auf dem uns der Heilige Geist leitet?

und all dies in gegenseitiger Rechenschaftspflicht zu tun? Was bedeutet dies in einem multikulturellen und multireligiösen Kontext, in dem starke Eigeninteressen von Einzelpersonen, Gruppen und sogar Nationen den erforderlichen Wandel blockieren und Konflikte und Kriege zum Schaden menschlicher Gemeinschaften und des gesamten Lebens auf dieser Erde befeuern?

Oder kurz gesagt: Was bedeutet es, auf einem Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens in der heutigen Welt mit Menschen guten Willens aus unterschiedlichen Kulturen und Glaubensgemeinschaften unterwegs zu sein? Als Generalsekretär des ÖRK habe ich mir diese Frage  jeden Tag gestellt, seit die Zehnte Vollversammlung 2013 in Busan, Republik  Südkorea alle Kirchen und alle Menschen guten Willens aufgerufen hat, sich auf dem Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens an  transformativen Handlungen zu beteiligen.

Bevor wir uns näher mit diesen Fragen befassen, möchte ich zunächst einige der Erkenntnisse der jüngsten Vergangenheit zusammenfassen. Der Titel „Das Reformationsjubiläum - ein ökumenisches Ereignis?" erinnert uns daran, dass es auf dem Weg zu einem gemeinsamen ökumenischen Gedenken des 500. Reformationsjubiläums Schwierigkeiten gegeben hat. Kardinal Kurt Koch und andere haben auf die Tatsache  hingewiesen, dass die Reformation zu einer Glaubensspaltung in der westlichen Kirche und in der Folge zu Konflikten und Kriegen in Europa geführt hat. Diese Realitäten würden den Jubiläumsfeierlichkeiten im Wege stehen.

Meine erste Auseinandersetzung mit der Frage des 500. Reformationsjubiläums fand vor mehr als zehn Jahren  im Ökumeneausschuss des Lutherischen Weltbundes statt. Ich forderte damals, dass die Ergebnisse der ausführlichen ökumenischen Dialoge die Grundlage für das Reformationsgedenken sein sollten. Sollte es einen Widerspruch zwischen einem 500-Jahres-Jubiläum mit positiver Konnotation einerseits und der kritischen Betrachtung aller dramatischen Konsequenzen der Spaltungen andererseits geben, die während und nach der Reformation erfolgt sind, so sollte dieser meiner Meinung nach in einer gemeinsamen Feier des Evangeliums überwunden werden. War dies nicht auch der zentrale Punkt der kritischen Fragen und der besten Absichten von Luther und anderen Reformern? Und wurde dies nicht von allen durch die theologischen Gespräche als zweckmäßig und erforderlich angesehen angesichts der Realität der Kirche zur Zeit Martin Luthers?.

Ich stelle erfreut fest, dass diese Phase der Diskussion über das Profil und den Zweck des Gedenkens dieser 500 Jahre eindeutig hinter uns liegen. Die Kirchen werden ein Fest feiern, bei dem das Evangelium Christi im Mittelpunkt steht - „ein Christusfest“. Es ist bemerkenswert, dass protestantische und katholische Gläubige gemeinsam die Verantwortung für die Konflikte und Kriege nach der Reformation übernehmen. Die beiden gemeinsamen Publikationen „Vom Konflikt zur Gemeinschaft"[4] des Lutherischen Weltbundes und Erinnerungen heilen der deutschen Kirchen zeigen, wie die Kirchen an den Fortschritten des ökumenischen Dialogs seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil beteiligt waren und jetzt gemeinsam davon profitieren.

In diesem Geiste laufen die Vorbereitungen der gemeinsamen Feier mit Papst Franziskus und den Vertretern und Vertreterinnen des Lutherischen Weltbundes am 31. Oktober in Lund.  Ich freue mich darauf, an dieser Veranstaltung als Vertreter der gesamten Gemeinschaft des Ökumenischen Rates der Kirchen teilnehmen zu können. Diese Veranstaltung hat eine große Relevanz und ist für die gesamte ökumenische Gemeinschaft von Bedeutung. Im Rahmen dieser Feierlichkeiten in Lund werden Caritas Internationalis und der Lutherische Weltdienst eine Absichtserklärung über weitere gemeinsam zu unternehmende Arbeiten unterzeichnen. All dies sind vielversprechende Zeichen für eine lebendige ökumenische Zusammenarbeit in gegenseitiger Rechenschaftslegung. In der Tat ernten wir jetzt einige der Früchte des gemeinsamen Gespräche, die wir in der Vergangenheit geführt haben.

Es ist ebenfalls erforderlich, dass die Reformation nie aus einer rein kirchlichen oder einer rein weltlichen Perspektive betrachtet wird. Der Umfang der gegenseitigen Rechenschaftspflicht muss die religiöse Dimension einbeziehen, kann aber nicht darauf reduziert werden. Wir sind auch jenseits der Kirche gegenüber unseren Mitmenschen in allen Dimensionen des Lebens zur wechselseitigen Rechenschaft gerufen. Die Erkenntnisse sozialer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Forschungen leisten einen Beitrag zu einem ganzheitlicheren Verständnis der Reformation in beiden Sphären. Die Reformation war Teil eines umfassenderen historischen Prozesses, der den Weg in den Kolonialismus und in die Moderne geebnet hat. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zeigt eindeutig, dass ein theologisch-kirchlicher Denkansatz allein niemals ausreicht, um die Dynamik von Veränderungen in einem historischen Prozess zu verstehen.

In der deutschen katholischen und lutherischen Sichtweise scheint es zum Beispiel auf der Hand zu liegen, auf den 31. Oktober 1517 zu blicken, als Martin Luther seine 95 Thesen zur Aufklärung gegen den Ablass veröffentlicht hat. Aus diesem Grund wird dieses Datum als der Beginn der lutherischen Reformation angesehen. Betrachtet man diese Ereignisse aber aus einer umfassenderen europäischen und weltweiten Perspektive, wird offensichtlich, dass wir auch Männer wie Zwingli,  Calvin und Hus nicht vergessen dürfen, die ebenfalls Katalysatoren des Wandels bereits vor der Reformation Luthers waren und deren Bewegungen sich parallel dazu entwickelten. Die Gründung der Anglikanischen Kirche und neuer protestantischer Kirchen in der englischsprachigen Welt sind ebenfalls zu berücksichtigen. Historische Akteure wie Luther, Kardinal Cajetan, Friedrich der Weise von Sachsen, König und später Kaiser Karl V. oder die Familie Fugger, aber auch König Heinrich VIII. und reiche Kaufleute in Amsterdam und Antwerpen, Hamburg und London, die diese neue theologische Strömung unterstützten, waren sich ihres eigenen Kontextes vollauf bewusst. Dieser Kontext beinhaltete die beginnende Kolonialisierung von Ländern in Lateinamerika, Afrika und Asien mit  neuen Möglichkeiten für den globalen Handel, aber auch den Aufstieg des osmanischen Reiches.  Der Deutsche Martin Behaim demonstrierte bereits 1492 mit einem „Erdapfel" in Kugelform den Welsern und anderen reichen Banken- und Handelshäusern in Nürnberg die neuen Realitäten einer sich radikal verändernden Welt.  Die Reformation ist untrennbar verbunden mit einem lang anhaltenden Prozess der Globalisierung, der sich mit dem Kolonialismus und dem Neokolonialismus weiter beschleunigte.

Wir erleben die Entstehung einer modernen Welt mit einer weltumspannenden, aber geteilten Christenheit und mit einem globalen Wettbewerb um wirtschaftliche und politische Macht in Verbindung mit bedeutenden technischen Fortschritten. Das ist der historische Hintergrund der zunehmenden Ungleichheiten, wirtschaftlicher Ungerechtigkeiten und der Ansprüche auf Hegemonie ausgerichteter politischer und militärischer Macht als Nährboden für die sich gegenseitig verstärkende ökonomische, ökologische und soziokulturelle Krise unserer Tage. Natürlich ist die Reformation nicht der Ursprung all diese Entwicklungen, aber sie entfaltet sich im Kontext all dieser Trends.

Die Reformation hat die Entwicklung der Moderne und der Demokratie mit zahlreichen Impulsen befördert und durch die Missionsarbeit zu einer Globalisierung der Christenheit in all ihrer Vielfalt  beigetragen. Konrad Raiser hat diese Dimensionen der Reformation in seiner jüngst veröffentlichten Studie über diese Thematik erforscht und dabei die Perspektive der Kirchen weltweit und ihrer Beziehungen durch die ökumenische Bewegung eingenommen.[5] Wir befinden uns heute in einer Situation, die die Entwicklung neuer Formen des Teilens, der Zusammenarbeit und ökologisch verträglicher Lebensweisen erfordert, in der jedoch in kontraproduktiver Weise die Fähigkeit und der Wille dazu unterminiert werden durch Reaktionen auf globale Trends und Kräfte, die oftmals kulturelle und religiöse Besonderheiten verstärken. Dies ist eine gemeinsame Eigenschaft populistischer politischer Bewegungen, des religiösen Fundamentalismus und anderer Rechtfertigungen für Gewalt, die auch Gruppen in den Kirchen betreffen. Sie alle weigern sich, von anderen zur Verantwortung gezogen zu werden, die nicht zu ihrer Gruppe gehören.

3.    Die Relevanz der 95 Thesen Luthers für die ökumenische Bewegung als Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens heute

Wenn ich hier in Heidelberg zu Ihnen spreche, bin ich mir der Tatsache bewusst, dass die Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert werden, bereits von Persönlichkeiten wie  Georg Picht, Heinz Eduard Tödt, Günther Howe und Carl Friedrich von Weizsäcker erkannt worden sind. Die Arbeit der FEST, der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, hat für die Zukunft der Menschen wichtige Fragen bereits interdisziplinär thematisiert und arbeitet weiter in dieser Richtung. Aufgrund der Erfahrungen aus zwei Weltkriegen, des Holocausts und des Wissens um die zerstörerische Kraft von Atomwaffen hat die Gründergeneration der FEST verstanden, dass unsere Zeiten neue Formen der weltweiten Zusammenarbeit erfordern, die alle Dimensionen des Lebens umfassen. Diese Erkenntnis hatte auch signifikante Auswirkungen auf die Agenda des Ökumenischen Rates der Kirchen im Laufe seines fast 70 jährigen Bestehens.

Der Friede, wie sie sagten – und ich füge hinzu Gerechtigkeit für Menschen und Mitweltelt – ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Überleben der Menschheit. Es gibt nur eine gemeinsame Zukunft und Hoffnung für alle, oder es gibt gar keine Hoffnung für die Zukunft.

Diese FEST-Gründergeneration hat erkannt, dass keine der bestehenden Kulturen und Religionen wirklich auf die Art der sozialen und kulturellen Veränderungen vorbereitet war, die für globale Gerechtigkeit und dauerhaften Frieden erforderlich wären. Tatsächlich haben viele von ihnen dies auch als eines – wenn nicht sogar das wichtigste – der zugrundeliegenden Probleme erkannt. Weder der postmoderne Relativismus noch die Versuche, Abkommen auf der Grundlage einer Mindestanzahl gemeinsamer Grundsätze zu schließen, sind genug. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und nachfolgende Menschenrechtsabkommen haben einen Weg in die Zukunft gezeigt. Es ist aber nicht zu übersehen, dass ihre Ursprünge auf der nördlichen Halbkugel mit ihren christlichen Wurzeln liegen.  Der Gegensatz zwischen „uns“ und „denen“ dominiert das Denken und Handeln in einer Zeit, in der wir eigentlich von „uns“ als einer weltweiten Gemeinschaft sprechen  und dabei die Unterschiede und das Anderssein des anderen anerkennen müssten.

Theologisch gesehen ist die Unfähigkeit, in verantwortungsvoller Weise mit dem anderen Menschen oder mit dem Nachbarn umzugehen, ein Zeichen der Zerbrochenheit der Gemeinschaft und des Bruchs mit den anderen und mit Gott. Eine solche Zerbrochenheit grundlegender Beziehungen wird in der biblischen Tradition als Sünde bezeichnet. Die Sünde ist eine Realität, die menschliche Beziehungen zerstört und unterwandert und damit auch das Leben, das uns als menschliche Wesen in Gottes Schöpfung geschenkt wurde. Sie ist eine destruktive Wirklichkeit in unserem eigenen Leben. Um unser Leben und neue Beziehungen aufzubauen, ist eine Art Hinwendung zu unseren Mitmenschen erforderlich – ein neues, inklusiveres Verständnis von Identität, das die materielle, moralische und spirituelle Dimension des Lebens mit einschließt.

Mir erscheint es sinnvoll, diese implizite Dimension der heutigen Herausforderungen mit Hilfe der Kategorien der Reformation anzusprechen. Angesichts der profunden Neuorientierung, die wir brauchen, möchte ich eine einzige Dimension hervorheben und mich dabei auf Luthers erste These beziehen, die er in Wittenberg an die Tür geschlagen hat:

Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: "Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.

(Mt 4,17)

Die Sünde ist real, und sie sie untergräbt das Leben der einzelnen Menschen und der Gemeinschaften.  Es gibt keine Möglichkeit, der Realität der Sünde durch Geld, Macht, Ignoranz, fromme Handlungen, Kirchendoktrine, Ämter oder durch andere Mittel zu entgehen. Es führt kein Weg an Buße, Umkehr und Erneuerung vorbei.

Buße ist die Möglichkeit, Rechtfertigung durch Gnade zu erreichen und von den Fesseln der Sünde befreit zu werden. Buße führt zu einer Umkehr, die alle Dimensionen unserer Identität erfasst. Ihr Horizont ist die Erneuerung des Lebens im Tod und in der Auferstehung Christi und die Gabe des Heiligen Geistes.

Luther sagt, dass der Begriff der Buße nicht als ein definitives und einmaliges Konzept zu verstehen  ist. Es ist vielmehr eine Haltung und eine Seinsart, die Aufmerksamkeit gegenüber der kritischen Stimme, ein Verständnis für die Dimension der Tragödie und die Bereitschaft beinhaltet, die Realität des Falschen anzuerkennen. Es geht ebenfalls um die Haltung, aufmerksam auf die Stimme Gottes und seiner totalen Vergebung zu hören, nicht um einen Handel zu akzeptieren, sondern als Bereitschaft, die Richtung des Lebens zu ändern und sich mit den Bedürfnissen anderer Menschen zu befassen. Das gilt besonders für die Armen und diejenigen, die Sicherheit und Gerechtigkeit fordern und deren Rechte und Würde anerkannt werden müssen. Der Weg hin zu Gerechtigkeit und Frieden ist der Weg zu Buße, Umkehr und Erneuerung. Die Vorwegnahme des Ziels, das bereits der Weg ist, führt uns in der Tat auf einen Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens.

Das bedeutet mit anderen Worten, dass echte Buße auch Rechenschaft gegenüber unserer Vergangenheit als Individuum und Gemeinschaft bedeutet, in den Kirchen und als Völker (confessio). Echte Buße bedeutet, den konkreten Willen zu Veränderungen zu haben und den anderen und besonders den weniger Privilegierten und den Opfern unserer Taten in der Vergangenheit und der Gegenwart gut zuzuhören (contritio). Echte Buße bedeutet konkrete Transformation und die beständige Bereitschaft für einen Transformationsprozess, bei dem es darum geht, wie der andere – der andere Mensch und auch die Gesamtheit der Schöpfung – durch mich und unsere Haltungen und Taten in konstruktiver oder destruktiver Weise betroffen wird (satisfactio). Transformation ist das eigentliche Wesen des Pilgerwegs der Gerechtigkeit und des Friedens, auf dem es um die Bedürfnisse der Armen im weitesten Sinne dieses Begriffs geht, und damit sind auch die weniger Privilegierten, die Opfer und die Unterdrückten gemeint im Sinne des theologischen Prinzips der „vorrangigen Option für die Armen“.

Für mich ist die gegenseitige Rechenschaftspflicht eine Haltung und eine Form unseres Zusammenlebens und des Vertrauens in das Evangelium, wenn es um unser aller Wunsch geht, von den Mächten der Sünde befreit zu werden und nach den Werten des Reichs Gottes zu leben.

4.  Migration und die Notwendigkeit der Buße

In der Realität müssen wir anerkennen, dass es im Leben eines Menschen, einer Nation oder einer Kultur niemals einen Zeitpunkt gibt, an dem wir die Haltung der Bußfertigkeit als obsolet ansehen können. Der Fortbestand von Ungerechtigkeit, Rassismus, Kriegen, Mord, Verfolgung und Verzweiflung, der Menschen dazu zwingt, ihre Heimat und ihre geliebten Familien zu verlassen, erinnert uns daran, dass dies keine Vergangenheit ist, sondern heute zur Lebensrealität in Europa und auf der ganzen Welt gehört.

Wir erinnern uns an die Flüchtlingskonventionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschlossen wurden und die eine Reaktion auf die Schutzbedürfnisse so zahlreicher europäischer Flüchtlinge waren – Deutsche, Polen, Ungarn, Tschechen und so viele andere, die unter der brutalen Wirklichkeit nach der Katastrophe (des Krieges) und den späteren Auswirkungen der Teilung Europas und des Kalten Krieges zu leiden hatten. Diese Probleme hörten nicht auf. Heute gibt es zahlreiche Menschen aus Nachbarregionen in Asien, dem Nahen Osten und Afrika, die ebenso schutzbedürftig sind und eine neue Heimat brauchen. In Ihrem Umgang mit den Menschen, die in Ihr Land kommen, haben Sie mit Ihren politischen Entscheidungen und humanitären Aktionen gezeigt, dass Sie sich an Ihre eigene Geschichte erinnern.  Als aktive Teilnehmende in der Zivilgesellschaft, in den Kirchen und in anderen Gemeinschaften haben Sie die klare Überzeugung gezeigt, dass dieses Engagement für den Mitmenschen aus dem Anspruch entsteht, Mensch und Christ zu sein. [6]

Solche Reaktionen zeigen eine ernsthafte Selbstverpflichtung, sich Luthers Vorstellungen von Buße und Reue zu eigen zu machen. Wir alle, Deutsche und ebenso alle anderen Europäer, müssen uns immer der Versuchung bewusst sein, sich mit den Realitäten der Sünde in allen ihren Formen, ob alt oder neu, gemein zu machen. Als Europäer sind wir alle anfällig für diese Versuchungen und müssen deshalb der Tendenz widerstehen, die Notwendigkeit einer kritischen Selbsteinschätzung zu ignorieren.

In den Vereinigten Staaten von Amerika wird Rassismus heute als „Amerikas Erbsünde“ diskutiert. Das Land erlebt die Dimensionen und Manifestationen des Rassismus als allgegenwärtig in der Gesellschaft, für den Rest der Welt offensichtlich erkennbar gerade in den vergangenen Jahren. Als Europäer sollten wir uns selbst diesen Spiegel vorhalten: Was ist unsere Erbsünde? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt müssen wir zugeben, dass die Vorkommnisse in den USA eine Folge der europäischen Einwanderung sind, die in eurozentrischen Vorstellungen von der Überlegenheit und Privilegiertheit der weißen Rasse wurzeln.

Viele von uns haben heute immer noch Probleme damit zu verstehen, wie wir es zulassen konnten, dass solche destruktiven Vorstellungen wie die des „Übermenschen“ in unserer Vergangenheit einen solchen Stellenwert bekommen konnten und bis heute fortbestehen in einem Maße, dass heute, da ich zu Ihnen spreche, rassistische und fremdenfeindliche Rhetorik im öffentlichen Raum nicht nur in Nordamerika, sondern auch hier in Europa gesellschaftlich akzeptiert und respektiert wird.

Wie können wir die scheinbar normale Reaktion des Selbsterhalts und des Selbstschutzes, die sich im Misstrauen gegenüber dem Fremden und den Andersgläubigen manifestiert, überwinden?  Wie erreichen wir eine echte und konstruktive Bußfertigkeit, die uns auf den Weg einer gegenseitigen Rechenschaftspflicht führt?

Es geht darum, die besten Werte der Reformation zu einer gelebten Realität unserer heutigen Zeit zu machen. Wir können unsere Werte am besten bewahren, wenn wir sie als Grundlage und Quelle dafür nehmen, das Leben anderer Menschen zu schützen. Unsere gegenwärtigen Realitäten müssen durch eine Leitidee geformt und geerdet werden, wie wir morgen als die eine Menschheit leben sollen. Werte sind sinnlos, wenn sie nur auf die Vergangenheit bezogen werden. Wie mein Kollege Martin Junge von LWB bereits sagte: „Diejenigen, die christliche Werte schützen wollen, indem sie die Grenzen Europas schließen, wissen nicht, was christliche Werte sind.“

Bei meiner Arbeit und auf meinen Reisen werde ich immer wieder mit diesen Realitäten konfrontiert. Diese Erfahrungen zeigen mir, dass es überaus sinnvoll ist, die Herausforderungen, denen wir uns heute als die eine Menschheit gegenüberstehen, im Lichte des Vermächtnisses der Reformation zu betrachten.  Es geht dabei nicht um einen allgemeinen Pessimismus oder die Verurteilung alles Menschlichen, sondern um die Wachsamkeit gegenüber der Realität der Sünde und der  Realität der Bedürfnisse anderer. Ich schöpfe vielmehr Hoffnung daraus, und es liegt ein Zeichen der Hoffnung in jeder Buße und Umkehr, die daraus folgen.

Die Reformation hat ein neues Bewusstsein für die Rechenschaftspflicht gegenüber Gott als Herrscher mit sich gebracht, der sich nicht auf der gleichen Ebene wie wir Menschen mit allen unseren Fehlern und Schwächen befindet. Diese Rechenschaftspflicht sollte nicht bedeuten, dass wir gegenüber weltlichen oder kirchlichen Autoritäten verpflichtet sind, die von sich behaupten, das letzte Wort über unser Verhältnis zu Gott dem Allmächtigen zu haben. Die Reformation hat vielmehr hervorgehoben, dass wir berufen sind, in unserer Menschlichkeit voreinander Rechenschaft abzulegen und frei und verantwortlich sind, unsere eigenen Wege zu finden, um Gott und dem Mitmenschen zu dienen. Diese Freiheit ist ebenfalls ein Aufruf, die Gesellschaft aller Menschen guten Willens zu suchen, mit denen wir den Sinn für eine gegenseitige Rechenschaftspflicht teilen für das, was wir sind und was wir gemeinsam tun können. Das beinhaltet auch das, was jenseits der Realitäten liegt und uns trennt oder gegeneinander als „wir“ und „die“ in Stellung bringt. Der Aufruf der Reformation zur Buße ist nicht ein Aufruf zur Verzweiflung, Pessimismus oder falschen Vorstellungen über die Möglichkeiten des menschlichen Lebens und Strebens. Ganz im Gegenteil ist dies ein Aufruf, diese Gelegenheiten zu nutzen,mit mehr Ernsthaftigkeit zu dienen und sich darin durch die befreienden Worte des Evangeliums inspirieren zu lassen.

5.  Israel und Palästina – ein Testfall für die theologischen und moralischen Haltungen zu Rechenschaftspflicht und Buße

Folgen wir diesem Verständnis des Begriffs der Buße, können wir eine Linie ziehen von der Reformation zu Offenheit, Freiheit, Rechenschaft und der Suche nach Einheit auf einer gemeinsamen Basis von Gnade, Gerechtigkeit und Frieden. Allerdings hat die Reformation auch zu Spaltungen und sogar der Diskriminierung anderer Menschen geführt. Dafür kann es keine Entschuldigung geben. Wir haben bereits über die Spaltung der Kirchen und die Notwendigkeit gesprochen, eindeutiger herauszuarbeiten, welche Gemeinsamkeiten wir als Christen und Kirchen heute haben. Diese Beiträge zu Ehrlichkeit und Bußfertigkeit zeigen ihre Bedeutung in zahlreichen Konflikten der heutigen Welt.

Wir müssen ebenfalls die Implikationen eines speziellen Konfliktes in der Welt anerkennen und verstehen, der uns ebenfalls zurück zu den Lehren Martin Luthers führt und eine besondere Sorgfalt und Analyse der Bedeutung des Begriffs Buße erfordert. Ich beziehe mich hier auf Luthers Schriften über die Juden.  An einem Wendepunkt wie diesem muss auch dieses Thema Gegenstand der Rechenschaftspflicht sein. Luthers Angriffe gegen die Juden lassen sich nicht rechtfertigen, denn er argumentiert theologisch gegen die Geltung von Gottes Segen für die Nachkommen Abrahams. Seine späteren Schriften wurden als Vorwand für Antisemitismus in vielfacher Form besonders in Europa genutzt und führten am Ende zur Ermordung von Millionen von Juden. Die Schoah bleibt eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte Europas und der Menschheit. Die erste Vollversammlung des ÖRK hat unmissverständlich erklärt, dass der Antisemitismus eine Sünde gegen den Menschen und gegen Gott ist.

Bis heute erleben wir den eindeutigen Willen zur Buße für das, was geschehen ist; das gilt besonders für das deutsche Volk, in dessen Namen diese Verbrechen begangen wurden. Dies war ein echter Ausdruck der Beichte, vollkommenen Reue und Bußübung mit der Aussage „Nie wieder“. Leider erfordern es die Umstände in der Welt, dass wir immer wieder darauf hinweisen müssen, dass Antisemitismus eine Sünde gegen Gott und den Menschen ist. Es ist eine Tatsache, dass Juden und viele andere nach wie vor Ziel von Diskriminierung, Ausgrenzung, Angriffen und Gewalt sind, da sie als besonderes Volk oder eine besondere gesellschaftliche Gruppe angesehen werden. Die Nazis haben auch noch andere Gruppierungen wie Homosexuelle, Sinti und Roma, Behinderte, politische Dissidenten usw. verfolgt.

Eine der großen Leistungen und Errungenschaften der internationalen Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg war die Etablierung einer neuen Ordnung des internationalen Rechts und der Menschenrechtsabkommen. Dahinter stand die Verpflichtung, dass sich niemals wiederholen sollte, was den Juden und anderen angetan worden war. Der ÖRK war umfassend an der Ausarbeitung des Ethos und der Wertebasis für diese neuen internationalen Beziehungen als Bekräftigung der gegenseitigen Rechenschaftspflicht gegenüber der einen Menschheit beteiligt. Ein weiterer Ausdruck der Bußbereitschaft nach dem Zweiten Weltkrieg war die Anerkennung des Staates Israel als Heimstatt für die Juden. Es wurde erklärt, dass auch das palästinensische Volk einen eigenen Staat auf dem Gebiet Palästinas haben sollte. Der ÖRK hat beide Dimensionen dieser Entscheidung der UN-Generalversammlung unterstützt.

Im Laufe der Geschichte hat sich der Konflikt zwischen Israel und dem palästinensischen Volk immer weiter entwickelt. Es ist bis heute ungelöst und verschärft sich infolge der Siedlungspolitik und der israelischen Besetzung von Gebieten außerhalb der international anerkannten Grenzen Israels immer weiter. Diese Situation provoziert eine Reihe von Fragen:

-        Was bedeutet Buße in diesem aktuellen Konflikt?

-        Was bedeutet Rechenschaftspflicht für die Ereignisse der Vergangenheit vor 1948, aber auch nach 1948?

-        Wie kann ein gemeinsames Verständnis dessen, was Gerechtigkeit und Frieden erfordern, erreicht werden mit einer wechselseitigen Rechenschaftslegung gegenüber den vergangenen und aktuellen Dimensionen dieses Konflikts?

-        Wie können die Kirchen – und hier möchte ich speziell die deutschen Kirchen erwähnen – zu einem neuen Handlungsansatz des Heilens von Erinnerungen und der Versöhnung beitragen, der in der Bereitschaft zur Buße gründet und beiden Seiten die Möglichkeit gibt, die Wahrheit im Geiste gegenseitiger Rechenschaftspflicht auszudrücken und dabei offen für eine Transformation in eben diesem Geiste zu sein?

Der Konflikt hat in seinem Kern wichtige theologische Anliegen und Standpunkte. Es gibt daher in der Tat eine besondere Verantwortung der Reformationskirchen, sich mit den Themen zu befassen, die Buße und Transformation erfordern, und nicht in Abrede zu stellen, dass Handlungsbedarf besteht.  Dies wäre ein Zeichen für die anhaltende Bedeutung des Vermächtnisses der Reformation in einer sehr konkreten Ausprägung sowie ein wichtiger Beitrag für Frieden in der Region.

6.    Semper reformanda in gegenseitiger Rechenschaftspflicht – ein anderer Ausdruck des Pilgerwegs der Gerechtigkeit und des Friedens

Liebe Freunde der Reformation, ich bin davon überzeugt, dass das Gedenken an die 500 Jahre nach dem 31. Oktober 1517 ein enormes Potenzial hat, unsere Hoffnungen zu stärken. Hoffnung kann dort wachsen, wo es eine echte Bereitschaft gibt, zu bereuen, sich zu ändern, das Falsche zu erkennen und einen Beitrag zu Veränderungen und Transformation für einen gerechten Frieden zu leisten.

Der Pilgerweg ist eine Metapher und eine Möglichkeit, unseren christlichen Glauben in unserem Alltag zu leben. Damit sind Offenheit und die Pflicht zur Rechenschaft für das verbunden, was wir sind und was wir tun, aber auch die Bereitschaft, zuzuhören und voneinander zu lernen, damit wir einen besseren Weg in unsere Zukunft finden. Die Schöpfung und die Menschheit brauchen einen Sinn für eine gegenseitige Rechenschaftslegung ohne Einschränkung der Personen, gegenüber denen wir rechenschaftspflichtig sind. Wir können diese Einstellung nicht auf einige ausgesuchte Gruppierungen, Glaubensrichtungen und Menschen  beschränken. Natürlich müssen wir mit uns selbst und unserer eigenen Standortbestimmung beginnen, und wir müssen um Gottes Führung bitten, damit wir unseren gemeinsamen Weg hin zu einem weiter gefassten Horizont der Gerechtigkeit und des Friedens für alle finden. Das war immer der beste Handlungsansatz der Reformation und der ökumenischen Bewegung: Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Hoffnung. Das Evangelium der Gnade Gottes gilt heute wie vor 500 Jahren.


[1] Olav Fykse Tveit: The Truth We Owe Each Other: Mutual accountability in the ecumenical movement, Genf: WCC 2016

[2] Ein Beispiel sind die Beiträge auf dem Kongress in Zürich im Oktober 2013, organisiert von der EKD und dem SEK und die daraufhin veröffentliche Publikation:  Reformation. Legacy and Future. Herausgeber: Petra Bosse-Huber, Serge Fornerod, Thies Gundlach, Gottfried Locher, ÖRK-Publikationen, Genf 2015. Mein eigener Beitrag war „The Legacy of the Ecumenical Movement and Its Significance for The Ecumenical Movement Today”, 86-97.

[3] Erinnerungen heilen – Jesus Christus bezeugen: Gemeinsame Texte. Ein gemeinsames Wort zum Jahr  2017. Deutsche Bischofskonferenz/EKD.

[4] Vom Konflikt zur Gemeinschaft, LWB/PCPCU, 2014

[5] Konrad Raiser: 500 Jahre Reformation weltweit. Luther-Verlag, Bielefeld 2016.

[6] Die aktuelle inspirierende Erklärung der leitenden Geistlichen der evangelischen Landeskirchen in  Deutschland zur aktuellen Flüchtlingssituation ist dafür ein wichtiges Beispiel.