03. Juni 2020

Ökumenischer Rat der Kirchen
EXEKUTIVAUSSCHUSS
Videokonferenz
1. bis 3. Juni 2020
Dok. Nr. 04 Rev.

 

Der Gott aber aller Gnade, der uns berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christo Jesu, der wird euch, die ihr eine kleine Zeit leidet, vollbereiten, stärken, kräftigen, gründen. (1 Petrus 5:10 LUTH1545)

fürchte dich nicht, ich bin mit dir;

weiche nicht, denn ich bin dein Gott;

ich stärke dich, ich helfe dir auch,

ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit. (Jesaja 41:10 LUTH1545)

Die direkten und indirekten Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind schwerwiegend, weltumspannend und ohne Beispiel. In nicht einmal fünf Monaten hat sich das Virus auf der ganzen Welt verbreitet, 216 Nationen und Gebiete erreicht und sicher wesentlich mehr als die bisher offiziell bestätigten 6 Millionen Infektionsfälle sowie den Tod von über 379.000 Menschen verursacht, zu denen auch viele Personen gehören, die in Pflegeberufen und anderweitig an vorderster Front arbeiten.

Die öffentlichen Gesundheitssysteme in den am schwersten betroffenen Ländern wurden bis an ihre Grenzen und darüber hinaus belastet, der Zugang zu unerlässlichen Gesundheitsleistungen für viele andere Krankheiten ist beeinträchtigt und die Unterbrechung routinemäßiger Impfmaßnahmen setzt schätzungsweise 80 Millionen Kinder - in reichen und armen Ländern gleichermaßen - der Gefahr aus, an Diphtherie, Masern und Polio zu erkranken. Durch die Schließung von Bildungsstätten wurde der Unterricht für rund 1,2 Milliarden Schüler*innen und Studierende - 70% der Gesamtheit aller Lernenden weltweit - ausgesetzt. Zudem gingen die Schließungen, Lockdowns und Isolationsmaßnahmen mit einem starken Anstieg an Missbrauch und häuslicher Gewalt gegenüber Frauen und Kindern einher.

Wirtschaften wurden in die Rezession getrieben, die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordniveau gestiegen, der Lebensunterhalt einer Vielzahl von Menschen rund um die Welt ist bedroht, die Ernährungsunsicherheit hat massiv zugenommen und das Leben in Ländern und Gemeinden, die bereits tief in der Armut stecken, wurde noch prekärer. Obwohl Wasser, Hygiene und Abfallentsorgung unerlässlich sind, um die Übertragung des Virus zu verhindern, tritt diese Pandemie im Rahmen einer globalen Wasserkrise auf, wegen der Milliarden Menschen weltweit keinen Zugang zu sicherem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen, ja, nicht einmal einfachste Möglichkeiten zum Händewaschen haben.

Durch die gleichzeitigen Auswirkungen auf Gesundheit, Bildung und Einkommen wird die Pandemie voraussichtlich einen allumfassenden Rückschlag in der globalen menschlichen Entwicklung auslösen und den Fortschritt bei der Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) maßgeblich stören. Und währenddessen gibt es auch weiterhin Naturkatastrophe und von Menschen verursachte Desaster - wie jüngst der Tropensturm in El Salvador, die Heuschreckenplage in Ostafrika und der Konflikt in Kamerun - und viele weitere bereits vorher bestehende Herausforderungen, von denen die Welt heimgesucht wird, denen aber weniger Aufmerksamkeit zukommt und für die kaum noch Kapazitäten zum Reagieren vorhanden sind.

Das tägliche Leben der Menschen und Gemeinden rund um die Welt wurde radikal verändert. Durch das Einhalten eines Abstands hat sich die zwischenmenschliche Interaktion in vielen Bereichen neu gestaltet - so zum Beispiel bei Gottesdiensten und der Religionsausübung. Viele Kirchengemeinden waren monatelang nicht in der Lage, zusammenzukommen, selbst nicht in der Fasten- und Osterzeit, den höchsten Feiertagen im christlichen Kalender.

Doch obwohl sich die Pandemie in vielerlei Hinsicht durch ihre Reichweite und die globalen Auswirkungen als großer Gleichmacher erwiesen hat, deckt sie auch die tiefen Spaltungen, Ungerechtigkeiten, wirtschaftlichen Ungleichheiten und den Rassismus in unseren Gesellschaften auf und verschärft diese noch. Das Virus schert sich nicht um Grenzen, Reichtum oder Status und betrifft alle Menschen direkt oder indirekt. Vor allem aber bedroht es die am stärksten gefährdeten Menschen - jene, die an chronischen Krankheiten leiden, die Alten, die Armen, ethnische Minderheiten, indigene Völker, Menschen mit Behinderungen, Migranten und Vertriebene sowie all jene, die an den Rändern der Gesellschaft leben.

Kirchen und Glaubensgemeinschaften sind aufgefordert, die am stärksten gefährdeten Menschen und Gemeinden zu begleiten und miteinander solidarisch zu sein. Unser Herr Jesus Christus hat uns durch sein Leben, seine Lehren und seine Taten gezeigt, dass Anteilnahme, Fürsorge und Mitgefühl alle Grenzen überwinden, und in diesem Moment der Krise, der Angst und der Spaltung ist es unsere Berufung als Christinnen und Christen, Hoffnung und Heilung für die Umwandlung der Gesellschaft zu bringen.

Selbst wenn wir derzeit nicht in der Lage sind, uns in großer Zahl zum Gottesdienst zu versammeln, besinnen wir uns auf die Worte Jesu, dass „wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matthäus 18:20) und erkennen, dass unser Herr auch in den durch die öffentlichen Gesundheitsregeln erforderlichen kleineren Versammlungen zugegen ist und in ihnen wirkt. Zu vielen Zeiten im Verlauf der Kirchengeschichte waren Christinnen und Christen gezwungen, sich nur in kleinen Gruppen zu treffen, und doch haben sie es geschafft, das Evangelium zu verbreiten und ihren Glauben fortzuführen. So können auch wir die Anbetung und das Zeugnis in diesen Zeiten fortführen.

In dieser Pandemie machen die Kirchen und ihre versierte Geistlichkeit mit dem Dienst an ihren Gemeinden weiter, sie begleiten und unterstützen weiterhin die Bedürftigen und arbeiten mit ihren Dekanaten und den ausgegrenzten Menschen daran, die Herausforderungen zu bewältigen, mit denen sie konfrontiert werden. Wir haben erlebt, wie Partnerschaften zwischen Kirchen in verschiedenen Teilen der Welt im Angesicht der Krise stärker wurden und wie Kirchen versuchen, Menschen zu unterstützen, die in dieser Situation unter extremen Entbehrungen leiden. Wir sind begeistert von der Kreativität, mit der die Kirchen Wege gefunden haben, um Gottesdienste abzuhalten und Zeugnis abzulegen, selbst, wenn sie nicht in der Lage waren, sich leibhaftig zu versammeln. Wir sahen, wie kommunale Bande der Gemeinschaft und der Solidarität wuchsen und gediehen, als selbst auf Regierungs- und Gesellschaftsebene die Bereitschaft zu weltweiter Solidarität nachließ und die Fremdenfeindlichkeit sogar noch zunahm.

Verschlimmert wurden diese Krise und ihre Auswirkungen durch die systembedingte Vernachlässigung der öffentlichen Gesundheitssysteme, das Überhandnehmen von Habgier und Eigeninteresse in ausbeuterischen Wirtschaftssystemen, die immer schneller voranschreitende Zerstörung und Zersetzung der Umwelt, der Mangel an Einigkeit unter den Nationen angesichts einer allgemeinen Bedrohung für die Menschheit, politische Opportunität und kurzzeitige Interessen.

Der durch die Pandemie ausgelösten, multidimensionalen, weltweiten Krise entgegenzutreten liegt selbstredend jenseits der Fähigkeiten einzelner Länder, egal wie mächtig sie sind. Internationale Solidarität und Zusammenarbeit werden gerade jetzt dringender gebraucht als jemals zuvor. Wichtige Werkzeuge sind dabei die multilateralen Organisationen und Instrumente, die geschaffen wurden, um genau so eine Zusammenarbeit zu vereinfachen. Sie sollten eingesetzt, unterstützt und bei Bedarf reformiert und gestärkt werden, und nicht genau dann untergraben werden, wenn man sie am allerdringendsten benötigt.

Viele Länder lockern zurzeit die Maßnahmen, die auferlegt wurden, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern. Aber es ist klar, dass es keine Rückkehr zum früheren Status Quo geben kann, der in jedem Fall und auf vielfältige Weise untragbar, ungerecht und unmenschlich und zum Nachteil der Beziehungen in Familien und Gemeinden und mit Gottes Schöpfung war. Er trug dazu bei, die Bedingungen zu schaffen, unter denen eine solche Pandemie entstehen und von der Menschheit einen so hohen Tribut fordern konnte.

Jedoch haben wir von dieser Krisenzeit gelernt, dass Beziehungen wiederhergestellt werden können, dass man sich jetzt Umgestaltungen, die vorher als unmöglich galten, vorstellen kann, und das es lebensbejahende Alternativen zu der früheren ungerechten und untragbaren Normalität gibt. Uns bietet sich die heilsame Gelegenheit, über unsere grundlegenden Werte nachzudenken und zu versuchen, unsere Familien, Gesellschaften und Wirtschaften auf dieser Grundlage zu erneuern. Wir müssen aus dieser Erfahrung und diesen Überlegungen schöpfen, um neue und bessere Modelle für gerechte und zukunftsfähige Gemeinden zu aufzubauen.

Die Kirche ist aufgerufen, das Licht der Welt und das Salz der Erde zu sein. Sowohl in „normalen“ Zeiten als auch in Zeiten der Krise legen wir Zeugnis ab für die Liebe Gottes. Wir bekennen und verkünden, dass Gottes Liebe unerschütterlich ist. Auch wenn uns derzeit die Finsternis der Ungewissheit umgibt, so steht unser Gott uns bei und beteuert: „Fürchtet Euch nicht“.

In der Kenntnis um die Auferstehung Christi und der Gegenwart des Heiligen Geistes in unserem Leben finden wir den Mut, dieser Pandemie entgegenzutreten und über sie hinauszublicken. In gegenseitiger Solidarität und Verantwortlichkeit werden wir uns und einander auch weiterhin schützen, indem wir die entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen einhalten. Wir werden auch weiterhin in diesen unsicheren Zeiten die Kirche Christi sein, indem wir uns um alle Menschen in Not kümmern, auch um jene, deren Not die Welt nicht sieht. Wir werden Stigmatisierung und Diskriminierung meiden und die Liebe annehmen, eine Liebe, die heilt. Denn genau wie das Virus kennt auch die Liebe keine Grenzen und überwindet alle Schranken.

Wir bedauern, dass die von der Pandemie erzeugte Angst und Unsicherheit mancherorts einen fruchtbaren Boden für Verschwörungstheorien und irreführende theologische Auslegungen bereitet haben. Wir beten, dass die Kirchen überall bestärkt werden und gerüstet sind, um als Botschafter der Einigkeit, des Vertrauens und der Wahrheit gegen die Stimmen anzugehen, die Spaltung, Misstrauen und unbegründete Gerüchte verbreiten. Wir werden die Solidarität und Zusammenarbeit unter den Völkern fördern. Wir werden Regierungen und Obrigkeiten herausfordern, die Notstandsbefugnisse anstreben, mit denen sie nicht die öffentliche Gesundheit schützen, sondern prinzipiell Widerspruch ersticken wollen und mit denen sie gegen die Menschenrechte verstoßen. Und wir verkünden die Fortführung des Pilgerwegs der Gerechtigkeit und des Friedens über die Pandemie hinaus, mit dem wir uns eine fairere und tragbarere Zukunft vergegenwärtigen und darauf hinarbeiten.

In dieser Pfingstzeit und diesem kritischen Augenblick laden wir alle Mitgliedskirchen, ökumenischen Partner, die versierte Geistlichkeit und ACT Alliance in eine erneuerte Beziehung des Teilens und der aktiven Solidarität im Geiste der ersten christlichen Gemeinschaften ein, in denen „alle aber, die gläubig waren geworden, waren beieinander und hielten alle Dinge gemein“ (Apostelgeschichte 2:44), damit wir allen Menschen Gottes durch diese Zeit der Krise und der Veränderung besser dienen können. Möge unser Herr und Erlöser Jesus Christus, der uns auf unserem Lebensweg und durch diese herausfordernden Zeiten hindurch geleitet, uns mit Liebe, Standhaftigkeit, Hoffnung und Mut versehen.

Der Gott aber der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, daß ihr völlige Hoffnung habet durch die Kraft des Heiligen Geistes. (Römer 15:13 LUTH1545)