Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.” (Lukas 12,15)

1. In seinem Aufruf zu einer neuen internationalen Ordnung, die auf ethischen Grundsätzen und sozialer Gerechtigkeit beruht, hat der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) erstmalig 1984 seiner Besorgnis über die Wirtschafts- und Finanzstrukturen Ausdruck verliehen. 1998 gab die Vollversammlung des ÖRK in Harare gemeinsam mit Mitgliedskirchen eine Studie zur wirtschaftlichen Globalisierung in Auftrag. Der ÖRK arbeitete eng mit dem Reformierten Weltbund, dem Lutherischen Weltbund, mit APRODEV und anderen kirchlichen Diensten und Werken zusammen. Aus dieser Zeit und im Vorlauf zur Vollversammlung des ÖRK in Porto Alegre entstand der AGAPE-Prozess (Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde), um die Themen Armut, Reichtum und Ökologie zu vertiefen. Im Laufe dieses Prozesses wurden verschiedene Themen zu unterschiedlichen Krisen herausgearbeitet: Klimawandel, Ernährungskrise, soziale Krise und Finanzkrise. Im Mai 2009 berief der ÖRK ein Treffen der Beratungsgruppe für Wirtschaftsfragen (AGEM) ein, um (1) herauszuarbeiten, um welche Aspekte des aktuellen Finanzgefüges es geht, (2) Schritte hin zu einem neuen Finanzgefüge vorzuschlagen und (3) die theologische und ethische Grundlage für solch ein neues Gefüge zu skizzieren.

2. Jesus warnt uns: “Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Geld.” (Lukas 16,13 – Bibel in gerechter Sprache). Wir erleben jedoch, wie dramatisch sich Habgier im Wirtschafts- und Finanzsystem unserer Zeit manifestiert. Die gegenwärtige Krise gibt uns Gelegenheit, unser Engagement und Handeln zu überprüfen. Sie bietet uns die Chance, gemeinsam herauszufinden, wie wir ein System gestalten können, das nicht nur nachhaltig, sondern auch gerecht ist und moralischen Maßstäben genügt. Aus der Perspektive des Glaubens wirkt sich die Wirtschaft auf das menschliche Leben und die ganze Schöpfung aus.

3. Das Finanzsystem der jüngeren Vergangenheit hat die Welt mehr denn je geprägt. Dadurch, dass es zum Motor für virtuelles Wachstum und Wohlstand geworden ist, hat es zwar einigen Menschen Reichtum gebracht, einer weitaus größeren Anzahl von Menschen jedoch geschadet und ihnen Armut, Arbeitslosigkeit, Hunger und Tod gebracht. Es hat die Kluft zwischen Arm und Reich noch breiter werden lassen und einige Gruppen an den Rand gedrängt. Es hat den gesamten Sinn menschlichen Lebens ausgehöhlt und Ökosysteme zerstört. Wir müssen uns mehr und mehr der ernüchternden Erkenntnis stellen, dass wir alle verwundbar sind und unserer heutigen Lebensweise Grenzen gesetzt sind. Die gegenwärtige Krise, die in den reichsten Teilen der Welt ihren Ausgang nahm, zeugt von der fehlenden Moral eines Systems, das Geld verherrlicht und das entmenschlichend wirkt, indem es gewinnorientierten Individualismus fördert. Die daraus entstehende Kultur der Habgier führt zur Verarmung menschlichen Lebens, untergräbt das moralische und ökologische Gefüge menschlicher Zivilisation und vergiftet unsere Psyche durch den Materialismus. Die Krise, die wir heute bewältigen müssen, ist sowohl systemimmanent als auch Ausdruck dieser moralischen Krise. Am meisten von ihr betroffen sind Frauen, da sie überproportional belastet werden, sind sowie junge Menschen und Kinder, da sie verunsichert werden und Zweifel bekommen, ob sie noch einer sicheren Zukunft entgegen sehen können. Betroffen sind auch die, die in Armut leben, denn ihr Leiden wird noch verstärkt.

4. In einer Zeit der finanziellen Globalisierung ist Habgier zunehmend zu einem Motor des Wirtschaftswachstums geworden. Diese Habgier, Kennzeichen des heutigen Finanzsystems, verursacht und verstärkt die Opfer und das Leider der verarmten Bevölkerungsschichten, während die wohlhabenden Schichten ihren Reichtum vermehren. Das Finanzwesen ist bestenfalls das Schmiermittel für reale Wirtschaftsaktivitäten. Wir stellen jedoch fest, dass Geld nicht gleichbedeutend mit Wohlstand ist. Außerhalb des menschlichen Geistes besitzt es keinen eigenen Wert. Wenn es in eine Reihe von fiktiven Instrumenten zur Schaffung von noch mehr finanziellem Wohlstand umgesetzt wird, dann entfernt es sich zunehmend von der realen Wirtschaft und schafft dadurch nur virtuellen oder trügerischen Wohlstand, aber nichts, was die wahren menschlichen Bedürfnisse erfüllt.

5. Dieser weltweite Missbrauch von Handel und Finanzen im internationalen Geschäftsverkehr verursacht in den Entwicklungsländern jährlich Steuerausfälle in Höhe von mehr als 160 Milliarden Dollar, die eigentlich dringend für öffentliche Ausgaben benötigt würden. Entwicklungsländer gewähren den Industrieländern zu äußerst niedrigen Zinssätzen Kredite aus ihren Rücklagen und nehmen ihrerseits Kredite zu höheren Zinssätzen wieder auf. Laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) führt das zu einem Nettotransfer von Ressourcen in Reservewährungsländer, der mehr als das Zehnfache der Entwicklungshilfe beträgt. Diese weltweite Finanzkrise belegt das Scheitern der neoliberalen Doktrin, wie sie von den internationalen Finanzinstitutionen im “Konsens von Washington” angepriesen wurde. Die Regierungen der reichsten Länder waren von diesem Konsens einst so begeistert. Auf dem G20-Treffen im April 2009 erklärten sie ihn dann für „erledigt“. Und dennoch enthält die Agenda der G20 untaugliche Maßnahmen, um das gleiche System des Raubbaus an Ressourcen und des grenzenlosen Wachstums wiederzubeleben. Des Weiteren fließen die Ressourcen in die Militarisierung einiger Gesellschaften, die ein falsches Verständnis von menschlicher Sicherheit haben, welche sie durch militärische Macht zu erreichen glauben.

6. Bedauerlicherweise haben sich auch Kirchen an diesem System beteiligt und haben auf Finanz- und Wirtschaftsmodelle gesetzt, für die das Erwirtschaften von Geld wichtiger ist als Fortschritt und Wohlergehen der Menschheit. Diese Modelle vernachlässigen in großem Maße die sozialen und ökologischen Kosten von Finanz- und Wirtschaftsentscheidungen, ganz zu schweigen von der oft völlig fehlenden moralischen Ausrichtung. Die Herausforderung für die Kirchen heute besteht darin, sich nicht aus ihrer prophetischen Rolle zurückzuziehen. Außerdem müssen sie sich der Tatsache stellen, dass sie sich an diesen spekulativen Finanzsystemen und der darin verankerten Habgier beteiligt haben.

7. Zwei strukturelle Elemente im gegenwärtigen Paradigma müssen geändert werden. Erstens stehen das wirtschaftliche Streben nach Profit, das unbegrenzte Wachstum und der unverantwortliche Verbrauch von Gütern und natürlichen Ressourcen im Widerspruch zu den Werten der Bibel und machen die Gesellschaften unfähig zu Zusammenarbeit, Mitgefühl und Liebe. Zweitens stellt ein System, das Produktionsmittel und Ressourcen privatisiert und sie von der Arbeit und den Bedürfnissen der Menschen entfremdet und das anderen Zugang und Nutzung verwehrt, ein strukturelles Hindernis für eine Wirtschaft der Zusammenarbeit, des Teilens, der Liebe und der dynamischen Harmonie mit der Natur dar. Eine alternative moralische Grundlage für wirtschaftliche Aktivitäten sind der Dienst der Gemeinschaft (koinonia) an den menschlichen Bedürfnissen, die menschliche/soziale Persönlichkeitsentfaltung sowie das Wohlergehen und Glück der Menschen. Eine Alternative zur gegenwärtigen Besitzsordnung stünde im Zusammenhang mit dem Bedarf, dem Verbrauch und der Arbeit, die in Produktion und Verteilung investiert wird. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die vorhandenen Organisationsprinzipien für Produktion und Befriedigung des Bedarfs (gemeint ist die Verteilung) verändert werden. Dies gewährleistet die Schaffung eines ethischen, gerechten und demokratischen globalen Finanzgefüges, das auf gemeinsamen Werten beruht – Ehrlichkeit, soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde, gegenseitige Rechenschaftspflicht und ökologische Nachhaltigkeit. Ferner sind soziale und ökologische Risiken in finanziellen und wirtschaftlichen Berechnungen zu berücksichtigen, der Finanzsektor in die reale Wirtschaft einzubinden und übertriebenes und auf Habgier basierendes Handeln klar einzugrenzen und zu bestrafen.

8. In diesem Zusammenhang erkennt der Zentralausschuss des ÖRK an, dass ein neues sittlich-moralisches Ethos und eine neue Kultur entstehen müssen, um in diesen Krisenzeiten Anti-Werte wie Habgier, Individualismus und Ausgrenzung durch Werte wie Solidarität, Gemeinwohl und Integration zu ersetzen. Neue Fortschrittsindikatoren müssen entwickelt warden: nicht das Bruttoinlandsprodukt, sondern der Index der menschlichen Entwicklung, das Bruttosozialglück, der ökologische Fußabdruck und weitere ähnliche Bilanzierungssysteme. Der Index des Bruttosozialglücks z. B. würde Auskunft über folgende Werte geben: 1) Lebensqualität und Lebensgewohnheiten 2) gute Regierungsführung (echte Demokratie); 3) Bildung; 4) Gesundheit; 5) ökologische Belastbarkeit; 6) kulturelle Vielfalt; 7) Vitalität des Gemeinwesens; 8) ausgewogenes Zeitmanagement; 9) geistiges und geistliches Wohlbefinden.

9. Der Zentralausschuss des ÖRK unterstreicht die Notwendigkeit eines neuen Paradigmas für wirtschaftliche Entwicklung und eines neuen Verständnisses von Wohlstand, das Beziehungen, Fürsorge und Mitmenschlichkeit, Solidarität und Liebe, Aspekte der Ästhetik und Ethik des Lebens, Mitwirkung und Feiern, kulturelle Vielfalt und Vitalität des Gemeinwesens umfasst. Dazu gehört auch ein verantwortbares Wachstum, das die Verantwortung des Menschen für die Schöpfung und die nachfolgenden Generationen anerkennt– eine Wirtschaft, die das Leben preist.

In Anbetracht der Notwendigkeit, demokratische internationale Organisationen zu unterstützen, alle UN-Mitgliedsstaaten zu repräsentieren und gemeinsame Werte zu bekräftigen, fasst der Zentralausschuss des ÖRK auf seiner Tagung in Genf (Schweiz), 26. August bis 2. September 2009, folgenden Beschluss:

Der Zentralausschuss ruft die Regierungen auf,

A. neue und ausgewogenere Indikatoren wie den Index des Bruttosozialglücks zu übernehmen, um den weltweiten gesellschaftlich-ökologischen und ökologisch-wirtschaftlichen Fortschritt zu überwachen;

B. sicherzustellen, dass der Grundbildung, dem Gesundheitswesen und den armen Ländern keine Ressourcen entzogen werden;

C. nicht in ihren Bemühungen nachzulassen, ihrer Verpflichtung nachzukommen, die Millenniumsentwicklungsziele zu unterstützen und zu erreichen; insbesondere sei hier das Ziel 8 zur weltweiten Zusammenarbeit genannt;

D. gendergerechte Sozialschutzprogramme als wichtigen Teil der nationalen Konjunkturpakete zu verabschieden, die als Antwort auf die gegenwärtige Krise gedacht sind;

E. sich verstärkt für die Mitwirkung der Menschen und zivilgesellschaftlicher Organisationen an politischen Entscheidungsprozessen einzusetzen; dazu gehört auch die Förderung dezentralisierter Regierungsführung und partizipativer Demokratie;

F. das Finanzwesen auch als staatliche Dienstleistung zu betrachten, indem KMU, Landwirten und vor allem armen Menschen Kredite gewährt werden, beispielsweise durch Mikrofinanzierung zur Förderung gemeinnütziger Unternehmen und der Sozialwirtschaft;

G. regionale Initiativen zu unterstützen, die das Finanzwesen dezentralisieren und die Menschen im Süden befähigen, durch die Einrichtung neuer Finanzinstitutionen (Bank des Südens, Währungsfonds für Asien und ALBA-Bank) ihre Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen;

H. die Steuersysteme zu reformieren, wobei anerkannt werden muss, dass Steuereinnahmen letztlich die einzige nachhaltige Einnahmequelle für die Entwicklungsfinanzierung sind. Ein neuer internationaler Rechnungslegungsstandard sollte Land für Land die Wirtschaftsaktivitäten internationaler Unternehmen und ihre Steuerzahlungen erfassen, und ein multilaterales Abkommen sollte erarbeitet werden, das verbindliche Bestimmungen für den automatischen Austausch von Steuerdaten zwischen allen Staaten enthält, um Steuerhinterziehungen zu verhindern;

I. die Möglichkeit der Schaffung eines neuen globalen Rücklagensystems zu untersuchen, das auf einer übernationalen globalen Reservewährung sowie auf regionalen und lokalen Währungen basiert;

J. eine strengere demokratische Kontrolle internationaler Finanzinstitutionen durchzusetzen, indem sie einem UNO-Weltwirtschaftsrat unterstellt werden, der den gleichen Status hat wie der UNO-Sicherheitsrat;

K. die Möglichkeit der Schaffung einer neuen internationalen Kreditagentur zu untersuchen, die demokratischer geführt wird als die derzeitigen Institutionen von Breton Woods;

L. ein internationales Konkursgericht zu schaffen, das befugt ist, unvertretbare und andere unrechtmäßige Schulden zu erlassen und über andere Schuldenfragen zu befinden;

M. das Kreditwesen zu regeln und neu zu gestalten und eine oder mehrere unabhängige Aufsichtsinstitutionen zu schaffen, die eine transparentere Bewertung gewährleisten und strengere Vorschriften für die Handhabung von Interessenkonflikten vorsehen;

N. innovative Finanzquellen zu nutzen, darunter auch CO2-Steuern sowie Steuern auf Finanztransaktionen, um Gemeingüter zu finanzieren und die Armut abzubauen.

 

Das folgende Gebet soll die Kirchen dabei unterstützen, sich für die Anliegen zu engagieren, die in der vorliegenden Erklärungen angesprochen sind:

Oh Gott, der du einer bist in Dreieinigkeit, in dir sehen wir die vollkommene Beziehung von Liebe und Gerechtigkeit

Wir bekennen:

dass unsere Beziehungen zu häufig von Gier und Eigeninteresse geprägt sind,

dass wir nach Reichtum und Sicherheit gestrebt und nicht viel an die Schöpfung gedacht haben,

dass unser Verlangen nach mehr bedeutet, dass andere weniger haben, dass wir, wenn wir geben, eher den Großmut der Pharisäer zur Schau tragen als die Ehrlichkeit der Witwe.

Schenke uns eine Vision deiner oikoumene, die von Liebe und Mitgefühl geprägt ist:

wo alle genug zu essen haben,

wo Arbeit gerecht entlohnt wird,

wo die Sorge um die Geringsten unsere größte Sorge ist,

wo das Leben gefeiert wird und wir dich, den Lebenspender, preisen.