Erzbischof von Canterbury
Ansprache an die 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 

Wenn jemand Sie auffordert "Sagen Sie, wer Sie sind!", so werden Sie vermutlich zun ächst Ihren Namen nennen, danach vielleicht Ihre Arbeit beschreiben, Ihren Wohnort, Menschen, mit denen Sie in Beziehung stehen. In vielen Kulturen würden Sie die Namen Ihrer Eltern oder Ihrer weiteren Familienmitglieder angeben. Über "Identität" zu sprechen bedeutet also, darüber zu sprechen, wie wir uns in der Sprache und der Welt unserer Mitmenschen einordnen: Namen sind dafür da, benutzt zu werden, zu uns und nicht nur von uns gesprochen zu werden; Arbeit ist, wie wir uns an dem menschlichen Prozess der Veränderung unserer Umwelt beteiligen, und wer wir sind, wird unseren Mitmenschen deutlich, wenn wir ihnen eine Landkarte unserer Beziehungen zeigen. Bevor wir darüber nachdenken, was das Wesentliche an der christlichen Identität ist, könnte es uns zunächst einmal helfen, uns einen Moment lang mit dem Gedanken zu beschäftigen, wo wir uns selbst auf der Karte verorten würden.

Wie also beantworten wir als Christen die Frage nach unserer Identität? Wir tragen den Namen Christi. Wir sind die Menschen, die für ihre Treue zu und ihre Verbundenheit mit der historischen Person bekannt sind, die von ihren Anhängern den Beinamen "gesalbter König" erhielt - Jesus, der Jude aus Nazareth. Jedes Mal, wenn wir "Christ" sagen, gehen wir wie selbstverständlich von einem Lebensweg und einem Ort in der Geschichte aus, dem Weg und dem Ort der Menschen, mit denen Gott in ferner Vergangenheit einen Bund schloss, der Menschen, die er rief, um ihnen in ihrem Zusammenleben seine Herrlichkeit zu zeigen. Damit sind wir schon im Bereich der Arbeit und der Beziehungen. Wir sind Teil dieser Geschichte von Gottes Bund. Als Menschen, die treu zu einem "gesalbten König" in der jüdischen Tradition halten, sollte unser Leben ein lebendiges Zeugnis von der Treue Gottes gegenüber seinen Verpflichtungen sein. Wir können unsere Identität nicht deutlich machen, ohne diesen Weg und diesen Kontext einzubeziehen. Schon wenn wir das Wort "Christus" erklären, müssen wir erklären, was es bedeutet, ein Volk zu sein, das existiert, weil Gott verheißen hat, bei ihm zu sein, ein Volk, dem Gott geboten hat, anderen zu zeigen, wer er ist.

Zu sagen, dass wir heute unter der Autorität eines gesalbten Königs stehen, dessen Leben auf der Erde zwei Jahrtausende zurückliegt, bedeutet gleichzeitig auch, etwas über diesen "König" zu sagen: sein Leben und seine Gegenwart sind nicht nur Geschichte oder Erzählung. Es gibt Gruppen, die sich nach ihren Gründern nennen - Lutheraner, Marxisten -, doch mit dem Namen, den Christen sich gegeben haben, verhält es sich aufgrund der Bedeutung des Titels "Christus" anders. Wir blicken nicht zurück auf einen Gründer; wir suchen jetzt um uns herum und in uns nach einer Präsenz, die Autorität über unser Leben hat und heute wirkt. Und so können wir schon zu verstehen geben, wie wir theologisch denken, wie unsere Lehre von der Geschichte der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu aussehen wird.

Je weiter wir voranschreiten, desto vollständiger wird das Bild der Identität, das wir zeichnen. Welchen Auftrag gibt uns der gesalbte König, und wie gibt er uns die Kraft, ihn zu erfüllen? Wie das jüdische Volk sollen wir offenbaren, dass der Gott, dessen Autorität der König innehat, ein Gott der Gerechtigkeit ist, unparteiisch und universell, ein Gott, der die Freiheit hat, Sünden zu vergeben. Aber durch die Worte, mit denen wir Gott nach dem Gebot unseres Königs anreden sollen, sollen wir auch zeigen, wer Gott ist. Wir sollen ihn mit "Vater" anreden, mit vertrauten und gleichzeitig mutigen Worten. Unsere Identität ist nicht nur geprägt von Beziehungen zu anderen Menschen und unseren Bemühungen, diese Beziehungen nach den Kriterien von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu gestalten. Bei unserer Identität geht es um unsere Beziehung zu Gott, und die "Arbeit", die es bedeutet, diese Beziehung in unseren Worten und Handlungen auszudrücken. Im Griechischen bedeutete das Wort "leitourgeia" zunächst Dienst am Gemeinwohl und erst später den öffentlichen Gottesdienst. Christliche Identität ist "liturgisch" in beiden Bedeutungen: Arbeit oder Dienst eines Volkes, einer Gemeinschaft, die durch ihr tägliches Handeln und durch den Gottesdienst Gott einander und ihrer Umwelt zeigt. Unsere "Liturgie" ist sowohl Anbetung Gottes um seiner selbst willen als auch Dienst an einer Welt, die durch Stolz und Gier entstellt ist. Sie drückt sich nicht nur in Leidenschaft für die menschliche Familie aus, besonders inmitten von Armut und Gewalt, sondern in Leidenschaft für die gesamte materielle Welt, die nach wie vor die Gewalt erleidet, die notwendig ist, um den Wohlstand einer wohlhabenden Minderheit auf Kosten der gemeinsamen Ressourcen aufrechtzuerhalten.

" Sagen Sie, wer Sie sind!" sagt die Welt zu den Christen, und die Christen sagen (wie die Märtyrer der ersten Jahrhunderte): "Wir sind Diener eines Königs - der König eines Volkes, das durch Gottes besonderes Handeln befreit ist, seine Liebe und Stärke im Zusammenleben zu zeigen, ein König, dessen Autorität ebenso in der Gegenwart und Zukunft ist wie in der Vergangenheit. Wir sind Zeugen der Konsequenz eines Gottes, der sich von keiner geschaffenen Macht, von keinem Versagen oder Verrat auf unserer Seite von seinem Ziel abbringen lässt. Wir sind mehr als Diener oder Zeugen, da wir befähigt wurden zu sprechen, als stünde es uns wie unserem König frei, vertraut zu sein mit Gott; Gott hat die Distanz zwischen uns und dem Himmel überbrückt und hat uns sich nahegebracht. Wenn wir direkt zu Gott sprechen, sprechen wir mit einer Stimme, die er selbst uns gegeben hat, damit wir sie einsetzen."

Wenn Christen Schritt für Schritt buchstabieren, was der Name, den sie für sich selbst benutzen, bedeutet, finden sie ihren Platz auf der Karte der Menschheitsgeschichte. Bevor sie damit beginnen, die Lehren zu analysieren, die notwendig sind, damit diese Identität Gegenstand von Gesprächen und abstrakter Kommunikation sein kann, sprechen sie von sich selbst als von Menschen, die zu dieser Geschichte und dieser Reihe von Möglichkeiten gehören. Daraus fließen Glauben und Struktur. Man kann es sehr eindringlich oder sogar schockierend mit den Worten ausdrücken, dass Christen sich selbst nicht nur als Diener des gesalbten Königs verstehen, sondern als Christus. Ihr Platz in der Welt ist sein Platz. Wenn sie zulassen, dass sie in sein Zeugnis verwickelt werden, wenn sie das tun, was seine Autorität ihnen in Dienst und Gottesdienst möglich macht, stehen sie an seiner Stelle. Die christlichen Schriften sagen, dass Gläubige den Namen Christi tragen, dass sein Name auf ihrer Stirn geschrieben ist, dass ihr Zusammenleben ein materieller "Leib" für den gesalbten König auf Erden ist.

Christliche Identität bedeutetet, an den Ort zu gehören, den Jesus für uns bestimmt. Wenn wir an diesem Ort leben, kommen wir gewissermaßen dahin, dass wir seine Identität teilen, seinen Namen tragen und uns in den gleichen Beziehungen wiederfinden, in denen er zu Gott und zur Welt steht. Vergessen Sie einmal für einen Moment das "Christentum" - das Christentum als ein Ideensystem, das mit anderen auf dem Markt konkurriert: konzentrieren Sie sich auf den Ort in der Welt, der der Ort von Jesus dem Gesalbten ist, und darauf, was an diesem Ort möglich wird.

Es ist ein Unterschied, ob man die Welt grundsätzlich als Ort ansieht, wo Systeme miteinander konkurrieren, wo Gruppen mit unterschiedlichen Loyalitäten auf Kosten der jeweils anderen Gruppe leben und wo Rivalitäten unausweichlich sind, oder ob man die Welt als Ort ansieht, wo an einem konkreten Ort zu sein, es einem möglich macht, Dinge zu sehen, zu sagen und zu tun, die anderswo nicht möglich wären. Der christliche Glaube erhebt nicht in erster Linie den Anspruch, dass er, im Gegensatz zu allen Konkurrenten, das allein gültige Denksystem anbietet; sein Anspruch ist vielmehr, dass es, wenn man an der Stelle Christi steht, möglich ist, in solcher Nähe zu Gott zu leben, dass keine Angst oder kein Misserfolg je Gottes Engagement für uns aufheben kann, und in einem solchen Maß gegenseitigen Gebens und Verstehens zu leben, dass kein Konflikt und keine Spaltung unter Menschen uns zu unkontrollierbarer Gewalt und gegenseitiger Verletzung veranlassen kann. Von hier aus kann man sehen, was man braucht, um in Frieden mit Gott und Gottes Schöpfung zu sein, und auch, was man braucht, um in Frieden mit sich selbst zu sein und zu erkennen, wie sehr man selbst des Erbarmens und der Neuschöpfung bedarf.

Von Anfang an geht diese Sichtweise davon aus, dass wir in einer Welt vieler unterschiedlicher Perspektiven leben und es keinen "Blick von nirgendwo" gibt, wie Philosophen manchmal den Anspruch auf absolutes Wissen ausdrücken. Christ sein heißt eben nicht, Anspruch auf absolutes Wissen zu erheben, sondern eine Perspektive zu beanspruchen, die die zutiefst in unserem Innern verwurzelten Verletzungen und Ängste verwandeln und so die Welt auf der wichtigsten Ebene verändern wird. Es ist eine Perspektive, die davon abhängt, ob wir da sind, wo Jesus ist, unter seiner Autorität, ob wir den "Atem" seines Lebens teilen und sehen, was er sieht - Gott als Abba, als Vater, ein Gott, der sich uneingeschränkt für die Menschen einsetzt, in deren Leben er sein eigenes Leben reproduzieren möchte.

Inwiefern ist dies ein ausschließlicher Anspruch? Einerseits kann er nur ausschließlich sein. Es gibt keine christliche Identität, die nicht von diesem Punkt ausgeht. Wenn man versucht, eine "Identität" aus Prinzipien, Idealen etc. zusammenzusetzen, wird am Schluss etwas herauskommen, das vollkommen anders ist als das, was die Heilige Schrift als Sein "in Christus" darstellt. Und weil in Christus zu sein eng mit einer und nur einer konkreten Geschichte zusammenhängt - nämlich der des jüdischen Glaubens und des Mannes von Nazareth -, ist ganz einfach unklar, was es bedeuten würde zu sagen, dass diese Perspektive grundsätzlich von jedem Menschen an jedem Ort mit jeder Art von Bindungen eingenommen werden kann. Doch andererseits ist Ausschließlichkeit hier sicherlich unmöglich, und zwar als Ausschließlichkeit eines Systems von Ideen und Schlussfolgerungen, die jemand für endgültig und absolut hält. Der Ort Jesu ist offen für alle, die sehen wollen, was Christen sehen, und werden wollen, was Christen werden. Kein Christ verfügt über eine Art Landkarte, wo genau die Grenzen dieses Ortes zu ziehen sind, oder einen Schlüssel, um andere aus- oder einzusperren.

Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Christ nicht sieht, was von anderen Perspektiven aus zu sehen ist. Es wäre dumm von ihm zu behaupten, dass man nichts sehen könne oder dass jede andere Perspektive alles so stark verzerre, dass keine tatsächliche Wahrheit ausgesprochen werden kann. Wenn ich sage, dass nur hier unsere Verletzungen vollständig geheilt, unsere Sünden vergeben und die Aufnahme in Gottes vertraute Nähe verheißen werden, setzt dies voraus, dass Aufnahme und Vergebung auch vor allen anderen Dingen zu wünschen sind. Nicht jede Perspektive geht hiervon aus. Was ich damit über die anderen Sichtweisen sagen möchte, ist nicht, dass sie auf einem Irrweg sind, sondern dass sie das unberücksichtigt lassen, was im Kampf des Menschseins am meisten zählt; und doch weiß ich, dass dies für die anderen niemals offensichtlich sein wird und dass wir nur dann zusammenkommen können, dass wir andere nur dann in unsere Sichtweise einführen können, wenn sie im Lichte einer solchen geteilten Arbeit und Hoffnung sind, die die Dinge, die nach meiner Ansicht für die Menschheit am wichtigsten sind, in den Mittelpunkt rückt. Und dieses Miteinanderteilen wird auch mir zeigen, dass es möglicherweise Dinge gibt, die vielleicht letztlich weniger Gewicht haben, aber doch enorm bedeutsam sind und die ich aus meiner Perspektive nicht gesehen oder nicht beachtet habe.

Was bedeutet dies für die konkrete Erfahrung, vor Ort neben einer Vielzahl anderer religiöser - und auch nicht religiöser - Gemeinschaften zu leben, die wir in unserer heutigen Welt nicht ignorieren und der wir nicht ausweichen können? Meiner Meinung nach sollten wir nicht Wert auf ein System legen, das auf alle Fragen eine Antwort hat, sondern Zeugnis ablegen von dem Ort und der Identität, in die wir hineingestellt worden sind. Wir sollen zeigen, was wir sehen, wir sollen das Leben Gottes weiterführen, wie es uns von dem Gesalbten gegeben wurde. Aus dem bereits Gesagten lässt sich entnehmen, dass im Mittelpunkt dieses Zeugnisses treue Pflichterfüllung stehen soll. Christliche Identität ist glaubenstreue Identität. Sie ist geprägt von beständigem Sein sowohl mit Gott als auch mit Gottes Welt. Wir müssen Gott im Gebet und in der Liturgie treu sein, wir müssen einfach immer und immer wieder dort stehen, wo Jesus steht, und ‚Abba‘ sagen. Wenn Christen das Eucharistiegebet sprechen, dann nehmen sie die Stelle Jesu ein, der z um Vater betet und die Welt an seinen Tisch einlädt. Die Eucharistie ist die Feier des Gottes, der seine Verheißungen erfüllt und auf dessen Gastfreundschaft wir uns immer verlassen können. Und dies zeigt uns schon, dass wir auch jenen verpflichtet sind, die sich in unserem Umfeld befinden, ganz gleich, welche Sichtweise sie haben. Ihren Bedürfnissen, ihren Hoffnungen, ihrer Suche nach Heilung in der Tiefe ihres Menschseins müssen wir treu bleiben. Damit ist gemeint, dass wir da sein müssen, um diese Suche zu begleiten, um zusammen mit Menschen anderen Glaubens kritische Fragen zu stellen und auch sie manchmal kritisch zu befragen. Bei unseren gemeinsamen Bemühungen um Verwandlung kann es geschehen, dass Gott anderen die Augen öffnet für das, was wir sehen, und dass er sie erkennen lässt, was uns möglich ist. 

Wie aber steht es um ihre eigenen Überzeugungen, ihren eigenen "Ort"? Manchmal, wenn wir unsere Nächsten anderen Glaubens anblicken, sehen wir in ihren Augen gleichsam ein Spiegelbild dessen, was wir sehen. Sie würden es nicht mit den gleichen Worten benennen wie wir, doch es ist für uns deutlich erkennbar. Der Begriff "anonymes Christentum " ist heute nicht sehr in Mode, und er war im vieler Hinsicht problematisch. Doch wer unter denen, die an einem Dialog mit Menschen anderen Glaubens teilgenommen haben, hätte nicht irgendwann einmal das Gefühl gehabt, bei ihnen so etwas wie ein Echo oder einen Widerschein der Art von Leben zu spüren, wie es Christen leben wollen? Paulus sagt, Gott habe auch in den Zeiten vor der Ankunft des Messias Zeugen gehabt; an jenen Orten, an denen dieser Name nicht genannt wird, könnte Gott sich noch zu erkennen geben. Da wir aber nicht dort leben, können wir dies nicht feststellen, geschweige denn nachprüfen, wie es geschehen kann. Und wenn wir dies sagen, dann bedeutet das keineswegs, dass das, was in der Geschichte Israels und Jesu geschieht, relativ ist, also eine von mehreren Möglichkeiten darstellt. Dies, sagen wir, ist der Weg zu Vergebung und Aufnahme. Doch wenn andere offenbar an einen Ort gelangt sind, an dem Vergebung und Aufnahme empfunden und geschätzt werden - und selbst dann, wenn diese Dinge mit den gängigen Begriffen des anderen Glaubens nicht unmittelbar ausgedrückt werden - können wir dann behaupten, Gott habe für sich keinen Weg gefunden?

Und wenn wir mit radikal anderen Begriffen konfrontiert sind, mit uns fremden und komplexen Darstellungen einer Perspektive, die nicht die unsere ist, dann dürfen wir nicht fragen: ‚Wie können wir sie des Irrtums überführen?‘ oder ‚Wie können wir diesen Ideenwettbewerb gewinnen?‘, sondern wir sollten uns fragen: ‚Was sehen sie eigentlich?‘ und ‚Kann das, was sie sehen, Teil der Welt sein, den ich sehe?‘ Dies sind Fragen, die nur durch Treue zu beantworten sind, das heißt, indem wir bei dem Anderen bleiben. Vergessen wir nicht, dass unsere Berufung zur Treue ein Aspekt unserer Identität und Integrität ist. Geduldige Arbeit an der Seite von Menschen anderen Glaubens ist nicht eine Option, die von modernen Freigeistern erfunden wurde, welche die radikale Einzigartigkeit Jesu Christi und dessen, was er möglich machte, relativieren wollen. Nein, sie ist notwendiger Teil des Seins dort, wo er ist; sie ist eine Dimension der ‚Liturgie‘, wenn wir uns im Gebet und in der Liebe in der Gegenwart Gottes und in der Gegenwart seiner (menschlichen und nicht menschlichen) Schöpfung befinden. Wenn wir wahrhaft lernen wollen, wie wir uns in dieser Beziehung zu Gott und zu der Welt, in der Jesus von Nazareth stand, verhalten sollen, dann dürfen wir uns nicht abwenden von jenen, die von einem anderen Ort aus sehen. Und jeder Anspruch oder jede Überzeugung, wir sähen mehr oder tiefer, wird immer und zu Recht einer Prüfung unterzogen, wenn wir uns gemeinsam mit Menschen, die von einem anderen Ausgangspunkt her kommen als wir, für eine Vision von menschlicher Entwicklung und Gerechtigkeit einsetzen. 

Doch diese Aufforderung, treu zu sein, hat auch konkretere Implikationen. Dort, wo Christen traditionell in der Mehrheit sind, ist Treue zum Anderen gleichbedeutend mit Solidarität mit ihm, gleichbedeutend mit dem Gebot, ihn in Zeiten der Verfolgung oder Gewalt zu beschützen und ihm beizustehen. In einer mehrheitlich christlichen Kultur helfen Christen oft einer oder mehreren nichtchristlichen Gemeinschaften, sich Gehör zu verschaffen. In Großbritannien geschieht dies meist durch die Entwicklung interreligiöser Foren; durch die Zusammenarbeit mit anderen Gemeinschaften an Themen wie Migration, Asyl und gemeinsamen Anliegen im Hinblick auf internationale Gerechtigkeit, Armut und Umweltzerstörung; durch das Eintreten für die Beteiligung anderer Glaubensgemeinschaften an der staatlich-kirchlichen Partnerschaft im Bildungswesen, und durch den Ausbau von Bündnissen gegen Antisemitismus. In anderen europäischen Ländern ist die Situation ähnlich. Auch hier unterziehen sich Christen einer Selbstprüfung und werden sich bewusst, in welchem Ausmaß ihre Gesellschaften dem Anderen Gastfreundschaft oder Gerechtigkeit verweigert haben. 

Es stellt sich aber auch die Frage, was Treue in einer mehrheitlich nichtchristlichen Kultur bedeutet, und dies ist nicht so einfach zu beantworten. Aus verschiedenen Gründen, die teils auf Fakten, teils aber auch auf Fantasie beruhen, betrachten viele nichtchristliche Mehrheiten die Anwesenheit von Christen als Bedrohung oder zumindest als Zeichen dafür, dass diese bestimmte geopolitische Ziele (im Zusammenhang mit den USA oder dem Westen generell) verfolgen - und dies trotz der Tatsache, dass in vielen dieser Gebiete seit langer Zeit christliche Minderheiten ansässig sind. Eine der problematischsten Folgen der jüngsten internationalen Entwicklungen ist die, dass beispielsweise Christen im Nahen Osten oder in Pakistan von einer leicht manipulierbaren Bevölkerungsmehrheit mit einer feindlichen ausländischen Politik in Verbindung gebracht werden. Die hierdurch bedingten Leiden christlicher Minderheiten sollten von all unseren Kirchen und der gesamten Vollversammlung beständig im Auge behalten werden. 

Der Mut, mit dem Christen in Ägypten, Pakistan, auf dem Balkan und sogar in Irak auch weiterhin versuchen, an der Seite ihrer nichtchristlichen Nächsten tätig zu sein, ist bewundernswert. Dort herrscht kein Klima des "Dialogs", wie wir es aus dem Westen oder der komfortablen Atmosphäre internationaler Konferenzen kennen - nein, dort muss Vertrauen in mühseliger Kleinarbeit und in einem höchst unsicheren und komplexen Umfeld immer wieder neu aufgebaut werden. In solchen Situationen reagieren Christen recht selten mit Gegenangriffen oder mit absolutem Rückzug. Sie suchen vielmehr weiter nach Möglichkeiten, wie sie und ihre Nächsten anderen Glaubens als Mitbürger zusammenleben können. Mir scheint, in solchen Situationen wird am deutlichsten, was es heißt, die Kosten der Treue zu tragen, die Stelle Jesu einzunehmen und damit die Last und manchmal die Schrecken des Ausgestoßenwerdens auf sich zu nehmen und dennoch von Miteinanderteilen und Gastfreundschaft zu sprechen. Hier sehen wir, was es bedeutet, eine neue Menschheit zu gestalten, und es gibt genügend Anzeichen dafür, dass ein solcher Versuch ansteckend sein und neue Möglichkeiten für eine ganze Kultur eröffnen kann. Das ist nicht lediglich eine Frage geduldigen Erleidens. Es verlangt von den Christen, sich mit zutiefst problematischen Aspekten einer nichtchristlichen Kultur auseinanderzusetzen, mit Umfeldern, in denen die Menschenwürde, die Rechte der Frau, die Rechtsstaatlichkeit und ähnliche Werte nicht genügend geachtet werden. Wenn Christen für diese Werte Zeugnis ablegen, dann setzen sie sich möglicherweise weiteren Angriffen oder weiterer Ausgrenzung aus - und doch gehört dieses Zeugnis zu der Identität, die wir alle mit Integrität zu bewahren suchen. Wo dies geschieht, sollten wir alle nach Möglichkeiten suchen, mit denjenigen Gläubigen Solidarität zu üben, die sich in einer Minderheit befinden. 

Die Frage der christlichen Identität in einer Welt vieler unterschiedlicher Perspektiven und Überzeugungen kann nicht beantwortet werden mit Klischees von der toleranten Koexistenz verschiedener Meinungen. Es ist vielmehr so, dass uns die Natur unserer Überzeugung als Christen unwiderruflich an einen bestimmten Ort stellt, der zugleich verheißungsvoll und höchst riskant ist - an einen Ort, an dem wir berufen sind, dem in Christus offenbarten Gott und all jenen, die er eingeladen hat, uneingeschränkte Loyalität zu zeigen. Unsere Identität verpflichtet uns zu aktiver Glaubenstreue in diesem doppelten Sinne. Es ist nicht unsere Aufgabe, auf Religionsmärkten im Konkurrenzkampf zu bestehen oder unser "Produkt" zu "vermarkten". Wenn wir, wie Olivier Clément es ausdrückte, einen Dialog jenseits des Zusammentreffens von Ideologien führen wollen, dann müssen wir bereit sein, durch Leben und Wort zu bezeugen, was möglich wird, wenn wir uns an die Stelle Jesu des Gesalbten begeben - "unsere Gründe zu leben, weniger schlecht zu lieben und weniger schlecht zu sterben" (Clément, Anachroniques, S. 307). "Sagen Sie, wer Sie sind!" Ja, das tun wir, indem wir im Gebet Dank sprechen für unseren Ort, und indem wir in Glaubenstreue dort leben, wo uns Gott in Jesus hingestellt hat, damit die Welt die unermessliche Treue Gottes zu seiner Schöpfung sehe.