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Bischof Dr. Heinz Joachim Held, Vorsitzender des ÖRK-Zentralausschusses von 1983 bis 1991. Foto: Peter Williams/ÖRK

Bischof Dr. Heinz Joachim Held, Vorsitzender des ÖRK-Zentralausschusses von 1983 bis 1991. Foto: Peter Williams/ÖRK

2018 feiern wir das 70-jährige Jubiläum des Ökumenischen Rates der Kirchen. Damit wir aus erster Hand Erfahrungsberichte über die ökumenische Gemeinschaft und unseren gemeinsamen Weg vorlegen können, haben unsere Mitgliedskirchen Geschichten über Menschen, Ereignisse, Erfolge und auch Misserfolge beigetragen, die alle unsere gemeinsame Suche nach christlicher Einheit vertieft haben.

Diese Geschichte wurde von Bischof im Ruhestand Dr. Heinz Joachim Held geschrieben, Vorsitzender des ÖRK-Zentralausschusses von 1983 bis 1991.

Alle Ansichten oder Meinungen, die in diesem Artikel geäußert werden, sind diejenigen des Autors und entsprechen nicht unbedingt den Grundsätzen des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Wir schrieben den 20. Februar 1991. Es war der letzte Tag der 7. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Canberra. Die noch verbliebenen Stunden bis zum Abschlussgottesdienst am Abend waren überhäuft mit den vielen noch zu erledigenden Punkte der Tagesordnung. Wie denn das noch zu schaffen war? Kaum zu denken!

Mir war es als dem Moderator zugefallen, mit dem Generalsekretär und meinen beiden Stellvertretern, diese Riesen-Versammlung mit fast neunhundert Delegierten, mit vielen delegierten Vertretern, offiziellen Gästen und Beratern zu leiten. Es war eigentlich klar: Wir würden mit allem nicht zu Ende kommen.

Durch den Beginn des zweiten Golfkriegs Mitte Januar hatte die Vollversammlung ein unvorhergesehenes Thema bekommen, das die Herzen und Gedanken weit stärker bewegte als das offizielle Leitmotiv „Komm, Heiliger Geist – erneuere die ganze Schöpfung“. Dabei erwies gerade der schockierende Kriegsausbruch im Mittleren Osten die ganze Aktualität unseres theologischen Konferenzthemas, das sich eigentlich in dieser weltpolitischen Krise wie ein Hilfeschrei in unseren Mund legte.

Es hat uns dann anders beschäftigt, freilich in zwei sehr unterschiedlichen Weisen: durch einen gründlichen und klugen Vortrag des orthodoxen Patriarchen Parthenios von Alexandrien, der uns die Fülle der Lehre vom Heiligen Geist vor Augen stellte, und durch den Auftritt der koreanischen Theologieprofessorin Chung Hyung Kyung, die das Thema direkt im Zusammenhang mit den politischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen der Gegenwart entfaltete, eingeleitet durch eine imposante Tanzdarbietung ihrer heimatlichen Tradition.

Einen stärkeren Gegensatz konnte man sich nun nicht denken: dort die gute, bewährte Theologie in gedanklicher Klarheit und seelsorglicher Eindringlichkeit, hier eine aufrüttelnde Bewegtheit der Gedanken, Problembenennungen, Gebetsrufe und Richtungsanzeigen, eine ungewohnte Weise der theologischen Ansprache, sogar mit einer Theatervorführung.

Kein Wunder, dass die Vollversammlung nun ein zweites inoffizielles Thema bekommen hatte, auf das wir letzten Endes nicht vorbereitet waren, mit dem wir ebenso wenig fertig werden konnten wie mit dem ersten, der Klärung unserer Haltung zur Anwendung von militärischer Gewalt in Abwehr und Überwindung offenkundiger Rechtsverletzungen. Nun also noch dazu die Kontroverse über die Zulässigkeit einer Weise theologischen Denkens auf ungewohnten Bahnen, in anderen Räumen als in denen der alten kirchlichen Tradition.

In beiden Fällen offenbarten sich schlagartig aufs Neue Unterschiedlichkeiten, ja Gegensätzlichkeiten, die immer schon in der Gemeinschaft des ÖRK bestanden haben. Spannungen, die das Potenzial besitzen, diese Gemeinschaft in Frage zu stellen und zu sprengen, wenn wir nicht lernen, „klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie Tauben“ mit ihnen und miteinander umzugehen. Jedenfalls würden wir hier im Hauruck-Verfahren nicht weiterkommen, erst recht nicht am letzten Tag einer Vollversammlung.

Darum waren wir sicher gut beraten, als wir entschieden, es alles erst einmal bei einem Unentschieden zu lassen, um uns die Zeit zu geben, über alles noch einmal ruhig nachzudenken. Kann man denn solche elementaren Fragen des Gewissens und der Wahrheit einfach durch Mehrheitsbeschluss entscheiden?!

Noch in der letzten Sitzung dieses letzten Tages brachten die orthodoxen Kirchen ein Memorandum ein, in dem ihr langjähriges Unbehagen an den Verfahrenswegen und an theologischen Entwicklungen im ÖRK detailliert zum Ausdruck kam. Es war nur noch möglich, es entgegenzunehmen und zur weiteren Bearbeitung in nächster Zukunft vorzusehen.

Nein, wir waren nicht fertig geworden und konnte es auch nicht. Wir standen zwar am Ende einer Vollversammlung, waren aber zugleich an Grenzen gestoßen, an Grundfragen, die an die Substanz rühren. Würden wir mit ihnen überhaupt jemals fertig werden? Würden wir nicht vielmehr mit ihnen leben lernen müssen? Vielleicht waren wir hier sogar an die Grenzen unserer ökumenischen Möglichkeiten geraten! Würde die Einheit der Kirchen am Ende anderer Art sein, als einer einheitlichen theologischen und sozialethischen Meinung zu sein, einer einzigen kirchlichen Ordnung und Lebenskultur?

Welches ist die Einheit? Nicht die Einheit, die wir meinen, die uns passt und zusagt, sondern die Einheit, die Gott will und die wir suchen sollen?

Wie sollte ich nun diese unfertige, im Grunde unabgeschlossene Vollversammlung als ihr Moderator zu Ende bringen? Gewiss, wir hatten viele Beschlüsse gefasst, manche Erklärungen beschlossen, eine Botschaft verabschiedet und die Programmrichtlinien für die nächste Zeit festgelegt.

Wir hatten die nötigen Wahlen vollzogen und die Berichte der thematischen Diskussionen entgegengenommen – alles mit knapper Not, wie das immer so ist, erleichtert, aber auch mit manchem Unbehagen. Nun waren wir am Ende unserer Zeit, ja schon 75 Minuten im Verzug; erst recht waren wir am Ende unseres gemeinschaftlichen Kraft.

Für die Eröffnung der Versammlung hatte mir eine klare Vorgabe für die Formalien vorgelegen, die ich dankbar in Anspruch genommen habe. Ihr Abschluss war mir anheimgegeben. Ich hatte kaum Zeit gehabt, darüber nachzudenken, auch nicht an diesem letzten Tag.

Ich weiß nicht, wie es dann kam. Aber auf einmal wurde mir klar, wie es gehen sollte. Nach einem kurzen Dankeswort an den Generalsekretär verzichtete ich auf ein persönliches Schlusswort. Ich las die Seligpreisungen Jesu aus der Bergpredigt im Matthäusevangelium, einfach weil dieser Bibeltext für mich im Laufe der Jahre immer wichtiger geworden ist.

Dann beteten wir das Vaterunser, ein jeder in seiner Sprache, weil es uns von Christus selbst gegeben worden ist, und stimmten als Letztes den Hymnus an, in spanischer Sprache, mir seit den zehn Jahren meines kirchlichen Dienstes in Lateinamerika lieb geworden: „Santo, santo, santo, mi corazón te adora, mi corazón te sabe decir: Santo eres, Señor“ – Heilig, heilig heilig! Von Herzen bete ich dich an, mein Herz weiß nichts anders, als Dir zu sagen: Heilig bist du, Herr!

Damit schien mir alles gesagt zu sein, was am Ende einer sehr bewegten Vollversammlung zu seinem Recht kommen musste. Heute, nach mehr als fünfundzwanzig Jahren, will es mir wie ein Vermächtnis vorkommen, was es damals wohl schon sein sollte, als mein Wunsch, meine Hoffnung, meine Fürbitte für den ÖRK und seinen weiteren Weg.

Sind die Seligpreisungen nicht die Quintessenz des christlichen Glaubens überhaupt, aller Theologie und alles praktischen Christentums, von Faith and Order (Glauben und Kirchenverfassung) und von Life and Work zusammen, Verheißung und Ortsanweisung in einem? Auch kann es nur den Betenden gelingen, dazu zu helfen, „dass sie alle eins sind“, wie es Jesu letzte Bitte war. Und den Herzen, die sich vor Gott beugen und sich an ihn hingeben können.

 

Weitere Informationen über das 70-jährige Jubiläum des ÖRK

#WCC70: Geschichten von unserer gemeinsamen Reise