Von Larry*, einem ökumenischen Begleiter des Ökumenischen Begleitprogramms des ÖRK in Palästina und Israel (EAPPI)

Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, heißt es zumindest. Und da Meinungen naturgemäß das Ergebnis persönlicher Einschätzungen sind, sollte man offen darüber reden können. Aber was ist mit Tatsachen? Bei Tatsachen kann man davon ausgehen, dass sie unveränderlich sind. Die Sonne geht im Osten auf und im Westen unter, oder? In Israel und Palästina allerdings sind auch Tatsachen Gegenstand kontroverser Diskussionen. Wie sich z.B. an einem sonnigen Samstag in dem Badeort Aschkalon am Mittelmeer zeigte.

Rein äußerlich könnte Aschkalon, das genau nördlich vom Gazastreifen liegt, leicht ein Badeort in New Jersey sein. Aber man braucht nicht allzu scharfsinnig zu sein, um die beklemmende Gegenwart einer Vergangenheit zu spüren, die noch nicht ganz vergangen ist. Zwischen den hellen neuen Gebäuden sind das winzige Museum und die kleinen Straßencafés sichtbare Zeichen einer ganz anderen Vergangenheit. Ein großes Gebäude liegt in Ruinen und ein Minarett, das einmal Teil einer Moschee war, erhebt sich inmitten der Tische, an denen russische Israelis ihren Kaffee schlürfen. Diese Überreste sind Erinnerungen an eine Zeit, in der hier eine andere Stadt existiert hat - Madschdal, eine palästinensische Stadt, deren Bewohner 1950 vertrieben wurden, um Platz für die Stadt Aschkalon zu machen. Aber diese Tatsache wird von den hier lebenden Israelis trotz der sichtbaren Beweise nicht gerne akzeptiert.

An einem sonnigen Samstag - am Samstag, dem 20. September - begleiteten Mitglieder des Ökumenischen Begleitprogramms in Palästina und Israel (EAPPI) Dutzende von Flüchtlingen aus Madschdal und ihre Familien auf einer Besuchsreise in die alte Heimat bzw. dem, was davon übrig geblieben ist. Die meisten dieser Flüchtlinge und ihrer Nachkommen leben seit 1950 in der palästinensisch-israelischen Stadt Lod, nordöstlich von Aschkalon. Die Reise nach Aschkalon war von der israelischen Organisation Zochrot organisiert worden. Das hebräische Wort zochrot bedeutet "Erinnert Euch". Diese Organisation wurde mit dem Ziel gegründet, in der jüdisch-israelischen Gesellschaft das Bewusstsein für die "al Naqba" ("Katastrophe" auf Arabisch) zu stärken - die Vertreibung der Palästinenser und die Zerstörung ihrer Dörfer, die mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 einhergingen.

Eine der öffentlichkeitswirksamsten Aktivitäten von Zochrot ist die Aufstellung von Gedenktafeln, die an die Existenz zerstörter Dörfer und Städte erinnern. Damit soll das, was einmal existiert hat, anerkannt und die Versöhnung zwischen den beiden Völkern gestärkt werden. Zochrot verbindet damit die doppelte Hoffnung, dass die Palästinenser eines Tages in ihre Dörfer zurückkehren können und dass jüdische Israelis es lernen, das Leid der Palästinenser zu verstehen und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass allen Bürgern und Bürgerinnen Israels - jüdischen wie arabischen - die gleichen Rechte zustehen.

Am 20. September stellte Zochrot in Aschkalon vier Gedenktafeln auf, auf denen in Arabisch und Hebräisch an das ehemalige Haus einer bekannten Familie aus Madschdal, an zwei frühere Straßennamen sowie an den Ort erinnert wird, an dem die Einwohner der Stadt 1950 zusammen getrieben wurden, bevor sie die Stadt verlassen mussten.

Taha Alkhtib war einer der Palästinenser, die an dieser Aktion teilnahmen. Sein Vater war erst neun Jahre alt, als seine Familie aus ihrem Haus vertrieben wurde. Jedes Mal, wenn Zochrot eine Tour organisiert, nehmen die Familienmitglieder daran teil, um ihre Geschichte zu erzählen. "Wir müssen unsere Kinder und jungen Leute hierher bringen, damit sie ihre Vergangenheit verstehen", erklärte Alkhtib. "Ich glaube nicht wirklich, dass wir eines Tages hierher zurückkehren können, aber ich glaube, dass es wichtig ist, die Erinnerung wach zu halten, damit unser Kampf eines Tages Anerkennung findet."

Die ganze Aktion schien friedlich abzulaufen ... bis es plötzlich unter der Gedenktafel, die an die Sammelstelle für die Bewohner von Madschdal erinnern sollte, zu einer heftigen Auseinandersetzung kam. Angestachelt von zwei seiner Nachbarn hatte ein Bewohner aus Aschkalon das Schild genommen und wollte gerade damit weglaufen; eine Palästinenserin lief ihm nach und hielt ihn fest. Der Mann schrie, die Gedenktafel beleidige ihn, weil sie nicht wahr sei. Er wohne seit jeher in Aschkalon und habe nie einen Palästinenser getroffen, der hier gelebt hätte. Sein Nachbar mischte sich ein und es folgte eine hitzige Diskussion. Die vier standen sich wutentbrannt gegenüber: die palästinensische Frau schrie ihre ganze Frustration heraus, einer der Israelis erhob seine Faust und schien in seiner Wut noch nicht einmal zu merken, dass ein Kamerateam genau neben ihm stand und die Szene filmte. Das historische Verständnis dieser vier Menschen passte einfach nicht zueinander.

Teddy Katz, ein jüdischer Israeli, der an der Demonstration teilnahm, verteidigte die Frau. Mitten in dem hitzigen Wortgefecht darüber "wer als erster da war" fragte Katz den Mann, der am stärksten erregt war: "Aber die Moschee? Dann sagen Sie mir, wer die Moschee gebaut hat?" Die unerschütterliche Antwort lautete, dass das eine jüdische Moschee sei!

"Es hat mich wirklich überrascht, wie unterschiedlich die Menschen hier die Geschichte interpretieren", erzählte Louise, eine ökumenische Begleiterin, die den Zwischenfall miterlebt hat. "Die historischen Tatsachen existieren nicht mehr, nur die eigene Erinnerung zählt. Dieser Zwischenfall hat mir deutlich gemacht, warum es überhaupt einen Konflikt gibt. Allzu oft wird vergessen, dass man miteinander reden und einander zuhören sollte. Unwissenheit, kombiniert mit Angst, ist eine gefährliche Waffe."

"Es ist traurig, dass der ganze Konflikt manchmal auf die Frage reduziert wird, wer zuerst da war", fügte Lena, eine andere ökumenische Begleiterin, hinzu. "Es bringt nichts, wenn man darüber streitet, wer zuerst da war. Denn jede der beiden Seiten kann ja im Grunde genommen für sich beanspruchen, zuerst da gewesen zu sein. Es war bewegend, ja erschütternd, zu sehen, wie tief der Anspruch der einen die anderen verletzt. Es schmerzte die jüdischen Israelis so sehr zu akzeptieren, dass dies einmal ein nicht-jüdischer Ort war."

Die Auseinandersetzung zwischen der palästinensischen Frau und den jüdischen Bewohnern von Aschkalon konnte schließlich in einem intensiven Gespräch beigelegt werden. Der Mann, der die Gedenktafel heruntergeholt hatte, entschloss sich, sie wieder anzubringen. Er bot der palästinensischen Frau zum Zeichen der Versöhnung sogar ein Glas Wasser an. Daraufhin gingen seine Nachbarn missmutig nach Hause zurück und murrten, dass all dies die Schuld von Meretz, der politischen Partei Israels sei, der Katz angehört. Meretz setzt sich für die friedliche Versöhnung zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn - einschließlich der Palästinenser innerhalb wie außerhalb Israels - ein.

Lena war beeindruckt von der Reaktion des Mannes. "Es hat mir Mut gemacht. Der Mann war so bewegt von den Gefühlen der Frau, dass er das Schild wieder anbrachte!"

Katz wandte sich an die versammelten Menschen und erklärte, warum Aktionen wie diese dazu beitragen können, unter den Israelis ein neues Bewusstsein dafür zu schaffen, wie ihr Staat entstanden ist: "Aus dieser Stadt und aus zahlreichen anderen Orten wurden viele Palästinenser vertrieben. Damals gab es hier 500 Dörfer, die heute alle nicht mehr existieren. Sie (die Palästinenser aus Madschdal) haben hier gelebt, sind hier zur Schule gegangen, haben hier in ihrer Moschee gebetet. Wir müssen verstehen, dass dieser Ort nicht von Anfang an jüdisch war. Nach 1948 wurde Madschdal zerstört und Aschkalon aufgebaut."

"Wir erklären hier und jetzt, dass ihr (die Palästinenser) hierher gehört", schloss Katz. "Es ist euer Land, genau wie es unser Land ist. Es tut uns leid, dass unsere beiden Völker Krieg gegeneinander führen. Diejenigen von uns, die heute gekommen sind, wollen einen Kompromiss mit den Palästinensern, damit alle gleichberechtigt hier leben können. Auch wenn dies ein jüdischer Staat ist, so ist hier doch Platz für die Palästinenser. Ihr habt Rechte, nicht weil wir sie euch geben. Ihr habt genauso Rechte, wie wir Rechte haben."

Wer war nun aber tatsächlich zuerst in Aschkalon bzw. Madschdal? Wenn die Menschen sich noch nicht einmal über Tatsachen der Vergangenheit einig sind, wie soll dann eine ehrliche Diskussion über die Zukunft dieser beiden Völker stattfinden können? Vielleicht liegt darin eine der entscheidenden Funktionen der ökumenischen Begleitpersonen. Die Begleiter und Begleiterinnen, die mit ihrer Präsenz Palästinenser und Organisationen wie Zochrot unterstützen, tragen dazu bei, dass es anstelle der gegenseitigen Beschimpfungen zu Gesprächen und Zeichen der Versöhnung kommt. Das ist ein kleiner, aber entscheidender Schritt auf dem Weg zum Aufbau einer Kultur der Wahrheit und des dauerhaften Friedens.

Als wir ungefähr eine Stunde später an dem Minarett vorbeigingen, von dem aus die Menschen in Madschdal vor mehr als 50 Jahren zum Gebet gerufen worden waren, und an den Ort zurückkehrten, wo der Streit stattgefunden hatte, war die Gedenktafel noch an ihrem Platz. Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung!

Das Ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) läuft seit August 2002. Ökumenische Begleitpersonen beobachten die Menschenrechtslage und melden Verstöße gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht, unterstützen Aktionen gewaltlosen Widerstands an der Seite christlicher und muslimischer Palästinenser und israelischer Friedensaktivisten, gewähren Schutz durch ihre gewaltlose Präsenz, setzen sich für politische Veränderungen ein und üben ganz allgemein Solidarität mit den Kirchen und allen, die sich gegen die Besetzung wenden. Das Programm wird vom Ökumenischen Rat der Kirchen koordiniert.

* Larry, 37 Jahre, kommt aus den Vereinigten Staaten und ist römisch-katholisch. Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn arbeitete er als Sportredakteur und Herausgeber, jetzt unterrichtet er Welt- und Kulturgeschichte. In seiner Funktion als ökumenischer Begleiter ist Larry Chefredakteur und Kommunikationsbeauftragter; er reist in der ganzen Region umher und schreibt Artikel über die Erfahrungen der Begleitpersonen. Die ökumenischen Begleiterinnen Lena (aus Schweden) und Louise (aus Dänemark) haben zu dem vorliegenden Artikel beigetragen.

Die ökumenischen Begleitpersonen werden aus Sicherheitsgründen nicht mit vollem Namen genannt.

Weitere Artikel und Berichte ökumenischer Begleitpersonen finden Sie auf unserer Webseite:www2.wcc-coe.org/eappi.nsf