Menschen mit Behinderung erhalten nach wie vor nicht den ihnen gebührenden Platz in Kirche und Gesellschaft. Was die Kirchen zur Änderung dieser Situation beitragen können, beschäftigte den Zentralausschuss des Ökumenischen Rates (ÖRK). Grundlage war eine vorläufige Erklärung des "Netzwerks der ökumenischen Anwaltschaft für behinderte Menschen" (EDAN), das der ÖRK 1998 ins Leben gerufen hat.

Laut Schätzungen leben weltweit 600 Millionen Menschen mit Behinderungen. Viele werden nach wie vor gesellschaftlich isoliert, heisst es in dem Dokument mit dem Titel "Kirche aller". Es gebe Mauern der Scham, des Hasses, der Angst und der Ignoranz, aber auch Mauern theologischer Vorurteile und kulturellen Unverständnisses. Kirche als "inklusive Gemeinschaft" sei berufen, diese Mauern nieder zu reissen.

Das von behinderten Menschen, Angehörigen und Betreuern verfasste Papier setzt sich kritisch mit der Rolle der Kirchen im Umgang mit behinderten Menschen auseinander und wirft zentrale Fragen nach ihrem biblischen und theologischen Verständnis auf: Was bedeutet die Vorstellung, dass die Menschen "nach dem Bilde Gottes" geschaffen sind, und wie ist die biblische Aussage zu verstehen, dass alle geschaffenen Lebewesen "gut" sind?

Die Berichte in den Evangelien über die Heilung von Krankheiten und Behinderungen durch Jesus würden traditionell als Befreiung und Befähigung zu einem reicheren Leben gedeutet, wird in dem Dokument festgestellt. "In diesem Sinne gelten Menschen mit Behinderungen als Schwache, die der Fürsorge bedürfen. Sie werden zu Objekten der Nächstenliebe, zu Menschen, die empfangen, was andere geben. Deshalb können Menschen mit Behinderungen anderen Menschen in der Kirche nicht gleichberechtigt begegnen".

Die Auffassung, Menschen mit Behinderung seien "nicht vollständig" sei in der Vergangenheit mit unterschiedlichen theologischen Argumenten wie "Strafe für Sünde" oder "mangelnder Glauben" gestützt worden und noch immer in konservativen kirchlichen Kreisen und karitativen Einrichtungen anzutreffen, so die Autoren. Erst allmählich zeichne sich ein Wandel ab, werde erkannt, dass Menschen mit Behinderungen über Erfahrungen verfügen, die Kirche bereichern können.

"Alle Menschen haben potenzielle Gaben, aber auch Grenzen", stellte der scheidende ÖRK-Generalsekretär Konrad Raiser dazu im Zentralausschuss fest. Die Schöpfung sei gut, aber endlich. Das "Gutsein des Lebens" schliesse seine Endlichkeit ein. "Aufgrund von Beziehungen durch das Leben in Gemeinschaft kann das, was für den Einzelnen eine Begrenzung oder Einschränkung ist, zu einer Gabe für andere in der Gemeinschaft werden", so Raiser.

Behinderung ist dem Studiendokument zufolge "eine menschliche Befindlichkeit und als solche nicht eindeutig definierbar". Menschsein bedeute, "ein Leben zu führen, das von der guten Gabe der göttlichen Schöpfung, aber auch von der Gebrochenheit geprägt ist, die zum menschlichen Leben dazugehört". In Behinderungen würden diese beiden 'Seiten' menschlichen Lebens erfahrbar.

Das Papier wendet sich gegen die Betonung "erfolgsorientierter Wertvorstellungen des modernen Individualismus" im christlichen Menschenbild. Wesentliche Elemente christlicher Theologie werden dabei ausser Acht gelassen. "Kernstück christlicher Theologie ist Kritik an Erfolg, Macht und Perfektion sowie Achtung vor Schwachheit, Gebrochenheit und Verletzlichkeit", wird betont. Ohne die uneingeschränkte Integration von Menschen, die aufgrund ihres Lebens mit Behinderungen zur Gemeinschaft beitragen können, verkündet die Kirche nicht die Fülle des Lebens als Geschenk Gottes. Wie andere Randgruppen wollten behinderte Menschen in der Kirche kein Mitleid oder Erbarmen, "sondern mitfühlendes Verständnis und Chancen, damit wir unsere Berufung, unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten entfalten können".

Die Kirchen werden aufgefordert, im Blick auf behinderte Menschen neu über die Gottesdienstgestaltung nachzudenken. "Was in der Liturgie und in der Behinderung zum Ausdruck kommt, hat mit der Zerbrechlichkeit unseres Lebens und unserer Abhängigkeit von Gott zu tun", wird hervorgehoben. "Die Liturgie sollte den ganzen Menschen einbeziehen, seine Körperbewegungen, seine Sinne und seinen Verstand".

Die Sprache im Gottesdienst sollte sensibel sein. Verletzende Formulierungen in einem Schuldbekenntnis wie "Die Sünde hat uns entstellt" müssten vermieden werden. Plädiert wird auch für den stärkeren Einsatz non-verbaler Gottesdienstelemente. Genannt werden hier "tänzerische Bewegungen, szenische Darstellungen, Händeklatschen im Gebet, das Erheben der Hände zum Segen, das Kreuz schlagen, Umarmungen, Geschenke verteilen" aber auch Handauflegung, Fusswaschung oder das Anlegen von Gewändern. Für Menschen mit Hörproblemen seien neben technischen Hilfsmitteln verstärkte visuelle Darstellungen hilfreich, "wer nur wenig sieht, sollte viel zu hören bekommen".

Ausser praktischen Vorkehrungen sollte im Gottesdienst jedoch vor allem auf Einstellungen und Verhaltensweisen von Besuchern geachtet werden, die Barrieren für Menschen mit Behinderungen aufrichten und ihnen das Gefühl geben können, nicht willkommen zu sein. "Wenn Menschen mit Behinderungen eine grössere Rolle spielen sollen, müssen die Glaubensgemeinschaften überdenken, wer willkommen heissen und hereingeleiten soll, wer Fahnen tragen, wer im Chor singen darf, wer als Lektor berufen wird und wer die Gebete leiten darf". Strenge Regeln im Blick auf "angemessenes Verhalten müssten möglicherweise gelockert werden.

Link zum Dokument "Kirche aller - eine vorläufige Erklärung" unter:

www2.wcc-coe.org/ccdocuments2003.nsf/index/plen-1.1-ge.html