von Henrike Müller (*)

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Das Licht in der Kirche ist gedämpft. Nur durch kleine Fenster über der Ikonostase (**) dringen schwache Lichtstrahlen in das reich geschmückte Gebäude herein. Weihrauchschwaden steigen auf und tragen mit ihrem starken Duft zu der besonderen Atmosphäre eines orthodoxen Gottesdienstes bei.

Nach und nach kommen Menschen in die Kirche, gehen nach vorne und knien vor einer Ikone nieder. Eine Frau küsst das heilige Bild und bekreuzigt sich, bevor sie in das Kirchenschiff zurückgeht, um am Gottesdienst teilzunehmen. Dieser ist heute dem Hl. Georg geweiht, einem Heiligen aus dem 5. Jahrhundert, der den Märtyrertod erlitten hat und noch heute als Vorbild im Glauben verehrt wird.

Ein Sonntagsgottesdienst in einer evangelischen Kirche, einem mittelalterlichen Gebäude mit schlichtem Altarraum, weißen Wänden und romanischen Fenstern, in deren farbigem Glas sich das Licht bricht und ein buntes Muster auf den Boden malt. Auf dem Altar sind ein Kreuz, die Bibel und zwei Kerzenständer angeordnet; die Abendmahlsgeräte sind schon vorbereitet.

In seiner Predigt zitiert der Pastor den deutschen Pastor und Theologen Dietrich Bonhoeffer: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag… - bekannte Worte aus einem Gedicht, das Bonhoeffer schrieb, kurz bevor er 1945 in einem Konzentrationslager umgebracht wurde. Seither werden seine Worte als Quelle des Trostes und als Beispiel für unerschütterliches Gottvertrauens hochgehalten.

<span style="font-weight: bold; "»» Die Vielfalt der Erinnerung

Die verschiedenen Kirchen haben unterschiedliche Formen des Gedenkens und der Verehrung von Heiligen und Märtyrern - Menschen, die ein christusgemäßes Leben gelebt haben oder als Vorbild des Glaubens dienen können. Eines ist in jüngster Zeit jedoch deutlich geworden: die Kluft, die zwischen römisch-katholischen und orthodoxen Kirchen auf der einen und evangelischen Kirchen auf der anderen Seite hinsichtlich der Bedeutung von Märtyrern für die Spiritualität besteht, ist nicht mehr so tief, wie sie es früher einmal war.

Dr. Lukas Vischer, ehemaliger Direktor der Abteilung für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und früherer Leiter der Evangelischen Arbeitsstelle "Ökumene Schweiz" in Bern, äußert sich dazu folgendermaßen: "Auf römisch-katholischer Seite ist die Bedeutung der Heiligenverehrung erheblich zurückgegangen." Auf der anderen Seite "setzt sich in evangelischen Kreisen die Einsicht durch, dass die radikale Ablehnung der Heiligenverehrung eine Verkürzung zur Folge gehabt hat. Mit der berechtigten Ablehnung von Missbräuchen ist das Bewusstsein der Gemeinschaft mit Zeugen der Vergangenheit überhaupt verloren gegangen."

<span style="font-weight: bold; "»» Wer darf als "Heiliger" bezeichnet werden?

Aber wen meinen wir, wenn wir von Heiligen, Zeugen und Märtyrern sprechen? Allgemein gesprochen handelt es sich dabei um Menschen, die Vorbilder für ein christliches Leben, für außergewöhnlichen Glauben und Gottvertrauen sind. Und doch sind es normale Menschen, die daran erinnern, dass Heiligkeit für alle gilt, die sich zu Gott wenden. Ein solches christusgemäßes Leben ist nicht auf eine bestimmte Epoche beschränkt. Somit hat der Kreis der Märtyrer und Zeugen keine festen Grenzen, und auf die Frage "Wer sind unsere Heiligen, unsere Zeugen?" kann es keine abschließende Antwort geben - weder für eine bestimmte Zeit noch für eine bestimmte Konfession. Aber obwohl sich laut Vischer alle Kirchen wohl darüber einig" sind, "dass das Urteil darüber letztlich einzig und allein Gott selbst zusteht", erkennen Kirchen und Christen übereinstimmend doch mehrere gemeinsame Väter und Mütter im Glauben an.

"Und es lassen sich dafür auch manche Beispiele anführen", fährt Vischer fort, "Denken wir an die Gestalt von Franziskus von Assisi, Anziehungspunkt ohne Unterschied für Christen aller Konfessionen. Oder denken wir an vier Märtyrer aus jüngster Zeit - Paul Florensky (orthodox), Dietrich Bonhoeffer (evangelisch), Janani Luwum (anglikanisch) und Oscar Romero (römisch-katholisch). In welcher Kirche würde ihres Zeugnisses nicht dankbar gedacht?"

Allerdings nimmt das Gedenken in den verschiedenen Kirchen verschiedene Formen an. In der römisch-katholischen Kirche werden Menschen z.B. heilig gesprochen und im Gottesdienst und Kirchenjahr wird ihrer regelmäßig gedacht. Jeder und jede Heilige hat seinen bzw. ihren besonderen Gedenktag, und die Menschen begehen ihren persönlichen Namenstag zum Gedächtnis an den Heiligen, dessen Namen sie tragen. Das Heiligengedenken hat nichts von seiner Bedeutung verloren: Papst Johannes Paul II. hat seit Beginn seines Pontifikats im Jahr 1978 fast doppelt so viele Menschen heilig gesprochen wie seine Vorgänger in den 400 Jahren seit der offiziellen Einführung der Heiligsprechung insgesamt.

Auch in der orthodoxen Liturgie und Spiritualität spielen Heilige eine wichtige Rolle, wie es in der Präsenz von Ikonen deutlich wird. Ikonen stellen beispielhaftes christliches Leben dar und erinnern die Gläubigen an die unsichtbare Gegenwart der himmlischen Gemeinschaft. So geben sie der Vorstellung vom Himmel auf Erden sichtbaren Ausdruck. Orthodoxe Kirchen haben während der letzten zehn Jahre Tausende neuer Märtyrer "verherrlicht", die Opfer von Verfolgungen während der Sowjetära wurden.

Im Gottesdienst der evangelischen Kirchen hat die Erinnerung an Zeugen und Heilige keinen festen Platz. Es wird in anderer Weise ihres Leben und Glaubens gedacht, zumeist indem Geschichten über das vorbildliche Gottvertrauen von Menschen erzählt werden. "In der Reformationszeit wurden die Heiligen nie abgeschafft", erklärt Dr. Dagmar Heller, Ökumenereferentin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). "In der Reformation hat man sich nur gegen die Anbetung von Heiligen und die Benutzung von Heiligen als Fürbitter und Mittler zwischen Mensch und Gott gewandt." In evangelischen Kirchen haben Heilige eine wichtige Funktion als beispielhafte Zeugen und "Vorbilder im Glauben".

<span style="font-weight: bold; "»» Erster Schritt zu einem ökumenischen Kalender

2002 veröffentlichte die interkonfessionelle monastische Gemeinschaft von Bose (Italien) ein Buch mit einer Zusammenstellung von Heiligen und Märtyrern und folgte damit einer Anregung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung aus dem Jahr 1978, nach der ein solches Buch "die Solidarität aller Christen im Gebet und praktischen Engagement stärken" würde.

Das "Libro dei Testimoni" war ein erster Schritt, um dieses Anliegen einem breiteren christlichen Publikum zugänglich zu machen. Ein neuer ökumenischer Heiligenkalender, der den ökumenischen Ansatz übernimmt und ihn den Kirchen wieder in die Hände legen will, wird die bislang umfassendste Zusammenstellung von Heiligen und Märtyrern aus allen christlichen Traditionen enthalten.

Aber im Blick auf die ökumenische Zusammenarbeit stellen sich weitere Fragen. Ist es möglich, das Gedächtnis unterschiedlicher Kirchen in einem einzigen Kalender zusammenzuführen? Wie kann Übereinstimmung darüber erzielt werden, wer in den Kalender aufgenommen werden sollte? Und wie können Christen damit umgehen, dass einige Mitglieder der ökumenischen Kirchenfamilie Heilige ehren, die von anderen Kirchen als Ketzer angesehen werden?

Um diesen Fragen weiter nachzugehen und das Projekt Gestalt annehmen zu lassen, arbeitet eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Vertreter/innen verschiedener ökumenischer Organisationen, einschließlich des ÖRK, des Lutherischen Weltbundes (LWB), des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen sowie der Gemeinschaft von Bose, an einem Projekt mit dem Namen "Wolke der Zeugen" - ein Bild, das aus der Bibel stammt (Hebräer 12,1).

<span style="font-weight: bold; "»» Die Wolke von Zeugen - ein ökumenisches Anliegen

Nach Ansicht dieser Gruppe wird der Kalender "diesem Austausch von Gaben Gestalt geben" und "dazu beitragen, dass diese 'Wolke von Zeugen' umfassendere und stärkere Anerkennung in allen Kirchen findet".

Diese Erinnerung ist "einer der wichtigsten Schritte, den die meisten Kirchen gehen wollen, um der Ökumene neue, frische Energie zu geben": Die gemeinsame Erinnerung an die Wolke von Zeugen stärkt die Vorstellung von einer Gemeinschaft, die die Grenzen von Raum und Zeit überwindet, da sie in Gottes Bund mit den Menschen gründet. Der Kalender, der einen Beitrag zu gemeinsamem Gottesdienst und Gebet leisten will, kann Menschen verschiedener Traditionen einander näher bringen und ihren Blick auf die gemeinsamen Grundlagen des christlichen Glaubens lenken.

Eine gemeinsame Erinnerung an Heilige kann zum weltweiten Christuszeugnis beitragen, denn die Beispiele aus der Vergangenheit zeigen auf, wie Menschen ihr Leben in der geistlichen und praktischen Nachfolge Christi leben können. Ein solches Zeugnis wird notwendigerweise Auswirkungen auf die menschliche Gemeinschaft haben: "Wie können wir die gute Nachricht glaubwürdig verkünden, wenn es uns nicht gelingt, zuerst unter uns selbst Wege des Friedens und der Versöhnung zu finden", fragen die Mitglieder der ökumenischen Arbeitsgruppe.

<span style="font-weight: bold; "»» Umsetzung des Projekts

Auf der Tagung des Plenums der ÖRK-Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, die unlängst (28.Juli-6.August 2004) in Kuala Lumpur, Malaysia, stattfand, wurde das Projekt den Kommissionsmitgliedern vorgestellt. Sie stimmten zu, das Projekt zu unterstützen und zu begleiten.

Zunächst werden nun die Kirchen gebeten, eine Liste von Heiligen zusammenzustellen, die in den einzelnen Kirchen verehrt werden. Zugleich werden die Kirchen aber auch aufgefordert, über ihre konfessionellen Grenzen hinauszuschauen und christliche Zeugen und Zeuginnen außerhalb ihrer Tradition zu benennen, die sie gerne in diesen Kalender aufgenommen sähen.

Der Kalender, der als inspirierende Quelle und Beitrag zur ökumenischen Spiritualität gedacht ist, soll vom ÖRK veröffentlicht werden. Bis zur Erscheinung der ersten Ausgabe des ökumenischen Heiligen- und Märtyrerkalenders - und selbstverständlich auch danach - sind Kirchen und Gemeinden eingeladen, aufeinander zuzugehen und in ihren verschiedenen gottesdienstlichen und geistlichen Traditionen nach gemeinsamen Erinnerungen und Wurzeln zu suchen. Das Fest Allerheiligen kann beispielsweise eine gute Gelegenheit bieten, das gemeinsame Zeugnis der Heiligen zu feiern.

(*) Henrike Müller arbeitet als Sondervikarin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers im Büro für Medienbeziehungen des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf.

(**) Die Ikonostase ist ein zentrales Merkmal orthodoxer und anderer ostkirchlicher Kirchengebäude. Es handelt sich um eine hölzerne, mit Ikonen bedeckte Wand mit Türen, die den Altarraum vom übrigen Teil der Kirche trennt und die Verbindung zwischen Himmel und Erde sowie die Verbindung zwischen Gott und den Menschen in Jesus Christus symbolisiert. [1514 w]

Ein Foto zu diesem Feature finden Sie unter:

www.wcc-coe.org/wcc/press_corner/martyrsdoor.html

Die Meinungen, die in den ÖRK-Features zum Ausdruck kommen, spiegeln nicht notwendigerweise die Position des ÖRK wider. Das Material ist zum Wiederabdruck unter Angabe des Autors freigegeben.