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© Marianne Ejdersten/ÖRK

© Marianne Ejdersten/ÖRK

Anlässlich einer internationalen Friedenstagung am 20. Juni hat die National Coalition of Christian Organizations in Palestine (NCCOP – Nationale Koalition christlicher Organisationen in Palästina) einen an den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und die ökumenische Bewegung gerichteten offenen Brief herausgegeben. Sein Fazit: „[E]s gibt immer noch keine Gerechtigkeit in unserem Land.“

Im Palästina der Gegenwart seien Diskriminierung und Ungleichheit, militärische Besetzung und systematische Unterdrückung an der Tagesordnung, so der Brief. „Heute stehen wir vor einem toten Punkt und wir haben einen Stillstand erreicht. Trotz aller Versprechungen, endloser Gipfelgespräche, UN-Resolutionen, Aufrufen von religiösen Anführern und Laien sehnen sich die Palästinenser immer noch nach Freiheit und Unabhängigkeit und suchen Gerechtigkeit und Gleichheit.“

Die Koalition bringt ihre Sorge zum Ausdruck angesichts des „systemischen Angriff[s] auf den kreativen Widerstand Palästinas“ durch Israel und angesichts der Tatsache, dass der „religiöse Extremismus im Aufwind ist“, wobei religiöse Minoritäten einen hohen Preis bezahlen.

In ihrem Brief dankt die Koalition den Kirchen für ihre Bemühungen um die Flüchtlinge und um die Beendigung der Konflikte in der Region. „Wir danken Ihnen auch für Ihre Unterstützung von verfolgten Christen an Plätzen wie dem Irak und Syrien“, heißt es weiter.

Die christliche Bevölkerung Palästinas brauche die ökumenische Bewegung mehr denn je, betont der offene Brief. „Wir brauchen mutige Frauen und Männer, die willens sind, voranzugehen. Das ist nicht die Zeit für oberflächliche Diplomatenchristen.“

Der offene Brief fordert die Kirchen auf, Israel als Apartheidsstaat zu benennen, die Balfour-Deklaration als ungerecht zu verurteilen, klar theologisch Position zu beziehen gegen jede Theologie oder christliche Gruppe, die die Besetzung rechtfertigt und ein Volk einem anderen gegenüber aufgrund des ethnischen Hintergrunds oder eines Bundes privilegiert, Stellung gegen religiösen Extremismus zu beziehen, die Partner im religiösen Dialog zu besuchen und Positionen zu hinterfragen, mit Kampagnen bei Kirchenleitenden und Pilgernden dafür zu werben, dass sie Bethlehem und andere palästinensische Städte besuchen, das Recht der palästinensischen Christinnen und Christen zu verteidigen, kreativ und gewaltlos Widerstand gegen die Besetzung zu leisten, Lobbygruppen zu gründen, die für sie eintreten, und im ÖRK ein strategisches Programm einzurichten, das mit dem Ziel von Gerechtigkeit und Frieden in Palästina und Israel Lobby- und Advocacyarbeit betreibt und aktive Programme entwickelt.

In dem Brief wird die akute Problematik der Lage für die Menschen in Palästina beschrieben: „Wir stehen am Abgrund vor einem katastrophalen Kollaps“, heißt es dort. „Dieser Ruf könnte die letzte Chance sein, um einen gerechten Frieden zu erhalten. Als palästinensische christliche Gemeinde könnte dies die letzte Chance sein, die Präsenz der Christen in diesem Land zu erhalten.“

Dem ÖRK-Exekutivausschuss, der im November in Amman (Jordanien) zusammentritt, wird sein Vorsitz den offenen Brief vorlegen. Weiterhin hat der ÖRK seine Mitgliedskirchen und Partner weltweit aufgerufen, den Brief, in dem eine lokale Stimme aus dem heutigen Palästina zu Wort kommt, zu lesen und weiterzuverbreiten.

Fünf Stellungnahmen von Teilnehmenden der Tagung in Bethlehem

Nora Carmi, zivilgesellschaftliche Aktivistin im Bereich Gerechtigkeit und Frieden:

Der offene Brief der NCCOP an den ÖRK und die ökumenische Bewegung ist ein aufrichtiger, tiefempfundener Aufruf an alle Menschen, die ihrem Gewissen folgen, jetzt zu handeln, bevor es zu einem katastrophalen Kollaps kommt. Er erinnert die Kirche an ihre langjährige prophetische Tradition als treue Zeuginnen und Zeugen, die rufen: „Lernet, das Rechte zu tun; sucht die Gerechtigkeit. Verteidigt die Unterdrückten.“ (Jes 1,17) Selbst jetzt, in diesem „Moment des Unmöglichen“, bietet sich die Chance, neun mutige Schritte zu tun, die die christliche Präsenz in diesem Land retten und einen gerechten Frieden bewirken werden. Diese Nachfolge hat ihren Preis und erfordert den Mut, Israel als Apartheidsstaat zu benennen, die Balfour-Deklaration zu verurteilen, klare, feste theologische Positionen zu vertreten, religiösen Extremismus zu bekämpfen, Positionen von Dialogpartnern zu hinterfragen, Pilgerfahrten der Gerechtigkeit den Weg zu weisen, das Recht des Widerstands gegen Besetzung und Unrecht zu verteidigen, Lobbygruppen zu gründen, die sich für die christliche palästinensische Bevölkerung einsetzen, und an Gerechtigkeit und Frieden in Palästina und Israel mitzuarbeiten. Gemeinsam werden wir etwas verändern!

Rifat Kassis, Mitautor des Kairos-Dokuments:

Ein solches Dokument, ein solches Kommunikationsmittel hat es bisher nicht gegeben. Der Nationalen Koalition christlicher Organisationen in Palästina (NCCOP) gehören eine Reihe angesehener und gut vertretener palästinensischer christlicher Organisationen an, die sich zusammengefunden haben, um offen und ohne Hindernisse ihre Schwestern und Brüder in der ökumenischen Bewegung sowie den ÖRK hinsichtlich unserer eigenen Situation anzusprechen. Das Dokument hat außerdem den Zweck darzustellen, dass die Situation in Palästina überaus dringlich ist. Wir stehen am Rand eines katastrophalen Kollapses und dies könnte unsere letzte Chance sein, die christliche Präsenz in unserem Gebiet zu retten. Wir palästinensischen Christinnen und Christen hoffen, dass unser Brief von unseren Brüdern und Schwestern in aller Welt und von denen, die im ÖRK Führungsverantwortung tragen, ernst genommen wird. Weiterhin beten wir darum, dass sie ihr Möglichstes tun werden, um unserem Volk, das seit einem Jahrhundert leidet, Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.

Nidal Abu Zuluf, Manager, Joint Advocacy Initiative, YMCA (CVJM) Ost-Jerusalem und YWCA (CVJF) Palästina:

Es war ein weiterer Kairos-Moment, der die Mitglieder der NCCOP veranlasst hat, diesen Brief zu schreiben. Die Dringlichkeit der palästinensischen Situation und die Verzweiflung bewirkten diese Sprache der Klarheit, die ohne Angst die Dinge beim Namen nennt. Auch war es unsere Hoffnung, dass der ÖRK und die gesamte ökumenische Bewegung offen sein und so handeln werden, wie es dringend erforderlich ist. Ich bin der Überzeugung, dass es an der Zeit ist, freimütig zu sprechen, prophetisch zu sein und zu handeln, an der Zeit, auf kreative Weise so Widerstand gegen diese Besetzung und Unterdrückung zu leisten, dass etwas bewirkt wird.

Die Reaktionen, die wir in diesen wenigen Tagen erhalten haben, sind zutiefst bestärkend. Mir war schon immer klar, dass die ökumenische Bewegung so stark ist und das Leben von Menschen gewaltig beeinflussen und verändern kann. Ich habe keine Zweifel, dass dieser Brief weitere Debatten anstoßen wird, dass er im ÖRK und in anderen ökumenischen Bewegungen dazu führen wird, dass eine Strategie der kostbaren Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung entsteht.

Mira Rizeq, Generalsekretärin des Christlichen Vereins Junger Frauen (CVJF) in Palästina:

Die Nationale Koalition christlicher Organisationen in Palästina (NCCOP) hat heute im Rahmen der Tagung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Beit Sahur mit dem Titel „50 Jahre Besetzung und das ökumenische Vorgehen“ eine historische Erklärung herausgegeben. Die Erklärung unterstreicht die Dringlichkeit der Lage im Besetzten Palästina und ruft zum Handeln auf. Sie fragt, ob das palästinensische Volk den „‚Moment des Unmöglichen‘ erreicht“ hat, „weil die Dinge von vornherein – vor 100 Jahren – auf eine ungerechte Prämisse aufgebaut waren?“ Die palästinensische Bevölkerung ruft den ÖRK, die Kirchen in aller Welt und die ökumenische Bewegung auf, die Mauern der Angst und der Verstellung niederzureißen, sich der Wahrheit zu stellen, die Realitäten zu entlarven und mutig Position im Sinne eines gerechten Friedens zu beziehen.

Die palästinensische Gemeinschaft hofft, dass, während Israel weiter Unterdrückung und Übergriffe verschärft und den Raum für die freie Meinungsäußerung und proaktives Handeln beschneidet, der ÖRK und die Kirchen weltweit diese Erklärung einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich machen werden, um ihre Mitglieder, Vollversammlungen, Partner und andere Akteure zu informieren, und in den nächsten zwei Tagen gemeinsam daran arbeiten werden, miteinander einen Aktionsplan zu erstellen, der uns alle den Bestrebungen des palästinensischen Volkes nach Frieden näher bringt.

Rania Murra, Direktorin des Arab Educational Institute, Mitglied des Internationalen Vorstands von Pax Christi International:

Nach über 50 Jahren Besetzung meine ich, dass wir dringend zusammenstehen und die Kirchen ihre prophetische Stimme erheben müssen, um klar Position zu beziehen, denn: „Recht geht vor Macht“.

Ich halte den Text für einen starken Aufruf, der unsere Einigkeit als palästinensische Christinnen und Christen demonstriert und ich rufe die Kirchen vor Ort und international wie auch Zivilgesellschaft und Menschenrechtsorganisationen dringend auf, ihn zu unterstützen, nicht nur als Erklärung sondern als Handlungsstrategie mit dem Ziel, die Besetzung zu beenden und die Menschen in Palästina auf den Weg der Sicherheit, des Wohlstands, der Gerechtigkeit und des dauerhaften Friedens zu bringen.

Die positiven Reaktionen und die klare Position einiger Vertreterinnen und Vertreter aus dem internationalen kirchlichen Raum haben mir persönlich als Mutter von drei Heranwachsenden trotz aller Hoffnungslosigkeit neue Hoffnung geschenkt. Ich brauche Ihre klare Positionierung und klares Handeln, damit ich die Kerze der Hoffnung in Herz und Geist meiner Kinder entzünden und sie ermutigen kann, im Land zu bleiben, sumud (Standhaftigkeit) zu üben und nie die Hoffnung zu verlieren.

Als Mitglied des Internationalen Vorstands von Pax Christi International möchte ich darauf hinweisen, dass unsere katholische Friedensbewegung die Sorge umtreibt, dass die palästinensische Bevölkerung, nach 50 Jahren Besetzung, den „Moment des Unmöglichen“ erreicht haben könnte. Wir brauchen Chancen zur friedlichen Beilegung des Konflikts. Für das zukünftige ökumenische Handeln ist dieser Brief christlicher Organisationen in Palästina von größter Bedeutung. Dem Aufruf des Vizepräsidenten der NCCOP und des ÖRK-Generalsekretärs bei der Konferenz entsprechend werden wir die Botschaft innerhalb unseres Netzwerks und an die katholischen Kirchenleiter weitergeben.

Mehr zum Thema:

Offener Brief der Nationalen Koalition christlicher Organisationen in Palästina an den Ökumenischen Rat der Kirchen und die ökumenische Bewegung

„Eine Wolke von Zeuginnen und Zeugen der Hoffnung“, Einführung zur Tagung „50 Jahre Besetzung“ in Bethlehem, Pastor Dr. Olav Fykse Tveit (in englischer Sprache)

Begrüßung durch den em. Patriarchen Michel Sabbah, 20. Juni 2017 (in englischer Sprache)

Botschaft von Pastor Dr. Olav Fykse Tveit an die internationale Friedenstagung in Bethlehem (in englischer Sprache)

Kampagne „Seek #JusticeAndPeace in the Holy Land“ (in englischer Sprache)

Kirchen und Naher Osten: Solidarität und Zeugnis für den Frieden