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Azza Karam, leitende Beraterin für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung beim Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen. Foto: Peter Kenny/ÖRK

Azza Karam, leitende Beraterin für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung beim Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen. Foto: Peter Kenny/ÖRK

Azza Karam kennt sich aus mit den Schnittstellen zwischen Organisationen, die aus dem Glauben heraus handeln, und UN-Organisationen, dem Sektor der Nichtregierungsorganisationen und Regierungen und sagt, das Verhältnis habe sich in den letzten 10 Jahren merklich verändert, es gebe heute deutlich mehr Austausch und Interaktion.

Hauptberuflich ist Karam leitende Beraterin für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung beim Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen in New York, gleichzeitig aber ist sie auch Professorin an der Vrije Universiteit in Amsterdam.

Am 11. Juni antwortete Karam auf zwei Vorlesungen, die den Beginn eines fünftägigen Seminars mit dem Titel „Building Bridges“ (Brücken bauen) markierten, das derzeit beim Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf stattfindet. Karam stellte dabei einige der Ansätze von zwischenstaatlichen und Nichtregierungsorganisationen im Umgang mit Organisationen, die aus dem Glauben heraus handeln, in Frage.

In einem Interview, das sie dem ÖRK gab, erklärte sie, dass sie gläubige Muslimin sei und dass sie keinesfalls Kritik üben wolle an interreligiöser Begegnung, sondern vielmehr an der „Arbeit zum Engagement von Akteuren, die aus dem Glauben heraus handeln, das in erster Linien auf Regierungs- und zwischenstaatlicher Ebene stattfindet“.

„Ich kritisiere einen Teil der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen, die aus dem Glauben heraus handeln, zum Engagement von Religionen, aber nicht interreligiöse Begegnung an sich, denn solch eine Begegnung kann so viele verschiedene Formen annehmen, und das ist nicht der Bereich, über den ich mir besonders Sorgen mache.“

„Sorge darum, wie Religion ‚gemacht‘ wird“

„Es bereitet mir Sorgen, wie Religion ‚gemacht‘ wird, denn sie wird zu einem wettbewerbsorientierten Geschäft“, sagte sie.

Vor fast 20 Jahren, als die UN-Organisationen noch zu versuchen schienen, möglichst wenig mit Organisationen zu tun zu haben, die aus dem Glauben heraus handeln, hat Karam die Zusammenarbeit der Vereinten Nationen mit diesen Organisationen angeschoben.

„Eigentlich haben wir damit schon im Jahr 2000 begonnen, aber so richtig in Schwung gekommen ist es erst 2007. Mein Blick ist also der Blick von jemandem, der die Trendwende selbst miterlebt hat.“

„Und heute erleben wir das andere Extrem... Wir sind auf einem wettbewerbsorientierten Marktplatz angekommen.“

Karams Rede war eine Reaktion auf die Vorlesungen von Professorin Rosalee Velloso Ewell vom Redcliffe College im Vereinigten Königreich und Dr. Tuba Işik von der Universität Paderborn in Deutschland, die im Rahmen des „Building Bridges“-Seminars beim ÖRK gehalten wurden. Işik konnte leider nicht persönlich teilnehmen, ihre Vorlesung wurde von Dr. Muna Tatari von der gleichen Universität vorgetragen.

Das Seminar, das unter dem Motto „Freedom: Muslim and Christian Perspectives“ (Freiheit – Muslimische und christliche Perspektiven) steht, wird von der Georgetown University, der ältesten römisch-katholischen und jesuitischen Universität in den USA, veranstaltet und organisiert.

Karam ist bereits seit einigen Jahren „Teil der ‚Building Bridges‘-Reise – denn genau das ist es: eine Reise. Es ist keine einzelne Veranstaltung, sondern ein Prozess.“

„Stützt sich auf die heiligen Schriften“

„Es ist ein Prozess, in dem es sehr stark ums Lernen geht. ‚Building Bridges‘ bietet einen Raum für alle Suchenden. Suchende nenne ich sie – Menschen, die versuchen, in allem, was sie tun, Gott zu sehen. Ich mag diesen Prozess sehr, denn er stützt sich auf die heiligen Schriften.“

„Es werden immer Texte aus den heiligen Schriften von Muslimen und Christen ausgewählt und dann setzen wir uns zusammen an einen Tisch und studieren diese gemeinsame“, erklärt Karam.

Trotz ihrer Kritik an der Zusammenarbeit mit Organisationen, die aus dem Glauben heraus handeln, ist Karam überzeugt, dass interreligiöse Begegnung „ganz besonders wertgeschätzt und gepflegt werden muss, nicht nur, weil es dabei um Religion geht, sondern weil sie Teil des zivilgesellschaftlichen Engagements ist“.

„Und zivilgesellschaftliches Engagement ist wichtig, denn genau dort beginnt die zentrale und eigentliche Rechenschaftspflicht der Regierungen. Rechenschaft gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern. Es ist wichtig sicherzustellen, dass es einen Raum gibt, aus dem heraus die Zivilgesellschaft Einfluss nehmen kann“, und in diesem Raum sollten auch Organisationen vertreten sein, die aus dem Glauben heraus handeln.

In der Vergangenheit haben Regierungen schwerpunktmäßig mit säkularen, nicht-religiösen Akteuren zusammengearbeitet.

„Wofür wir uns einsetzen und was wir schätzen müssen, ist, Akteure, die aus dem Glauben heraus handeln, als Teil dieses Raumes zu verstehen, und es ist so wichtig, dass wir diesen Raum auch weiter kultivieren und nutzen“, sagte sie. „Wir müssen in diesem zivilgesellschaftlichen Raum präsent sein.“

„Gegenseitige Rechenschaftspflicht“

„Es geht um gegenseitige Rechenschaftspflicht... Religion in eine moralisch höhere Sphäre zu erheben ist keine gute Idee. Es gibt in der Geschichte viele Beispiele, denn das sind alles auch nur Menschen; auch Akteure, die aus dem Glauben heraus handeln, können im Namen Gottes Fehler machen.“

„Ich möchte nicht erleben, dass sich das wiederholt,... dass wir unantastbar sind und über jeden Vorwurf erhaben. Aber ich möchte gerne, dass religiöse Akteure genauso zur Rechenschaft gezogen werden wie andere zivilgesellschaftliche Organisationen und Instanzen, nicht dass sie moralische Richterinnen und Richter sind.“

Die aktuelle „Building Bridges“-Tagung habe sich mit dem Thema Freiheit beschäftigt – Freiheit für wen und der Frage, wer diese Freiheit schenkt; und damit sei es „letztendlich um Rechenschaftspflicht“ gegangen.

Die Akteure hätten über ihre Beziehung zu Gott als eine Möglichkeit gesprochen, die Freiheit zu finden und zu erlangen.

„Wir haben gehört, dass Freiheit einen Beziehungsaspekt umfasst“, verbunden mit der Frage, ob die Freiheit von muslimischen und christlichen Gläubigen einen Aspekt der Beziehung mit Gott umfasst und um was es in diesen Beziehungen zu Gott geht“, erklärte Karam.

„Wenn das der Kernpunkt ist, stellt das unsere Beziehungen als Menschen untereinander in Frage, unabhängig davon, ob wir unterschiedlichen Glaubenstraditionen angehören oder überhaupt keiner der monotheistischen Glaubenstraditionen angehören.“

„Es stellt unsere Beziehungen untereinander, unsere Beziehungen als Männer und Frauen in Frage und damit kommen wir an den Punkt, wo es dann auch um Feminismus und die Gleichberechtigung der Geschlechter geht. Wenn wir glauben, dass es bei Freiheit um Beziehungen geht, dann sind alle Beziehungen wichtig, auch die Beziehungen zwischen verschiedenen Religionen.“

‘Building Bridges’ for Muslim and Christian scholars is a process (ÖRK-Pressemitteilung vom 12. Juni 2019, in englischer Sprache)

Engagement des ÖRK zur Stärkung von Vertrauen und Respekt zwischen den Religionen