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WCC general secretary Jerry Pillay being interviewed by WCC director of communication Marianne Ejdersten

Der Generalsekretär des ÖRK Pastor Prof. Dr. Jerry Pillay bei seinem Interview in der ÖRK-Zentrale in Genf, Schweiz.

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Sie kehren gerade von einem Besuch bei Patriarch Kyrill in Moskau zurück. Können Sie uns den Anlass für diesen Besuch schildern?

Dr. Pillay: Der Ökumenische Rat der Kirchen hat im Rahmen des Zentralausschusses sowie während der letzten Versammlung klar die Position bezogen, dass wir uns als ÖRK nach besten Kräften mit dem Krieg in der Ukraine auseinandersetzen sollen. Der Hauptgrund für das Treffen mit Patriarch Kyrill war, den Krieg und die Position der Russischen Orthodoxen Kirche in dieser Hinsicht zu besprechen. Ein weiteres Ziel war, den Zusammenhalt der orthodoxen Kirchenfamilie zu besprechen, denn wir können innerhalb des ÖRK deutlich sehen, wie der Krieg und die unterschiedlichen Perspektiven tatsächlich begonnen haben, sich auf den Zusammenhalt der orthodoxen Kirchen auszuwirken und die globale ökumenische Bewegung vor Herausforderungen zu stellen. Unsere Aufgabe ist es, genau diese Themen anzusprechen, um zu sehen, wie wir weitermachen können.

Manche Leute könnten den ÖRK für das Treffen mit dem Patriarchen angesichts der aktuellen Lage und seiner Haltung zum Krieg kritisieren. Was würden Sie ihnen antworten?

Dr. Pillay: Ja, ich bin mir dessen bewusst. Mir ist bewusst, dass manche Leute in sozialen Medien ihre Kritik äußerten und über unsere Fotos mit Patriarch Kyrill und über seine Haltung zum Krieg sprachen. Das mag berechtigt sein und wir respektieren den Blickwinkel anderer Leute in dieser Hinsicht. Ich möchte nur ganz klar und deutlich sagen, dass der ÖRK es sich nicht leisten kann, sich zurückzulehnen und nichts zu tun. Es ist ein Krieg im Gange und wir müssen uns dieser Tatsache stellen und uns ohne Unterlass für den Frieden einsetzen. Da die Russische Orthodoxe Kirche ein Mitglied des ÖRK ist, haben wir das Recht und die Pflicht, sie zu besuchen, ihnen zuzuhören und natürlich auch ihre Position hinsichtlich des Krieges zu hinterfragen. Wir haben nicht die Muße, uns zurückzulehnen und aus der Ferne zu kritisieren. Wir müssen uns einbringen.

Was haben Sie mit Patriarch Kyrill besprochen?

Dr. Pillay: Ich habe in unserem Gespräch vier wichtige Punkte zur Sprache gebracht. Erstens den Krieg in der Ukraine: Wir haben deutlich gesagt, dass der Krieg ein Ende nehmen muss. Wir sind in die Ukraine gereist. Wir haben gesehen, welche Auswirkungen die aktuellen Ereignisse auf die Leute haben, die Todesopfer und Verlust von Hab und Gut, die Sinnlosigkeit dieses Krieges und der tragische Verlust von Menschenleben – all das ist unannehmbar. Wir haben ihm berichtet, was wir gesehen haben, und wir haben gesagt, dass wir auf ein Ende dieses konkreten Krieges hinarbeiten müssen.

Zweites haben wir unsere Sorge über die orthodoxe Kirchenfamilie und die Meinungsverschiedenheiten angesichts dieser Angelegenheit, wegen der wir uns für den Zusammenhalt der orthodoxen Kirchenfamilie einsetzen müssen, zum Ausdruck gebracht. Man darf nicht in dem Kontext der Ukraine und Russlands nicht außer Acht lassen, wie groß die Gruppe der orthodoxen Christinnen und Christen ist. Sie können eine sehr wichtige Rolle spielen und haben in Hinblick auf diese Situation einen großen Einfluss. Sie können sich gegen den Krieg und für den Frieden aussprechen. Die orthodoxe Kirchenfamilie und ihr Zusammenhalt ist dabei unerlässlich. Deswegen haben wir ein großes Augenmerk auf die Tatsache gelegt, dass wir die orthodoxe Kirchenfamilie wieder zu einer Einheit zusammenbringen müssen.

Drittens haben wir besprochen, welche Rolle die Kirchen dabei spielen können, diese Einheit zu gewährleisten, den Krieg anzusprechen und den aktuellen Ereignissen ein Ende zu setzen.

Viertens haben wir über die Möglichkeit gesprochen, einen Runden Tisch zu organisieren, und darüber, wie wir zusammenkommen können, um dieses Gespräch in einen Dialog zu leiten, damit wir als Kirchen, die frei untereinander eine Einheit suchen, tatsächlich auf den Frieden hinsichtlich der Ukraine und Russlands aktuell hinarbeiten können.

Beschreiben Sie doch bitte die Atmosphäre und die Struktur des Dialogs.

Dr. Pillay: Wir wurden vom Patriarchen sehr angenehm empfangen, wofür ich sehr dankbar bin. Er hat das Engagement des ÖRK und dessen friedensliebende Mission begrüßt. Es war ein großartiges Gespräch, was den Informationsgehalt betrifft. Es war natürlich kein einfaches Treffen, da wir es mit schwierigen Situationen und Sichtweisen zu tun haben. Es war also hart und herausfordernd und es erforderte viel Aufmerksamkeit, doch unser Umgang als Christen, die versuchen, sich gegenseitig zu verstehen und einen Weg in die Zukunft zu finden, war sehr freundlich. Diese Themen sind sehr komplex und daher ist es unvermeidlich, dass die Gespräche nicht einfach sind.

Das Treffen begann mit einer Präsentation des Patriarchen, in der er seine Perspektive darstellte. Er sprach als Erstes über die Angriffe auf Christinnen und Christen in der ganzen Welt. Zweitens sprach er über die Schwierigkeiten beim Zusammenhalt der orthodoxen Kirchenfamilie und seine Sorge über die wachsenden Spannungen. Was die Situation in der Ukraine betrifft, so hat er die Schuld gewissen Sektoren zugewiesen, was natürlich ein strittiges Thema ist. Dann hat er den Runden Tisch angesprochen und seine Gedanken dazu geäußert. Danach haben wir über die weiteren Schritte gesprochen.

Haben Sie die Rolle und die Verantwortung der Russischen Orthodoxen Kirche für den Krieg besprochen?

Dr. Pillay: Meine Antwort auf seine Präsentation umfasste diese vier Punkte, die ich erwähnt habe: den Krieg, den Zusammenhalt der orthodoxen Kirchenfamilie, die Rolle der Christen und der Kirchen besonders im Kontext der Situation in der Ukraine und schlussendlich weitere Gespräche am Runden Tisch. Ich habe betont, dass der ÖRK die illegale und nicht zu rechtfertigende Invasion der Ukraine wiederholt verurteilt und missbilligt hat. Ich möchte auch erwähnen, dass dieses Gespräch mehr als zweieinhalb Stunden andauerte. Es war kein kurzes Gespräch. Wir verbrachten eineinhalb Stunden im Sitzungszimmer und eine weitere Stunde im Eβsaal, wo wir engagiert das herausfordernde Gespräch weitergeführt haben. Mir ist bekannt, dass ein Video im Umlauf ist, auf dem man sieht, wie der Patriarch eine Präsentation hält – und das stimmt, er hielt eine Präsentation. Doch es umfasst nicht, wie wir als ÖRK auf die Punkte vom Patriarchen Kyrill reagieren. Leider ist die Wahrnehmung dadurch sehr begrenzt. Deswegen möchte ich betonen, dass der ÖRK in seiner Antwort ins Detail gegangen ist und dass wir in der Zeit, die wir miteinander sprachen, unseren Standpunkt zur Kriegssituation und zur Einheit der orthodoxen Kirchenfamilie klar geäußert haben.

Welche Gesprächspunkte bezogen sich auf die Reihe an Runden Tischen, die der ÖRK organisiert? Wie hat der Patriarch auf den Vorschlag eines Runden Tisches reagiert?

Dr. Pillay: Die Delegation des ÖRK hat sich bereits mit den Kirchen in der Ukraine getroffen. Wir haben uns mit der Ukrainischen Orthodoxen Kirche und der Orthodoxen Kirche der Ukraine getroffen. Wir haben einen Runden Tisch vorgeschlagen und sie hatten großes Interesse, daran teilzunehmen. Die Idee ist, am ersten Tag eine Diskussionsrunde mit den ukrainischen Kirchen zu organisieren, am zweiten Tag eine Diskussionsrunde mit der Russischen Orthodoxen Kirche und am dritten Tag alle gemeinsam zusammenzubringen und über den Krieg zu sprechen und darüber, wie man die Einheit der orthodoxen Kirchenfamilie wiederherstellen kann. Wie ich bereits sagte, wurde dies von den ukrainischen Kirchen begrüßt, also haben wir auch der Russischen Orthodoxen Kirche diesen Vorschlag unterbreitet. Der Patriarch erkannte das Potenzial des ÖRK und seiner Rolle als Brücke zwar an, doch er äußerte seine Bedenken zum Runden Tisch, besonders zur Möglichkeit externer Einflussnahme – und er erwähnte explizit die USA. Er meinte, die Teilnahme an einem Runden Tisch wäre schwierig, außer wir würden diese Einflussnahmen beheben. Doch wie ich dem Patriarchen vermittelte, ist es nicht die Aufgabe des ÖRK, sich in Politik einzumischen, auch wenn das für friedliche Lösungen bei echten Problemen notwendig ist. Wir haben kein politisches Agenda und wir sind der Überzeugung, dass die Bibel uns zum Frieden aufruft. Unser Mandat ist es, den Willen des dreieinigen Gottes zu erfüllen und Frieden auf Erden zu bringen. Jesus Christus ist der Friedensfürst und er ruft uns dazu auf, uns für den Frieden einzusetzen und miteinander in Frieden zu leben. Wir müssen uns auf die Bibel konzentrieren, um Politik und Nationalismus beiseitelegen zu können. So wichtig sie auch sein mögen, das sind es nicht unsere Beweggründe. Wie können wir verstehen, wozu uns die Bibel auffordert? Lasst uns beginnen, spirituell zu denken. Lasst uns beginnen, religiös zu denken.  Lasst uns die Bibel aufschlagen und fragen, wozu Gott uns aufruft, bevor wir durch andere Mächte beeinflusst werden. Wir dienen einem gerechten Gott, der uns Gläubige dazu aufruft, uns für einen gerechten Frieden einzusetzen. Der ÖRK wünscht sich und fordert einen gerechten Frieden! Schlussendlich erreichten wir im Gespräch den Punkt, an dem der Patriarch sagen konnte, dass die Russische Orthodoxe Kirche einen internen Dialog führen würde, während wir als ÖRK weiterhin am Entwurf eines Runden Tisches arbeiten würden. Das ist ein positiver Ausblick. Ich hoffe und erwarte, dass sich alles schlussendlich so ergibt, dass wir unser Ziele erreichen können.

Sie haben innerhalb einer Woche sowohl die Ukraine als auch Russland besucht. Was haben Sie als Generalsekretär des ÖRK mitgenommen? 

Dr. Pillay: Ich denke, wir haben unter anderem erkennen müssen, dass es keine schnellen Lösungen gibt. Die Lage ist komplex. Sie wird sich nicht über Nacht verändern; der Krieg tobt nun schon über einem Jahr. Meine Hauptsorge ist die wachsende Kluft zwischen den orthodoxen Kirchen – und die müssen wir angehen. Wenn wir uns dazu äuβern und wenn wir als Kirchen mit einer gemeinsamen Stimme sprechen, dann können wir auch im Kontext des Krieges und gegenüber allen Mächten, die diesen unnötigen Krieg weiterführen, als Einheit auftreten. Davon bin ich überzeugt. Als Generalsekretär des ÖRK ist es mir bewusst, dass es dafür Zeit, Geduld und den Willen benötigt, sich zusammen mit den betroffenen Menschen damit auseinanderzusetzen. Es ist aus verschiedenen Gründen ein weitläufiges und kompliziertes Thema. Es geht nicht nur um spirituelle und religiöse Interpretationen. Es gibt auch eine große politische Einflussnahme und Einmischungen. Was mich am traurigsten stimmt, ist, dass die Kirchen sich leider viel mehr von Nationalismus leiten lassen als vom Evangelium.

Ich bete dafür, dass der Tag kommt, an dem wir zum ersten Mal erkennen, was Gott uns aufträgt, und dass wir im Kontext, in dem wir leben –sei es nun im Kontext der Ukraine und Russlands oder anderswo auf der Welt –, dem Ruf Gottes weiterhin treu bleiben.

Darf ich noch einen weiteren Punkt hinzufügen, den ich als Generalsekretär mitnehme, und zwar wie wichtig es ist, dass auch Frauen an solchen Delegationen und Prozessen teilnehmen. Dem ÖRK ist es sehr wichtig, dass Frauen, junge Menschen und Menschen mit Behinderung in der Organisation mitmachen, und zurecht! Diesmal waren wir ziemlich in Eile, als wir die Delegation aufstellten; wir wählten die Teilnehmer nach ihrer Rolle und Funktion aus und leider waren alle Männer. Wir werden in Zukunft sicherstellen, dass das nicht erneut geschieht.

Was sind nach diesem Besuch die weiteren Schritte?

Dr. Pillay: Ich bin mir bewusst, dass viele Kirchen ihre Arbeit in der Ukraine leisten. Ich wünschte mir, wir könnten unsere Kräfte vereinen, damit wir in unseren Äußerungen einheitlich auftreten und im Rahmen unseres Zeugnisses in diesem Kontext die Kraft finden. Ich weiß, dass die römisch-katholische Kirche ebenfalls bestimmte Friedensmissionen unternimmt und das ist auch nötig und allgemein anerkannt, und ich weiß auch, dass es andere Kirchen mit ähnlichen Initiativen gibt. Doch ich hoffe, dass der ÖRK die Plattform sein kann, über die wir alle gemeinsam diese Dinge angehen – ausgehend von unseren jeweiligen kirchlichen Traditionen, doch im Bewusstsein der Gemeinsamkeiten bei allem, dem wir gegenüberstehen. Was die nächsten Schritte betrifft, nun haben wir uns mit den Kirchen in der Ukraine und mit der Russischen Orthodoxen Kirche getroffen. Wir haben mit ihnen darüber gesprochen, in einen Dialog zu treten, und ich werde nun als Generalsekretär mit den jeweiligen Kirchen in Kontakt bleiben, um eine endgültige Zusage für diesen Dialogprozess zu erreichen. Sobald wir diese haben, werden wir den Dialog in die Wege leiten – als Runden Tisch. Wir arbeiten an einem Entwurf, der die verschiedenen Sichtweisen, die uns auf diesen Besuchen begegnet sind, integrieren soll. Wir werden all dies vorbereiten und sehen, ob ein Austragungsort, die verschiedenen Teilnehmenden und eine tatsächliche Agenda vereinbart werden kann. Das werden wir übernehmen. Wir hoffen, dass der Runde Tisch möglicherweise in diesem Oktober zustande kommt – in jedem Fall soll er so bald wie möglich stattfinden. Das sind die Maßnahmen, die wir ergriffen haben. Wir hoffen, dass wir unter uns in dieser kurzen Zeit einen Konsens zum Runden Tisch bilden können und dass wir dann den Dialog in die Wege leiten können. Wir wissen, dass es nicht nur ein einziger Event sein wird. Es wird ein fortlaufendes Gespräch sein.

Haben Sie noch irgendwelche Schlussbemerkungen?

Dr. Pillay: Die Gemeinschaft hat uns im Rahmen der Versammlung ziemlich deutlich gesagt, dass wir nicht still und untätig bleiben dürfen. Wir müssen uns in der Ukraine-Frage einbringen, genauso wie in anderen Kriegen, Konflikten und Situationen in anderen Regionen der Welt. Da wir konkret über die Ukraine sprechen – unser Mandat ist, uns weiterhin damit zu befassen. Ich möchte unseren Mitgliedskirchen und all unseren Partnern beim Ökumenischen Rat der Kirchen sagen: betet weiter für die Menschen in der Ukraine und in Russland. Betet dafür, dass dieser Krieg endet. Betet dafür, dass die Maßnahmen, die wir für die Einheit der orthodoxen Kirchenfamilie und der Kirchen untereinander ergriffen haben, Früchte tragen. Betet dafür, dass wir dem Evangelium in all diesen Handlungen treu bleiben, damit wir wahrhaftig eine Welt erhoffen können, die von Gottes Gerechtigkeit und von Frieden spricht und in der wir leben. Mein Schlusswort ist dieses: Lasst uns weitermachen. Lasst uns niemals aufgeben. Es wird immer kritische Stimmen geben und das akzeptieren wir, doch lasst uns nicht auf Basis der Emotionalität reagieren und aus der Ferne kritisieren. Wir Menschen auf Erden haben es alle schwer. Wir arbeiten zusammen, um Lösungen für diese schwierigen, komplexen Probleme zu finden, doch besonders wenn wir einen Krieg erleben, ist es unser Recht und unsere Pflicht als Christen und als Menschen zu sagen: „Es reicht!“ Lasst uns dem ein Ende setzen und den Frieden erreichen!

Interview durch Marianne Ejdersten, Susan Kim

Zum Video des Interviews (in englischer Sprache)

ÖRK-Generalsekretär kündigt nach Besuch in Moskau an, dass der „ÖRK ein Instrument des Dialogs sein wird.“ (ÖRK-Pressemitteilung vom 18. Mai 2023)

ÖRK-Generalsekretär in Moskau und bei Patriarch Kyrill (ÖRK-Pressemitteilung vom 17. Mai 2023)

Bildergalerie des Besuchs nach Russland

ÖRK-Führungsdelegation trifft Kirchen in der Ukraine (ÖRK-Pressemitteilung vom 12. Mai 2023)

ÖRK-Delegation besucht die Ukraine (ÖRK-Pressemitteilung vom 10. Mai 2023)

Bildergalerie des Besuchs in die Ukraine