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© Sean Hawkey/ÖRK

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Der jüngste und anhaltende Strom von Migranten und Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa stellt nicht nur die physischen Grenzen Europas auf eine Belastungsprobe, sondern auch die gesetzlichen, sicherheitspolitischen und diplomatischen Grenzen des Kontinents.

Die überwältigenden Menschenmassen haben in den Frontstaaten der EU logistische Probleme hervorgerufen, das ohnehin marode, europäische Asylkonstrukt überbelastet, Engpässe verursacht, Auffanglager wie Pilze aus dem Boden schießen lassen und den politischen Willen der Aufnahmeländer überanstrengt, so Experten bei der Konferenz zur Flüchtlingskrise in Europa, die der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) und drei UN-Organisationen kürzlich ausgerichtet haben.

Europas fließende Grenzen

Die Belastung des Systems zur Aufnahme und Ansiedlung von Flüchtlingen wird besonders in zwei Frontstaaten mit Transitcharakter, Griechenland und Italien, deutlich.

Unter den etwa eine Million Menschen, die im Jahr 2015 auf dem See- oder Landweg nach Europa flüchteten waren viele Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, aber auch hunderttausende Migrantinnen und Migranten, die vor dem Chaos in anderen Ländern südlich von Europa geflohen sind.

Griechenland, das schon immer ein Knotenpunkt für Migration gewesen ist, „wird weiterhin sein Bestes tun“, so Griechenlands UN-Botschafter in Genf, Alexandros Alexandris. Allerdings „ist es für Griechenland häufig eine Gratwanderung, der humanitären Priorität, Leben zu retten, treu zu bleiben und gleichzeitig mit zahlreichen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen zu kämpfen.”

Auch Italien spüre die Belastung, so Paulo Naso, der die Studienkommission des Bundes Evangelischer Kirchen in Italien (FCEI) koordiniert. Die ca. 100 000 Personen, die aus dem Meer gerettet werden konnten, seit im Oktober 2013 vor der kleinen Insel Lampedusa 368 Menschen ertranken, stellen die Helfer, die für Verpflegung, Unterkunft, Schutz, Bildung, Überwindung von Sprachbarrieren und Registrierung zuständig sind, vor enorme Herausforderungen.

Allerdings ist die Rettung und Neuansiedlung von Flüchtlingen nicht ein rein italienisches Problem. „Lampedusa ist nicht die Außengrenze Italiens“, sagt Naso und wirbt um mehr Unterstützung. „Es ist die Außengrenze Europas, ein Ort, an dem sich zeigt, ob die gemeinsamen europäischen Werte überlebensfähig sind oder nicht.“

Belastung des Systems

Die Registrierung von Flüchtlingen an sich ist schwierig. Flüchtlinge, die vor Krieg, Verfolgung oder Naturkatastrophen fliehen, haben gemäß internationalem Recht einen Anspruch auf Asyl in der Europäischen Union (EU). Migrantinnen und Migranten, die nicht als echte Flüchtlinge eingestuft werden, können abgewiesen werden.

Obwohl ein internationales Abkommen zwischen den EU-Staaten und einigen anderen europäischen Ländern die Reise- und Durchreisefreiheit in Europa innerhalb des sogenannten Schengen-Raums garantiert, was laut dem griechischen Botschafter „eine der größten Errungenschaften der EU ist“, haben Asylsuchende gemäß der „Dublin-Verordnung“ kein Recht auf freie Durchreise.

Während der Konferenz wurden wiederholt kritische Stimmen zur Dublin-Verordnung der EU laut, da diese vorsieht, dass Asylanträge von dem Land bearbeitet werden, das den Antragsteller aufgenommen hat und dieser in dem entsprechenden Land bleiben muss, bis über seinen Antrag entschieden wurde.

Viele Flüchtlinge wollen sich nicht registrieren lassen und weigern sich, Fingerabdrücke abzugeben, so wie es das System von Dublin vorsieht, da dies ein Hindernis für ihre Weiterreise zu ihrem Wunschziel, häufig nach Deutschland oder Schweden oder einem anderen Land, wo bereits Familienangehörige wohnen, darstellen könnte. Die Bearbeitung von Asylanträgen kann bis zu zwei Jahre dauern.

„Zwei Jahre!” ruft Naso. „Nachdem sie zwei Jahre in Nordafrika verbracht haben, nachdem sie ihr Leben bei der Überquerung des Mittelmeers aufs Spiel gesetzt haben, verlangen Sie von diesen Menschen, dass sie weitere zwei Jahre in Ungewissheit bleiben, ob sie als Flüchtlinge anerkannt werden, ob sie ein dauerhaftes Bleiberecht in Italien bekommen oder in ein anderes Land geschickt werden. Natürlich funktioniert das so nicht!“

Ein spezielles Problem stellt der Fall unbegleiteter Minderjähriger – Kinder – dar, also junger Migrantinnen und Migranten unter 18 Jahren ohne Vormund (10-15 Prozent des Flüchtlingsaufkommens), die keinen Asylantrag stellen, aber auch nicht ausgewiesen werden können. Diese Minderjährigen waren bereits in ihren Herkunftsländern traumatisiert, bewegen sich nun in einer rechtlichen Grauzone und haben einen jahrelangen Aufenthalt in Flüchtlingslagern und Übergangsbehausungen zu erwarten.

Es geschieht auch häufig, dass Familien während eines vorübergehenden Aufenthaltes getrennt werden, oder dass sich die Zusammenführung mit Familienmitgliedern, die bereits in Europa leben, schwierig gestaltet. Frauen und Mädchen benötigen Schutz vor geschlechtsbezogener Gewalt sowie Versorgung in den Bereichen sexuelle und reproduktive Gesundheit.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es für Transitländer in absehbarer Zeit keine Entlastung geben. „Wir werden weiterhin mit massiver Migration zu tun haben“, so Dr. Manuel Carballo vom Internationalen Zentrum für Migration, Gesundheit und Entwicklung. „Es werden nicht nur Flüchtlinge kommen, sondern natürlich auch Menschen, die aufgrund von Armut und chronischen Krankheiten gezwungen sind zu fliehen.”

Zeichen der Hoffnung

Trotz der enormen Herausforderungen brachten die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer wertvolle Ideen zur Verbesserung des Systems oder zur Koordinierung von Aktivitäten ein. Die Gemeinschaft St. Egidio zum Beispiel, vertreten durch Msgr. Marco Gnavi, stellte eine neues Joint Venture von katholischen und protestantischen Kirchen mit der italienischen Regierung vor, das die Einrichtung kleiner Zentren vorsieht, in denen 7 000 ausgebildete „Vermittlerinnen und Vermittler“ direkt mit besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen arbeiten können, um diese mit der italienischen Kultur vertraut zu machen und in die Gesellschaft zu integrieren.

„Wir brauchen frische Kräfte“, sagte Gnavi mit Blick auf die alternde Gesellschaft in Italien, „damit wir den Staffelstab unseres Erbes an diese neuen Italienerinnen und Italiener übergeben können.“

Ein direktes Engagement von Kirchengemeinden und Organisationen sei auf ganz unterschiedlichen Ebenen sinnvoll, so Botschafter Alexandris. „In schwierigen Zeiten wie diesen spielen religiöse und kulturelle Leitungspersönlichkeiten eine wichtige und verantwortungsvolle Rolle, um moralische Standards zu setzen sowie zu Einheit, Toleranz und Solidarität innerhalb der Gesellschaft aufzurufen.”

Entscheidend sei jedoch die geistliche Grenze. Migration könne ein Anreiz zur Suche nach der eigenen Identität für Europa sein, sagte er, und vielleicht ein neues Zeitalter einläuten, das von interreligiösem und interkulturellem Pluralismus gekennzeichnet sei.

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