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Der Dialog mit dem Judentum fordert Christen heraus, gründlicher über ihre eigene Identität und ihren eigenen Glauben nachzudenken, waren sich Podiumsteilnehmer und Podiumsteilnehmerinnen einig, während einer Diskussion auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag, einer kirchlichen Versammlung, die in Stuttgart fast 100'000 Menschen vereinte.

Die Diskussionsrunde im Rahmen des Kirchentages fand am 5. Juni unter dem Titel „Wer ist das Volk?“ statt, in Anlehnung an die Tatsache, dass sich sowohl Juden als auch Christen als Gottes Volk betrachten.

In einer Eröffnungsrede forderte der US-amerikanische Judaist Mark Nanos Christen auf, ihre Ansichten über die Rolle Paulus' zu bereinigen, der laut dem Neuen Testament nach einem Erlebnis auf dem Weg nach Damaskus Jesu Botschaft verbreitete.

Vorherrschende Sichtweisen verstehen Paulus „als Jude, der sich einer neuen Religion, dem Christentum, anschloss und dessen berühmtester Missionar wurde“, sagte Nanos, der an der Universität von Kansas lehrt. Doch Nanos glaube, dass Paulus im Judentum verblieb und aus dieser Perspektive schrieb.

„Er stammte nämlich aus einem ethnisch und religiösen jüdischen Hintergrund, und ich glaube auch, dass er das Judentum weiter praktizierte und es außerdem weiterhin förderte“ sagte Nanos, während er seinen Standpunkt anhand von Beispielen aus den Paulus-Briefen im Neuen Testament darlegte.

Gewisse Leute mögen eine solche Behauptung undenkbar finden, räumte Nanos ein. Doch fügte er hinzu, dass viele Neutestamentler heute akzeptierten, dass die Bezeichnungen „Christ“ und „Christentum“ zur Zeit von Paulus noch nicht existierten, sondern erst später entstanden.

Im Laufe der Zeit zeigten sich Unterschiede, die dazu führten, dass sich das Judentum und das Christentum als unterschiedliche Religionen definierten. Oft wurden diese Definitionen in „Rechtfertigungen zur Diskriminierung“ verwandelt, sagte Nanos.

Vor diesem Hintergrund wurden nun zentrale Werte, die Paulus in seinen Briefen verbreitete, als christlich und als gegensätzlich zu jüdischem Gedankengut und Brauch angesehen.

Doch sagte Nanos: „Das Ideal, sich in seinem Leben gegenüber denjenigen, die anders sind als wir, gnädig und einladend zu zeigen, und für sie statt gegen sie zu leben, sind zentrale Grundsätze des Judentums. Wenn wir nun Paulus aus jüdischer Sicht lesen, sind dies dann nicht richtungsweisende Grundsätze, von denen wir alle lernen können und die wir uns zu eigen machen sollten?“

Eine weitere Podiumsteilnehmerin, Claudia Janssen, Neutestamentlerin an der Universität Marburg, wies auf das Risiko hin, dass die Menschen jüdischen Glaubens ausgeschlossen werden, wenn sich Christen als „Volk Gottes“ bezeichneten.

Clare Amos, Programmleiterin für interreligiösen Dialog des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), beschrieb die christlich-jüdische Beziehung als „eine Art Prisma“, das Christen Perspektiven bieten kann für reichhaltigere interreligiöse Begegnungen.

Sie bezog sich auf die kürzliche Studie des ÖRK „Wer sagen wir, dass wir sind - Christliche Identität in einer mulitireligiösen Welt“, die untersucht, wie der Dialog mit Menschen anderen Glaubens den eigenen Glauben und die eigene Identität von Christen herausfordern, verändern oder vertiefen kann.

Die Studie betone, dass „es der Dialog und die gegenseitige Fragestellung mit Menschen anderen Glaubensrichtungen, wie dem Judentum, sind, die dazu führen, dass wir uns selber besser verstehen“, sagte Amos.

Weiter beschreibt die Studie die Beziehung mit dem jüdischen Volk als „eine ganz besondere und spezifische Dimension christlichen interreligiösen Engagements“.

Das Überdenken und das neue Selbstverständnis des Christentums in seinen Beziehungen mit dem Judentum, insbesondere seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, könnte Perspektiven eröffnen dafür, wie Christen ihre eigene Identität im Bezug zu anderen Glaubensrichtungen sehen, legt die Studie dar.

Yohanna Katanacho, Dekan des Bethlehem Bible College, sagte, dass er als Palästinenser mit einem Zweite-Klasse-Status die Frage aus einer anderen Perspektive angehe, als die anderen Podiumsteilnehmenden.

„Das Judentum ist eine Glaubensgemeinschaft mit vielen Facetten“, sagte er. „Ich bin traurig, dass viele jüdische Israeli palästinensische Christen diskriminieren“.

Katanacho sagte, Nanos wende sich an Christen, damit diese ihre Beziehung zu Juden erneuerten und verbesserten, doch frage er sich, ob „diese neue Interpretation von Paulus Palästinensern und israelischen Juden tatsächlich helfen kann, sich einem Frieden für mich als Palästinenser anzunähern“.