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Jorge González Nuñez
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Das folgende Interview ist Teil einer Reihe von Texten zum Thema digitale Gerechtigkeit. Die Texte werden in den Tagen vor dem internationalen Symposium zu Kommunikation für soziale Gerechtigkeit im digitalen Zeitalter veröffentlicht, das vom 13.bis 15. September stattfindet. Es wird darin generationenübergreifend – und ehrlich – versucht, zu skizzieren, wie wir in der digitalen Welt leben, ob die Kirchen uns dabei helfen und wie wir zusammenarbeiten können, um eine klare Definition für digitale Gerechtigkeit zu finden und diese umzusetzen.  

Was bedeutet digitale Gerechtigkeit für Sie (unter Berücksichtigung Ihres persönlichen Lebenskontextes)?

Nuñez:
Für mich persönlich geht es bei digitaler Gerechtigkeit in erster Linie um eine freie Zugänglichkeit; Menschen sollten Zugang zu Technologien haben, ihre Daten sollten geschützt sein und nicht manipuliert werden, ihnen dürfen keine falschen Informationen gegeben werden und die digitalen Medien dürfen sich unsere Informationen nicht einfach aneignen. 

 

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der digitalen Welt und der Kirche?

Nuñez:
Aus meiner kubanischen Lebensrealität heraus betrachtet kann ich sagen, dass das Verhältnis zwischen der digitalen Welt und der Kirche infolge der COVID-19-Pandemie sehr viel enger geworden ist. Nie zuvor haben Kirchen und Organisationen, die aus dem Glauben heraus handeln, die zur Verfügung stehenden Technologien in dem Maße genutzt wie heute. Es waren die digitalen sozialen Netzwerke, über die wir einander in den Tagen der Isolation beigestanden haben, über Plattformen wie Telegram, WhatsApp und Facebook haben wir Schulungen und Workshops, Bibelarbeiten, Gebetskreise, Meetings für die Arbeit und vieles anderes veranstaltet. Ich bin überzeugt, dass die Kirche auch in Zukunft und auch wenn die Pandemie einmal vorbei ist, bei der Entwicklung ihrer Tätigkeiten von der digitalen Welt profitieren wird. 

 

Wie können die Menschenrechte in der digitalen Welt geschützt werden?

Nuñez:
Ich denke, der digitale Raum ist heute mehr denn je ein stark umkämpfter Raum. Die Interessen von großen Konzernen, Medien mit hegemonialen Ambitionen und großen Kommunikationsimperien stehen über den Interessen der Mehrheit. Wir sprechen hier über eine kleine Gruppe von Menschen mit sehr viel Geld, die alles ihnen Mögliche tun, um den Rest der Menschen zu kontrollieren und ihren Reichtum weiter zu vergrößern. In diesem Wettstreit um Macht leiden unsere Rechte als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Diese Menschen nutzen alle unsere Informationen und Daten (einschließlich der von Regierungen) für kommerzielle und politische Zwecke und sogar um Krieg zu führen. Wir müssen von unseren Regierungen und internationalen Organisationen Rechtsvorschriften und Regeln einfordern, die uns als Nutzerinnen und Nutzer von digitalen Technologien und Computertechnologien wirklich schützen.   

 

Wie kann Ihrer Meinung nach das richtige Verhältnis geschaffen werden zwischen Freiheit und Kontrolle in der digitalen Welt? 

Nuñez:
Die Kontrolle sollte von den Menschen ausgehen, von den Nutzerinnen und Nutzern der digitalen Medien, und nicht so herum sein, wie es heute ist, dass nämlich die digitalen Medien die Nutzerinnen und Nutzer kontrollieren. Es ist wichtig, dass wir genau formulieren, was wir mit „Freiheit“ und „Kontrolle“ meinen, denn diese Begriffe werden ebenfalls aus den Machtzentren heraus und von den Kommunikationsmedien manipuliert. In Kuba sprechen wir von einem „Krieg der Medien“, wenn wir über die unablässigen Attacken der US-Regierung auf unsere Insel sprechen. Die digitalen Medien werden hier im Namen von „Freiheit“ und „Demokratie“ benutzt, um zu zensieren und Falschinformationen zu verbreiten. Wir stehen ganzen Fabriken für Fake News und Heerscharen von Trollen gegenüber, denen hochentwickelte Labortechnologien zur Verfügung stehen. Wir leben im digitalen Raum also unter ständiger Belagerung. Die US-Regierung verbietet zum Beispiel den Zugriff auf Websiten von Universitäten in den Vereinigen Staaten von Kuba aus, verbietet den Zugriff auf Websiten für den Wissensaustausch unter Fachleuten auf allen Gebieten, einschließlich einiger sehr wichtiger Bereiche wie Gesundheit und Bildung. Und auch auf Plattformen wie Zoom, die in der Pandemie so verbreitet genutzt wurden, können wir nicht frei zugreifen. All diese Verbote und noch viele weitere werden aus politischen Gründen aufrechterhalten. 

 

Ist der digitale Raum ein öffentlicher Raum?

Nuñez:
Ich würde sagen, der digitale Raum ist ein privatisierter Raum, der uns als öffentlich verkauft wird. Aber wenn wir eine Internetseite, ein soziales Netzwerk wie Facebook aufrufen und die Betreibenden Eigentümer all der Informationen und Daten werden, die ich dort poste, und sie diese für kommerzielle, politische, kulturelle Zwecke usw. nutzen, können wir nicht davon sprechen, dass wir einen öffentlichen Raum betreten; es ist vielmehr ein Raum, den große Konzerne und Regierungen privatisiert haben. Der digitale Raum als Ganzer ist ein Raum, den große Konzerne privatisiert haben, denen wir jeden Tag all die Informationen und Daten geben, die sie brauchen, um weiterhin Kontrolle über uns auszuüben.  

 

Welche psychologischen Auswirkungen hat die digitale Welt Ihrer Ansicht nach auf die Menschen?

Nuñez:
Ich denke, man kann über positive genau wie über negative Auswirkungen der digitalisierten Welt sprechen. Es gibt eine Sache, die ich positiv bewerten würde, und das ist Kommunikation. Für die Menschen, die die richtigen Geräte haben und die auf die entsprechenden Netzwerke zugreifen können, ist sofortige Kommunikation kein Problem. Textnachrichten, Sprachnachrichten und Videoanrufe gehören schon zum täglichen Leben und in vielen Fällen bereitet dies den Menschen Freude. Probleme entstehen, wenn diese digitalen Räume beginnen, die persönliche Begegnung zwischen Menschen zu ersetzen. Wir können jetzt schon beobachten, dass es vielen Menschen sehr schwerfällt, mit anderen Menschen zu interagieren, wenn kein Gerät oder Bildschirm zwischengeschaltet ist. Selbst in Räumen, die für persönliche Begegnung gedacht sind, sehen wir, dass die Menschen nicht aufhören, über ihre digitalen Geräte zu interagieren.  

 

Wie sieht die Zukunft der Menschen in einer digitalisierten Welt Ihrer Meinung nach aus?

Nuñez:
Ich möchte da optimistisch sein! Ich glaube, wir stehen mit den ganzen Technologien vor großen Herausforderungen, aber es gibt auch große Chancen. Wirklich wichtige Wissenschaftsbereiche können mithilfe von Technologien große Fortschritte erzielen. Kommunikation, Gesundheit, Forschung und Umweltschutz zum Beispiel können zum Nutzen der Menschen mithilfe neuer Technologien große Fortschritte machen. Und wir, die große Mehrheit der Menschen, müssen uns der Herausforderung stellen, Kontrolle über die Medien und digitalen Plattformen zu erlangen, die, wie ich vorhin schon erwähnte, immer noch in der Hand einiger Weniger sind.  



Was kann die Kirche tun, um digitale Gerechtigkeit zu verwirklichen?

Nuñez:
Als Kirchen und Organisationen haben wir die Aufgabe und Pflicht, die Problematiken und Themen im Zusammenhang mit der digitalen Welt in unser Vokabular aufzunehmen; auch in den Predigten am Sonntag müssen wir über Technologie sprechen, wir müssen erklären, was ein Cyberangriff ist, die Menschen aufklären, um Mobbing und Gewalt in den sozialen Netzwerken zu verhindern. Außerdem haben wir die Aufgabe und Pflicht, ältere Menschen besser zu begleiten, die oftmals Unterstützung brauchen, um über diese Geräte zu kommunizieren. All das sind kleine Gesten oder Maßnahmen, die in unseren Glaubensgemeinschaften aber viel bewegen können, und wir müssen auch keine Fachleute für die Technologien sein, um das tun zu können. 

 

Programm und weitere Informationen zum Symposium über „Kommunikation für soziale Gerechtigkeit im digitalen Zeitalter“