Das Europareferat des ÖRK hat im Vorfeld der Vollversammlung 2006 Kirchen- und Länderprofile" für mehrere Länder ausgearbeitet. Bitte berücksichtigen Sie, dass diese Kirchen- und Länderprofile allgemeine Hinweise bieten, nicht jedoch Ausdruck offizieller Positionen des Ökumenischen Rates der Kirchen sind. Der ÖRK bemüht sich, zutreffende Information zur Verfügung zu stellen, übernimmt jedoch keine Verantwortung für fehlerhafte oder überholte Angaben.

Europa spielt eine einzigartige Rolle im Leben des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK): Hier entstand die ökumenische Bewegung und hier befindet sich der Sitz des ÖRK. Außerdem ist es eine sowohl kulturell und politisch als auch kirchlich und religiös außerordentlich vielfältige Region. Mittel- und Osteuropa ist eine Begrifflichkeit wie auch eine geographische Definition, und diese hat ebenso wie andere Definitionen auch eine kulturelle und politische Färbung. Die sich verändernden Grenzen und geopolitischen Konfigurationen dieser Region haben Begriffe wie Mittel-, Ost und letztlich auch Westeuropa unscharf werden lassen. Das vorliegende Porträt geht von einer allgemeinen Definition Mittel- und Osteuropas aus, die alle 27 ehemaligen sozialistischen Staaten umfasst. In fast allen dieser Länder hat der ÖRK Mitgliedskirchen.

Ein außergewöhnliches Jahrzehnt

Die politischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa seit 1989 befreiten Millionen von Menschen von repressiven und häufig gewalttätigen Regimes. Das Erbe des Kommunismus war im Großen und Ganzen verheerend. Neben der im Vergleich zu vorkommunistischen Zeiten ausgeprägten wirtschaftlichen Unterentwicklung stellte sich heraus, dass es massive Menschenrechtsverletzungen, weitreichende Umweltzerstörungen und - wenn auch weniger sichtbar - für viele Menschen eine schwere psychische Desorientierung und sogar Traumatisierung gegeben hatte.

Für viele Kirchen hatten die Ereignisse eine Tragweite, die weit über ihre geschichtliche Bedeutung hinausging. 1991 erklärte die von der katholischen Bischofssynode durchgeführte Sondervollversammlung für Europa: "Im Lichte des Glaubens und geleitet vom Heiligen Geist bemühen wir uns, in der gegenwärtigen Entwicklung wahrhafte Zeichen der Anwesenheit und des Willens Gottes zu erkennen (…) Die Ereignisse zeigen, dass dies ein wahrer kairos der Heilsgeschichte ist, und sie stellen uns vor die ungeheure Herausforderung, Gottes erneuerndes Wirken, von dem das Schicksal der Völker letztlich abhängt, fortzusetzen." 

Die wichtigsten Trends in der Region

Die Ereignisse nach 1989 müssen in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts gab es in Mittel- und Osteuropa mehrmals Revolutionen und Umwälzungen. Die kommunistischen Regimes, die nach dem Zweiten Weltkrieg an die Macht kamen, führten ein repressives System der Kontrolle von Gesellschaft und Wirtschaft ein. Die Revolutionen, die Mittel- und Osteuropa nach 1989 erschütterten, kamen für viele überraschend. Und nur wenige waren auf die Herausforderungen und Veränderungen vorbereitet, die mit der Wende auf die dort lebenden Menschen zukamen. Dieses Jahrzehnt ist für die mittel- und osteuropäischen Gesellschaften - die "andere Hälfte" Europas - zweifellos eine Ära der Freiheit gewesen, aber es war auch eine Ära der Unruhe, der Veränderung und sogar der Desintegration. Die Anzahl der unabhängigen Länder in der Region hat sich seit 1991 verdoppelt, wobei die im Entstehen begriffenen Gebietskörperschaften im Kosovo und im Nordkaukasus noch nicht berücksichtigt sind.

Das Ende des Kalten Krieges und die Osterweiterung der NATO und der Europäischen Union 2004 ziehen weitreichende Veränderungen der politischen und der Sicherheitssysteme des Kontinents nach sich. Die politische Transformation hat in der Regel eine Demokratisierung zur Folge. Mitteleuropa ist politisch und gesellschaftlich im Allgemeinen stabiler als die ehemaligen Sowjetrepubliken. Das Auseinanderfallen der Bundesstaaten (UdSSR, Jugoslawien) und die Renaissance nationaler Identitäten in vielen Teilen Europas erhöht die Gefahr ethnischer Konflikte. Von den zehn bewaffneten Konflikten in Osteuropa und auf dem Balkan seit 1990 verlaufen die meisten entlang einer über Jahrhunderte entstandenen Trennlinie zwischen Christen und Muslimen.

Die Übergangszeit seit 1989 hat erhebliche - und durchaus unterschiedliche - sozioökonomische Auswirkungen auf alle Länder Mittel- und Osteuropas gehabt. Nach Angaben des UN-Entwicklungsprogramms sind in dieser Region im letzten Jahrzehnt die weltweit einschneidendsten Kürzungen der Sozialausgaben vorgenommen worden, und die meisten dieser Länder haben so hohe Armuts- und Sterberaten wie nie zuvor. 40-70 Jahre zentraler Planung und wirtschaftlichen Missmanagements haben dazu geführt, dass die Transformation in den GUS-Ländern am schmerzhaftesten war. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenbruch in Mittel- und Osteuropa und die darauf folgende Aushöhlung der Sozialsysteme führten zum Anstieg der Armut und zu einem erschwerten Zugang zu Bildung, und dies förderte in weiten Teilen der Region zusammen mit den daraus entstehenden sozialen Spannungen und Konflikten die Zwangsmigration und eine Zunahme der Fremdenfeindlichkeit.

Die wichtigsten ökumenischen Themen der Region

Der ÖRK hat in der europäischen Region eine umfangreiche Mitgliedschaft, nämlich 81 Mitgliedskirchen einschlielich der angeschlossenen Mitgliedskirchen (womit die Region an zweiter Stelle hinter Afrika steht), und davon befinden sich 25 in Mittel- und Osteuropa. Gemessen an der Anzahl der Gläubigen lebt mehr als die Hälfte der ÖRK-Mitgliedschaft in Europa, und die Mehrheit von ihnen in Mittel- und Osteuropa. Die größte ÖRK-Mitgliedskirche und zugleich die weltweit größte landesweite Kirche ist die Russische Orthodoxe Kirche. Die weitaus größte Mehrheit von Gläubigen in ÖRK-Mitgliedskirchen der Region stellen die Orthodoxen, die allein in Mittel- und Osteuropa 127 Millionen zählen. Zugleich gibt es in Rumänien, Ungarn, der Slowakei, der Tschechischen Republik und den baltischen Staaten relativ große protestantische Mitgliedskirchen.

Viele Kirchen in Osteuropa haben eine beispiellose religiöse Wiederbelebung durchgemacht: Zu Beginn der 1990er Jahre ließen sich unzählige Menschen taufen, Kirchen wurden wieder aufgebaut und das religiöse Leben konnte sich neu entfalten. Allein in Russland sind in den vergangenen zehn Jahren mehr als 20 000 neue orthodoxe Gemeinden entstanden, und in allen diesen Ländern mit Ausnahme der Tschechischen Republik und der ehemaligen DDR hat die religiöse Praxis zugenommen.

Der abnehmenden Bedeutung der traditionellen Kirchen in Westeuropa und dem gleichzeitigen Anwachsen neuer religiöser Bewegungen steht im Osten Europas seit dem Zusammenbruch des Kommunismus eine spektakuläre Wiederbelebung des religiösen Lebens in den Kirchen gegenüber, wobei es in vielen Ländern zu neuen Spannungen zwischen traditionellen Mehrheitskirchen und neuen oder Minderheitskirchen kommt. Die Ankunft zahlreicher und zumeist neoprotestantischer Missionare hat die zwischenkirchlichen Spannungen in vielen Ländern noch verschärft. In manchen Fällen hat die Verknüpfung von Identität und Glaube dazu geführt, dass Religion als Banner nationaler und ethnischer Identität dient und dass bei Konflikten der Eindruck entsteht, sie seien religiös motiviert.

Ökumenische Beziehungen auf der Ortsebene sowie Kirchenunionen sind vor allem im Norden und Westen Europas nach wie vor stark. Im Osten hingegen haben das Wiederaufleben konfessioneller Identitäten sowie fundamentalistische Tendenzen zur Folge, dass zwischen Mehrheits- und Minderheitskirchen Spannungen entstehen und insbesondere in den orthodoxen Kirchen das institutionelle ökumenische Engagement kritisiert wird. In Mittel- und Osteuropa gibt es nur fünf offizielle nationale Kirchenräte; allerdings haben sich andere Formen zwischenkirchlicher und interreligiöser Gremien entwickelt.

Die Bedeutung der Kirche wächst, sie gewinnt in allen Gesellschaften der Region an Profil und an moralischer Autorität. Mit der Aufhebung der Einschränkungen, denen die Gottesdienstgemeinschaft unterworfen war, haben die Kirchen begonnen, ihre Sozial- und Bildungsarbeit erheblich auszubauen. Außerdem ist - im Allgemeinen auf Gemeindeebene und als Antwort auf unmittelbare Bedürfnisse und Erfordernisse - die Sozialarbeit wieder aufgenommen und erneuert worden. Wie sich die Rolle der Kirchen in der Fürsorge sowie das Verhältnis zu den staatlichen Einrichtungen und den anderen Akteuren auf längere Sicht entwickeln wird, ist derzeit noch offen. Auch das Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist für die Kirchen in Mittel- und Osteuropa nach wie vor ein schwieriges und zeitweise auch strittiges Thema.

Die Programmarbeit des ÖRK in der Region

Der ÖRK und andere internationale ökumenische Organisationen haben sich in verschiedener Weise bemüht, auf die neue Situation einzugehen. Unmittelbar nach der Wende begann der ÖRK, zusammen mit seinen Mitgliedskirchen die sich abzeichnenden Herausforderungen zu analysieren und zu erörtern mit dem Ziel, gemeinsame Vorgehensweisen zu entwickeln.

Es wurden mehrere ökumenische Teambesuche, Gespräche und Tagungen mit den Kirchen der Region organisiert. Bereits 1990 äußerten sich ÖRK-Mitgliedskirchen hoffnungsvoll über die neue Situation, sprachen aber auch über ihre Befürchtungen im Hinblick auf die Erwartungen der Gesellschaft. "Angesichts der dramatischen Veränderungen, die einerseits Angst und Resignation, andererseits aber auch utopische Erwartungen erzeugt haben, stehen die Kirchen für ein biblisches Verständnis der menschlichen Existenz ein und für eine Verkündigung des Evangeliums als einziger wahrer Quelle der Erneuerung im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft."

Im vergangenen Jahrzehnt hat der ÖRK in der Region in Zusammenarbeit mit kirchennahen Einrichtungen mehrere neue Programme eingeleitet. Diese Arbeit wurde vom ÖRK in Genf organisiert, der auch Berater/innen einsetzte und je nach Bedarf Programmbüros einrichtete. Die Hauptarbeit wurde vom Europa-Referat in Genf geleistet; das Osteuropa-Büro konzentrierte sich ab 1994 auf die GUS-Länder und später wurden auch Sonderberater in die Balkanländer entsandt. Für eine bedarfsorientierte Zusammenarbeit mit den Kirchen wurden in vielen Ländern der Region Runde Tische eingerichtet. Außerdem sind mit Hilfe des ÖRK zahlreiche Projekte, Austauschprogramme, Veröffentlichungen und Netzwerke gefördert worden.