Vorbereitungspapier Nr. 1

Dies ist das erste der Vorbereitungspapiere, die in unregelmäßigen Abständen ins Internet gestellt und von denen einige auch gedruckt werden. Das Papier “Mission und Evangelisation in Einheit heute” wurde im Jahr 2000 von der ÖRK-Kommission für Weltmission und Evangelisation als Studiendokument angenommen, das in der Vorbereitungsphase zur nächsten Weltmissionskonferenz Verwendung finden sollte.

EINLEITUNG

1. Die ökumenische Bewegung hat ihre Ursprünge in der missionarischen Bewegung, denn die heutige Suche nach der Einheit der Kirche nahm im Rahmen der Missionstätigkeiten ihren Anfang. Die Missionare zählten zu den ersten, die nach Wegen und Stilen des Zeugnisses in der Einheit suchten und anerkannten, daß der Skandal der christlichen Spaltungen und konfessionellen Rivalitäten die Wirkung ihrer Botschaft erheblich beeinträchtigte.

2. Das Anliegen von Mission und Evangelisation in der Einheit hat stets auf der ökumenischen Tagesordnung gestanden, vor allem seit 1961, als sich der Internationale Missionsrat mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen vereinigte. In diesem Kontext gab die damalige Kommission für Weltmission und Evangelisation 1982 “Mission und Evangelisation: eine ökumenische Er­klärung” heraus. Diese Erklärung fasste auf umfassende Weise etliche der wichtigsten Aspekte der Mission zusammen, darunter verschiedene Verständnisse von Mission und ihrer biblischen und theologischen Grundlage. Sie machte sich die Verständnisse zu Eigen, die bereits bei den Diskussionen des vorherigen Jahrzehnts erzielt worden waren, und erweiterte diese in einer umfassenderen Sichtweise. So konnten ökumenische Aussagen über Mission und Evangelisation im Kontext der Welt Anfang der 1980er Jahre gemacht werden.

3. Die Erklärung von 1982, die vom Zentralausschuss des ÖRK gebilligt wurde, ist von den Kirchen positiv und in weiten Kreisen aufgenommen worden. Sie wurde von Missionsgesell­schaften, theologischen Hochschulen, Ortsgemeinden und einzelnen Christen benutzt. Sie hat in diesen Jahrzehnten neue Auffassungen von Mission und Evangelisation gefördert und das Streben nach einem Zeugnis in der Einheit inspiriert, angeregt und gestärkt. Die Erklärung wurde weit über die Grenzen der Mitgliedskirchen des ÖRK hinaus bekannt.

4. Seit 1982 hat sich vieles auf der Welt verändert, und die Kirchen stehen vor neuen Heraus­forderungen in der Mission. Zwei Weltmissionskonferenzen sind unter der Schirmherrschaft des ÖRK veranstaltet worden, eine in San Antonio, USA (1989), und eine in Salvador, Brasilien (1996). Wichtige Missionsanliegen wurden auch auf der Siebten Vollversammlung des ÖRK in Canberra, Australien (1991), angesprochen. Im Kontext der neuen Weltlage und frischer missiologischer Erkenntnisse und Erfahrungen haben etliche ÖRK-Mitgliedskirchen darum gebeten, daß eine neue Erklärung über Mission und Evangelisation ausgearbeitet wird, um den Kirchen gemeinsam zu einer angemessenen und sinnvollen Missionspraxis zu verhelfen.

5. Als Reaktion auf diese Bitten beschloss der ÖRK die Ausarbeitung einer weiteren Erklärung, um Christen und Kirchen bei ihrer Missions- und Evangelisationsaufgabe in Einheit an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend zu helfen. Der vorliegende Text, der im März 2000 von der ÖRK-Kommission für Weltmission und Evangelisation (CWME) als Studiendokument angenommen wurde, wird in der Hoffnung vorgelegt, dass er die Reflexion über Wesen, Inhalt und Implikationen des Evangeliums Jesu Christi in den verschiedenartigen, gleichzeitig aber auch miteinander verbundenen Kontexten kirchlichen Lebens und treuen Zeugnisses vom Evangelium anregt, damit alle Menschen überall die Gelegenheit haben, das Evangelium zu hören und daran zu glauben.

6. Das vorliegende Dokument ersetzt nicht die Erklärung von 1982, und es fördert eine Missionstheologie auch nicht auf andere Weise, als es in dieser Erklärung ökumenisch vereinbart worden war. Es hat eine eigene Identität und versucht, die Verpflichtung der Kirchen zu Mission und Evangelisa­tion in der Einheit innerhalb des Kontextes der Herausforderungen, vor denen sie heute stehen, neu zu artikulieren.

7. Verwendung der Terminologie. Manche Christen und Kirchen verstehen und benutzen die Begriffe “Mission” und “Evangelisation” unterschiedlich, auch wenn sie miteinander verbunden sind; andere halten sie für praktisch identisch in Bedeutung und Inhalt. In diesem Papier werden die beiden Begriffe nicht gleich benutzt.

a) “Mission” hat eine ganzheitliche Bedeutung: die Verkündigung und das Miteinanderteilen der Frohen Botschaft des Evangeliums durch Wort (kerygma), Tat (diakonia), Gebet und Gottesdienst (leiturgia) und das alltägliche Zeugnis des christlichen Lebens (martyria); Lehre als Aufbau und Stärkung der Menschen in ihrer Beziehung zu Gott und zueinander und Heilung als Ganzheit und Versöhnung zu koinonia — Gemeinschaft mit Gott, Gemein­schaft mit Menschen und Gemeinschaft mit der Schöpfung als Ganzer.

b) “Evangelisation” schließt diese verschiedenen Dimensionen der Mission nicht aus, doch der Schwerpunkt liegt hier auf der ausdrücklichen und absichtsvollen Bezeugung des Evangeli­ums, darunter die Einladung zur persönlichen Umkehr zu einem neuen Leben in Christus und zur Nachfolge.

8. Das Konzept der “Mission in der Einheit” bezieht sich auf die Suche nach Wegen zu einem gemeinsamen Zeugnis in Einheit und Zusammenarbeit — trotz unterschiedlicher Ekklesiologien — im Kontext der brennenden Herausforderungen an die Kirchen in aller Welt heute, “damit die Welt glaube” (Joh 17,21), wobei jegliche Form von konfessioneller Rivalität oder Konkurrenz zu vermeiden ist. Das bedeutet keine unrealistische Superkirchen-Ekklesiologie und leugnet auch nicht die intrinsische Beziehung zwischen Mission und Ekklesiologie.

A. MISSION UND EVANGELISATION IN DER EINHEIT:

EINE VERPFLICHTUNG UND EINE BERUFUNG

9. Mission steht ihm Mittelpunkt des christliche Glaubens und der christlichen Theologie. Sie ist keine Option, sondern ein existentieller Ruf und eine existentielle Berufung. Mission gehört zum eigentlichen Wesen der Kirche und aller Christen und bedingt dieses.

10. Der von der Schrift offenbarte Gott ist nicht statisch, sondern er stellt Beziehungen her und ist missionarisch: ein Gott, der stets als Herr der Geschichte offenbart worden ist, der Gottes Volk zur Fülle des Lebens durch seine Bünde, das Gesetz und die Propheten geführt hat, die Gottes Willen bekundet und die Zeichen der Zeit gedeutet haben; ein Gott, der durch den fleisch­gewordenen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, in die Welt kam, der menschliche Gestalt annahm und unser menschliches Dasein mit uns teilte und einer von uns wurde, am Kreuz starb und von den Toten auferstand; ein Gott, der in der Kraft des Heiligen Geistes die Menschen und die ganze Schöpfung liebt, sich ihrer annimmt und sie erhält und sie zur Heilung und Verwand­lung führt.

11. Die Mission Gottes (missio Dei) kennt keine Grenzen oder Schranken; sie geschieht in der ganzen Menschheit und der ganzen Schöpfung die ganze Geschichte hindurch. Jesu Gleichnisse vom Barmherzigen Samariter und von den Schafen und den Böcken und sein Dialog mit der Frau aus Syrophönizien weisen deutlich in diese Richtung. Die Apologeten der frühen Kirche haben diese Idee im Rahmen des Dialogs mit den Menschen ihrer Zeit weiterentwickelt. Auf der Grundlage von Johannes I. erklärten sie, dass das Logos (Wort), Gottes ko-ewiger und konsub­stantieller Sohn, mit dem Vater und dem Heiligen Geist in allen Handlungen Gottes gegenwärtig war und ist und dass die Welt durch das Wort geschaffen wurde. Gott sprach, und “der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser” (1. Mose 1,2). Im Heiligen Geist, sagten sie, sprach Gott deutlich und ausdrücklich durch das Wort, nicht nur zu den Propheten des Alten Testamentes, sondern auch (wenn auch anders) zu Menschen anderer Völker und Religionen. Als aber die Zeit erfüllt war (Gal 4,4), ward das Wort “Fleisch und wohnte unter uns” (Joh 1,14) und kam “in sein Eigentum” (Joh 1,11).

12. Ein trinitarischer Ansatz zur missio Dei ist deshalb wichtig. Zum einen fördert dies ein inklusiveres Verständnis von Gottes Gegenwart und Wirken in der ganzen Welt und unter allen Menschen, was impliziert, dass Zeichen von Gottes Gegenwart festgestellt und bekräftigt werden können und sollten und dass mit ihnen gearbeitet werden kann und sollte, selbst an den un­erwartetesten Orten. Zum anderen wird dadurch, dass deutlich ausgesagt wird, dass der Vater und der Geist Gottes stets und in allen Situationen gegenwärtig sind und gemeinsam mit dem Wort wirken, die Versuchung vermieden, die Gegenwart Gottes oder des Geistes von der des Sohnes Gottes, Jesu Christi, zu trennen.

13. Die Mission Gottes (missio Dei) ist Quelle und Fundament der Mission der Kirche, des Leibes Christi. Durch Christus im Heiligen Geist wohnt Gott der Kirche inne und befähigt und kräftigt ihre Glieder. Mission wird so für Christen zu einem dringenden inneren Zwang, gar einem mächtigen Test und Kriterium für ein authentisches Leben in Christus, verwurzelt in den umfassenden Forderungen der Liebe Christi, andere dazu einzuladen, an der Fülle des Lebens teilzuhaben, die zu bringen Jesus gekommen ist (Joh 10,10). Die Teilnahme an der Mission Gottes sollte deshalb für alle Christen und alle Kirchen und nicht nur für bestimmte Ein­zelpersonen oder spezialisierte Gruppen etwas ganz Natürliches sein. Der Heilige Geist gestaltet Christen um zu lebendigen, mutigen und kühnen Zeugen (vgl. Apg 1,8). “Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben” (Apg 4,20), lautet die Antwort des Petrus und des Johannes, als ihnen befohlen wurde, von Jesus zu schweigen, oder mit den Worten des Paulus gesagt: “Denn daß ich das Evangelium predige, dessen darf ich mich nicht rühmen, denn ich muß es tun. Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte” (1. Kor 9,16).

14. Christen sind aufgerufen, durch Metanoia “den Sinn Christi” zu haben (2. Kor 2,16), Träger von Gottes Mission in der Welt zu sein (Mt 28,.19-20, Mk 16,15), die Zeichen von Gottes Gegenwart festzustellen und sie durch Zeugnis und Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens zu bekräftigen und zu fördern und Mitarbeiter Gottes (1. Kor. 4,1) zur Verwandlung der ganzen Schöpfung zu sein. So ist das Ziel der Mission “eine versöhnte Menschheit und erneuerte Schöpfung”, und “die Vision von Gott, der alle Dinge in Christus zusammenfasst, ist die treibende Kraft des Lebens und Miteinanderteilens der Kirche”.i “Die Kirche ist in die Welt gesandt, um Menschen und Nationen zur Buße zu rufen, Vergebung der Sünden und einen Neuanfang in den Beziehungen mit Gott und den Nächsten durch Jesus Christus zu verkünden.”ii

15. Die Mission der Kirche in der Kraft des Geistes besteht darin, Menschen in die Gemeinschaft mit Gott, miteinander und mit der Schöpfung zu berufen. Dabei muss die Kirche die intrinsische und untrennbare Beziehung zwischen Mission und Einheit achten. Die Kirche hat die Aufgabe, die Einheit zu leben, um die Jesus für sein Volk betet, “damit sie alle eins seien...damit die Welt glaube” (Joh 17, 21). Diese Überzeugung muss in der Gemeinschaft, zu der die Menschen eingeladen sind, verkündet und bezeugt werden.

16. Mission in der Nachfolge Jesu Christi ist holistisch, denn der ganze Mensch und die Gesamtheit des Lebens sind untrennbar in Gottes Heilsplan, der sich in Jesus Christus erfüllt hat. Sie ist lokal — “die primäre Verantwortung liegt dort, wo es eine Ortskirche gibt, bei dieser Kirche an ihrem Ort”. Sie ist auch universal, das heißt, für alle Menschen, über alle Schranken von Rasse, Kaste, Geschlecht, Kultur, Nation hinweg — “bis an das Ende der Erde” in jedem Sinne (vgl. Apg 1,8; Mk 16,15; Lk 24,47).iii

17. “Seine [Jesu Christi] Geschichte zu erzählen, ist das besondere Privileg der Kirchen in Gottes umfassender Mission.”iv Evangelisation umfasst die Erläuterung des Evangeliums — “Rechen­schaft über die Hoffnung, die in euch ist” (1.Petr 3,15) — sowie eine Einladung, an den dreieinigen Gott zu glauben, Jünger Christi zu werden und der Gemeinschaft einer bestehenden Ortskirche beizutreten. “Die Verkündigung von Jesus Christus erfordert eine persönliche Antwort. Das lebendige Wort Gottes ist niemals extern, beziehungslos, zusammenhanglos, sondern ruft stets zur persönlichen Umkehr und Gemeinschaft in Beziehung zu anderen auf. Eine solche Umkehr ist mehr als die Aneignung einer Botschaft: sie ist eine Verpflichtung zu Jesus Christus, die Nachahmung seines Todes und seiner Auferstehung auf sehr sichtbare und spürbare Weise. Was mit einer persönlichen Verpflichtung beginnt, muss jedoch unmittelbar zu einer Beziehung zu anderen Gliedern des Leibes Christi, der Zeugnis ablegenden Ortsgemeinde, werden.”v

B. KONTEXT DER MISSION HEUTE: AKTUELLE TENDENZEN

18. Ein bedeutender Aspekt des aktuellen Kontextes der Mission ist der der Globalisierung — ein relativ neues Phänomen, das mit der wirtschaftlichen Entwicklung, Veränderungen der globalen Kommunikationsmittel und der sich daraus ergebenden Auferlegung einer neuen Monokultur und einer damit zusammenhängenden Reihe von Werten auf die meisten Gesell­schaften zu tun hat. Diese Tendenzen sind natürlich nicht völlig neu, doch die politischen Veränderungen Ende der achtziger Jahre gestatten ihnen, heute die ganze Welt unbehindert durch irgendwelche globalen Gegenkräfte zu beeinflussen.

19. Ein entscheidender Aspekt der Globalisierung ist die zunehmende Liberalisierung der Wirtschaft, gekennzeichnet durch den weltweiten unbegrenzten Kapitalfluss auf der Suche nach dem höchsten Profit in der kürzesten Zeit. Diese Finanztransaktionen haben ihre eigenen Gesetze, die meistens nichts mit der wirklichen Erzeugung von Wirtschaftsgütern oder der Erbringung von Dienstleistungen zu tun haben. Sie haben unvorhersehbare Auswirkungen und schaden den Volkswirtschaften, sodass Regierungen und internationale Institutionen praktisch keine Möglichkeit haben, Einfluss auf sie zu nehmen. In diesem Sinne ist die Globalisierung eine Herausforderung und eine Bedrohung des Fundaments der menschlichen Gesellschaft.

20. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist der freie Markt das einzig weltweit verbreitete System geworden. Wirtschaftliche Erwägungen sind das Hauptkriterium für menschliche Beziehungen geworden. Der gesamte Bereich der heutigen sozialen Gegebenheiten, auch der Menschen selbst, wird in wirtschaftlichen und finanziellen Kategorien definiert und zu ihnen in Beziehung gesetzt. Auf dem globalen Markt sind Menschen insofern wichtig, als sie Verbraucher sind. Nur die Stärkeren und Wettbewerbsfähigeren überleben. Wer für den Markt keinen Wert hat — arme, kranke, arbeitslose, machtlose Menschen —, wird einfach an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ausgrenzung, begleitet von struktureller, geistlicher und physischer Gewalt, hat in den meisten Teilen der Welt unerträgliche Ausmaße angenommen. Die Aus­wirkung der Globalisierung auf die sogenannten Entwicklungsländer und -regionen ist eine Frage von Leben und Tod: die fundamentalen menschlichen Bedürfnisse wie Wohnung, Gesundheits­versorgung, Ernährung und Bildung für die Ärmsten werden heute weniger erfüllt als vor dreißig Jahren. Das hat zu der zunehmenden “wirtschaftlichen Migration” von Arbeitern und Arbeiterinnen sowie Angehörigen der Landbevölkerung und der Urvölker geführt, die nach Arbeitsplätzen suchen oder von ihrem Land vertrieben wurden.

21. Eine der Folgen dieser Tendenz ist die zunehmende Verschlechterung der Umwelt. Die Natur wird an vielen Orten brutal ausgebeutet, was zu ökologischen Krisen und Katastrophen führt, die sogar das weitere Leben auf unserem Planeten gefährden.

22. Ein zweiter Aspekt der Globalisierung hat mit der neuen Informationstechnologie und Möglichkeiten der Massenkommunikation zu tun, deren beschleunigte Entwicklung und Wachstum menschliche und soziale Beziehungen umgestaltet. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, daß der alte Traum, die Welt eins zu machen, endlich Wirklichkeit wird. Der Globus scheint sehr klein zu werden. Menschen in allen Teilen der Welt können von den neuen technologischen Entwicklungen profitieren und tun dies. Die wechselseitige Kommunikation floriert. Neue wissenschaftliche und medizinische Entdeckungen können sofort weltweit verbreitet werden. Die neuen elektronischen Kommunikationsmittel lassen sich für den menschlichen Fortschritt einspannen, für die Schaffung einer transparenteren und offeneren Welt, für die Verbreitung von Informationen über Menschenrechtsverletzungen und die Verbrechen von Diktatoren. Sie helfen Basisbewegungen und Kirchen weltweit, sich effizienter zu vernetzen. Aber sie werden auch von rassistischen und kriminellen Gruppen genutzt und insbesondere von denen, die innerhalb von Sekunden Millionen von Dollars dorthin bewegen, wo sie die größten Profite erzielen. Wer keinen Zugang zu den neuen Kommunikationsnetzen hat, hat unter diesem Ausschluss zu leiden.

23. Durch Globalisierungsprozesse verbreiten sich die in westlichen Kulturen verwurzelten Werte der Postmoderne rasch über den ganzen Globus. Die Identität der Menschen läuft Gefahr, im Schmelztiegel der stark verlockenden und attraktiven Monokultur und ihrer neuen Werte verwässert oder geschwächt zu werden. Die Vorstellung der Zugehörigkeit zu einer Nation selbst wird ernsthaft in Frage gestellt. Der Individualismus wird dem Leben in der Gemeinschaft vorgezogen. Traditionelle Werte, die früher als öffentliche Werte gelebt wurden, werden heute privatisiert. Selbst die Religion wird als Privatangelegenheit betrachtet. Persönliche Erfahrung tritt an die Stelle von Vernunft, Wissen und Verständnis. Dem Wort werden Bilder vorgezogen, die eine größere Auswirkung auf Menschen in bezug auf Bekanntmachung, Förderung und Vermittlung von “Wahrheiten” und Gütern haben. Die Bedeutung des gegenwärti­gen Augenblicks wird hervorgehoben; Vergangenheit und Zukunft zählen kaum noch. Menschen werden überzeugt zu glauben, daß sie die Herren ihres eigenen Lebens sind und es ihnen deshalb freisteht zu wählen, was ihnen passt.

24. Die sich ausbreitende Monokultur betrifft noch nicht die ganze Welt in gleichem Maße. Am meisten werden diejenigen Menschen von den neuen kulturellen Tendenzen beeinflusst, die am Markt teilhaben können, insbesondere die in den Machtzentren jedes Landes und jeder Region. Welche Wechselwirkung die Werte der Postmoderne mit den verschiedenen menschlichen Kulturen haben werden, lässt sich nicht völlig voraussagen. Es wächst der Widerstand gegen diese subtile neue Form von Imperialismus bei Basisorganisationen und Gemeinschaften, Urvölkern, Kirchen der Armen sowie Kulturen, die in starken religiösen Weltbildern verwurzelt sind.

25. Die zentripetalen Kräfte der Globalisierung werden von zentrifugalen Kräften der Zer­splitterung begleitet, die immer stärker zu spüren sind. Diese Zersplitterung wird auf persönli­cher, nationaler und internationaler Ebene erfahren. Traditionelle Familienstrukturen brechen zusammen. Scheidungen haben einen beispiellosen Rekord erreicht, und die Zahl der Alleinerziehenden nimmt vielerorts zu. Auf nationaler Ebene hat das Vakuum, das durch den Zusammen­bruch der totalitären Regime in Osteuropa und dessen Auswirkungen auf die übrige Welt geschaffen wurde, Aufruhr, Spannungen und Zersplitterung zwischen und in den ziemlich künstlichen staatlichen Gebilden verursacht, die aus der Zeit vor 1989 stammen. Neue Staaten sind nach ethnischen und Stammesgesichtspunkten entstanden. Völker, die seit Generationen zusammengelebt haben, können einander nicht mehr ertragen. Kulturelle und ethnische Identitäten werden dazu genutzt, um andere Identitäten zu unterdrücken. “Ethnische Säuberun­gen” und Völkermord finden in vielen Teilen der Welt statt und bringen ungeheures Leid, verstärken Hass und schaffen die Voraussetzungen für weitere Gewaltanwendung gegen Mensch und Schöpfung.

26. Der aktuelle Kontext der Mission umfasst auch Tendenzen innerhalb der Kirchen. In vielen Teilen der Welt wachsen Kirchen dramatisch. Das gilt für Kirchen — darunter die Großkirchen — in benachteiligten Gemeinschaften, Pfingstkirchen oder in Afrika entstandene Kirchen wie auch für charismatische Erneuerungsbewegungen, insbesondere, aber nicht ausschließlich, im Süden. Selbst in den wohlhabenderen Ländern, wo die Postmoderne Einstellungen und Überzeugungen beeinflusst, erleben Menschen im Blick auf Gemeinschaftsleben und Gottesdienst neue Wege, “Kirche zu sein”. Eine wachsende Zahl der starken missionarischen Bewegungen, die sich anderen Teilen der Welt zuwenden, befindet sich im Süden.

27. Einige, aber nicht alle dieser Kirchen scheinen ein ganzheitliches Zeugnis für das Evangelium anzustreben. Die stark wettbewerbsorientierte Umwelt des freien Marktes verstärkt viele Kirchen und parakirchlichen Bewegungen in ihrem Verständnis von der Mission als Versuch, neue “Kunden” anzuziehen und zu werben, und gleichzeitig die alten zu behalten. Ihre Programme und Lehren werden als “religiöse Produkte” dargeboten, die für potentielle neue Mitglieder anziehend und attraktiv sein müssen. Sie beurteilen den Erfolg ihrer Mission aus der Sicht von Wachstum, der Zahl der Bekehrten oder der neu gegründeten Kirchen. Leider gehörten ihre “neuen Mitglieder” sehr häufig schon anderen Kirchen an. So ist Proselytismus (als Wettbewerb und “Schafest­ehlen”) eines der großen heutigen Probleme für die Kirchen.

28. Nach so vielen Jahrzehnten des ökumenischen Dialogs und des gemeinsamen Lebens gibt es eine paradoxale Wiederbelebung des Konfessionalismus, was zweifellos mit dem Zer­splitterungsprozeß zusammenhängt. Denominationen sind Zeichen des Reichtums der Charismen und der geistlichen Gaben im Haushalt Gottes, wenn sie konstruktiv zu einem besseren gemeinsamen Verständnis des Evangeliums und der Mission der Kirchen auf dem Wege zur Einheit beitragen. Doch vielen Kirchen scheint es mehr um die Bestätigung und Stärkung ihrer eigenen konfessionellen und denominationalen Identität zu gehen als um ökumenische Bemühun­gen. Manchen Menschen ist mehr daran gelegen, ihre missionarische und diakonische Arbeit allein, parallel oder sogar in Konkurrenz zu anderen zu leisten, und die Zahl der fundamentalisti­schen und anti-ökumenischen christlichen Gruppen scheint zuzunehmen.

29. Schließlich breiten sich überall verschiedene Arten von neuen religiösen Bewegungen aus, die ihre Anhänger von traditionell christlichen Familien und sogar unter aktiven Kirchengliedern anwerben. Die Kirchen und ihre Lehren werden häufig angegriffen und verurteilt, während neue, modernere und attraktivere Botschaften verbreitet werden.

30. Die obige kurze Beschreibung des Gesamtkontextes kann natürlich nicht die wichtigen Unterschiede und sogar entgegengesetzten Schwerpunkte in verschiedenen Regionen und örtlichen Situationen berücksichtigen. Dennoch lässt sich sagen, dass dies die “Welt” ist, in der die Kirchen aufgerufen sind, ein klares, authentisches Zeugnis für das Evangelium abzulegen und lebensfähige Alternativen für die Zukunft zu entwickeln, die der Mission in der Nachfolge Jesu Christi treu sind.vi

C. MISSIONSPARADIGMEN FÜR UNSERE ZEIT

1. Berufen, an der Mission Gottes zur Fülle des Lebens teilzuhaben

31. Die sich rasch ausbreitende Globalisierung, die in der ungezügelten und unkontrollierten freien Marktwirtschaft und in der Hochtechnologie Ausdruck findet und die den Wert der gesamten Realität auf wirtschaftliche und finanzielle Kategorien reduziert, konfrontiert die Mission der Kirche mit dem wachsenden Phänomen der Dehumanisierung. In Kontexten von Armut und unmenschlicher Ausbeutung wird dies als täglicher Kampf um die elementarsten Bedürfnisse des Lebens erfahren, sogar um das Leben selbst. In anderen Kontexten und im Rahmen von Hoffnungslosigkeit, Entmutigung und Entfremdung — erfahren als Mangel an Sinngebung in der Gegenwart und als Mangel an Hoffnung für die Zukunft — nimmt die Selbstmordrate (vor allem bei jüngeren Menschen) zu und Apathie ist „in“. In allen Fällen ist die Kirche aufgerufen, die Frohe Botschaft von Jesus Christus unerschrocken zu verkündigen und an der Mission Gottes zur Fülle des Lebens teilzuhaben. Die Mission der Kirche ist es, mutig und beharrlich den einzig­artigen und ewigen Wert eines jeden Menschen als zum Bilde des heiligen, mächtigen und unsterblichen Gottes geschaffen zu bestätigen.

32. Im Kontext des menschlichen Reduktionismus und der geistlichen Gefangenschaft gibt es Zeichen der Suche nach Sinngebung, Erfüllung und Spiritualität. Eine frische neue missionarische Begeisterung ist heute offenkundig, und neue christliche Gemeinschaften entstehen.

33. Auf der anderen Seite wird die Zunahme neuer religiöser Begeisterung und die Suche der Jugend insbesondere nach religiösen Erfahrungen zu einem charakteristischen Merkmal unserer Zeit. Häufig hat eine solche Suche und haben sich daraus ergebende Erfahrungen jedoch zu schmerzlichen Ergebnissen geführt, da der unsere heutige Situation beherrschende Geist auch Versuche zu einer befreienden, erfüllenden Spiritualität geprägt hat. Durch die heute so verbreitete Brille der Erfüllung und Erfahrung des Individuums gesehen, wird Spiritualität häufig als eine Reihe von Techniken und Methoden für persönliches Wachstum, ganzheitliche Gesundheit, Klarheit des Geistes und Kontrolle der Sinne verstanden. Mit anderen Worten die Quelle der Erfüllung und der Sinngebung wird nicht in einer Beziehung zu einem persönlichen Gott gesehen, der sowohl transzendent als auch immanent ist, sondern in dem Versuch, die göttlichen Kräfte zu “erwec­ken”, die bereits im Menschen gegenwärtig sind, wenn auch schlummernd.

34. Angesichts solcher Herausforderungen besteht die Mission der Kirche darin, auf die Bedürfnisse und das Suchen der Menschen zu reagieren und ihnen zu helfen, angemessene Antworten und Ausrichtungen auf der Grundlage der Schrift und der Erfahrung der Kirche durch die Zeiten hindurch zu entdecken. Es ist an der Zeit, in Wort und Tat zu bezeugen, daß die Quelle des Lebens, der Sinn und die Erfüllung der dreieinige Gott ist, der im Leben Jesu von Nazareth voll offenbart und manifestiert wurde. Durch seinen Tod am Kreuz wurde der Tod besiegt, und durch seine Auferstehung wurde authentische Sinngebung und das letztgültige Ziel sowie die Berufung der Menschheit in ein Leben in seiner ganzen Fülle umgestaltet. Im christlichen Leben führt das Aufnehmen des eigenen Kreuzes — mit allen Schmerzen, die der Tod des alten Selbst bedeuten kann — stets zu einer freudigen und erfüllenden Erfahrung der Auferstehung in einer neuen Schöpfung (2. Kor 5,17). Aus den Erfahrungen einer “solchen Wolke von Zeugen” (Heb 12,1) über die Jahrhunderte hinweg muss deshalb die Botschaft vermittelt werden, dass die christliche Spiritualität zu einer ganzheitlichen Heilung, Gemeinschaft und Fülle des Lebens in Beziehung zu Gott, zu anderen Menschen und zur ganzen Schöpfung führt.

35. Religion als Leben in Christus und Bewusstsein einer wiederentdeckten, vollen und authentischen menschlichen Identität kann deshalb nicht einfach nur eine Privatangelegenheit sein. Stattdessen prägt sie unsere ganze Perspektive und Vision sowie die Beziehung zu Anderen. Christen können kein gespaltenes Leben führen: das religiöse Leben und das säkulare Leben sind eine einzige Realität. Das Leben selbst sollte eine fortwährende Liturgie liebender Beziehungen zu Gott, der Quelle des Lebens, und zu anderen Menschen und der ganzen Schöpfung sein. So können alle Realitäten, vor denen Menschen in ihrem täglichen Leben stehen, Themen theologischer Reflexion sein. Der Glaube rührt an alle Bereiche des Lebens — soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit, Politik, Ethik, Biogenetik und Umwelt — und macht angemessene und prophetische Antworten und Ausrichtungen aus dieser spezifischen Sicht möglich.

36. Die Kirche ist darüber hinaus aufgerufen, aus ihrer im Laufe der Jahrhunderte gewonnenen Erfahrung heraus konkrete alternative Paradigmen zur Konsumideologie der Globalisierung anzubieten. Der Versuchung der Herrschaft muss sie Grenzen setzen und ihre Macht dazu nutzen, um zu sagen: “nicht weiter”; der Versuchung des Besitzes und des Eigentums muss sie die Askese der frühen Christen entgegensetzen, die ihre Nahrung und ihre Habe mit den Bedürftigen und Entrechteten teilten; der Versuchung der Macht die prophetische Stimme; der Versuchung der Verkündigung einer zurechtgestutzten und partiellen Botschaft, die auf die Präferenzen und Erwartungen der Menschen unserer Zeit zugeschnitten ist, die präzise und ganze Botschaft des Evangeliums, die verlangt, daß “die ganze Gemeinde der ganzen Welt das ganze Evangelium bringt”.vii

2. Berufen zum Leben in Gemeinschaft

37. Zu den großen Herausforderungen, vor denen die christliche Mission in unserer Zeit steht, vor allem im Norden, gehört auch der Individualismus, der alle Bereiche des Lebens durchdringt und beeinflusst. Das Individuum scheint als einzige Norm der Realität und Existenz zu gelten. Gesellschaft und Gemeinschaft verlieren ihren traditionellen historischen Sinn und Wert. Diese Tendenz in den menschlichen Beziehungen wirkt sich auf das traditionelle Verständnis der Beziehung zwischen Christen und der Kirche im Heilsprozess aus. Viele verstehen Heil als eine Sache zwischen einem einzelnen Menschen und Gott und sehen nicht die Rolle der Gemeinschaft des Glaubens, der Kirche. Sie mögen ihren Glauben an Gott bezeugen, aber sie stellen die Bedeutung der Kirche als Instrument für die Beziehung zu Gott, zu anderen Menschen und zur ganzen Schöpfung sowie das Konzept des Heils in und durch Gemeinschaft ernsthaft in Frage oder leugnen sie sogar.

38. Angesichts einer solchen Tendenz, die sich auf das Gefüge der menschlichen Gesellschaft im allgemeinen und der christlichen Gemeinschaft im besonderen auswirkt, ist die Kirche aufgerufen, Gottes Willen und Plan für die Welt zu verkündigen. Zum Bilde des dreieinigen Gottes geschaffen — der per definitionem eine ewige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe ist —, sind Menschen ihrer Natur nach Geschöpfe, die Beziehungen zu anderen unterhalten wollen. Die Beziehungsdimension des menschlichen Lebens ist eine uns gegebene ontologische Realität. Jegliche authentische Anthropologie muss deshalb auf Beziehungen und auf Gemein­schaft ausgerichtet sein.

39. Die Dreieinigkeit, die Quelle und Bild unserer Existenz ist, zeigt die Bedeutung der Verschiedenheit, des Andersseins und der intrinsischen Beziehungen bei der Schaffung einer Gemeinschaft. Die Mitglieder einer Gemeinschaft sind verschieden, ausgestattet mit verschiedenen Gaben, Aufgaben, Stärken und Schwächen (wenn die Glieder alle gleich wären, würde es keinen Leib geben (1. Kor 12)). Die Gemeinschaft erfordert deshalb Verschiedenheit und Anderssein. Diese sollten jedoch weder gegeneinander noch parallel zueinander, sondern ergänzend zueinander sein.

40. Die Konferenz von Salvador hob die Bedeutung hervor, die das Evangelium den ver­schiedenen Identitäten beimisst, die die Gemeinschaft bilden. Solche Identitäten, seien sie national, kulturell, historisch oder religiös, werden vom Evangelium bestätigt, solange sie auf Beziehungen und Gemeinschaft ausgerichtet sind. Identitäten, die ihre eigenen Interessen auf Kosten anderer voranzubringen versuchen — wie zum Beispiel durch Fremdenfeindlichkeit, ethnische Säuberungen, Rassismus, religiöse Intoleranz und Fanatismus — und so die koinonia stören und zerstören, werden vom gleichen Evangelium verleugnet und zurückgewiesen.

41. Eine authentische christliche Gemeinschaft sollte sowohl lokal als auch katholisch sein (von kata holon, was “dem Ganzen entsprechend” bedeutet). Katholizität, die ein Zeichen der Authentizität jeder christlichen Gemeinschaft ist, beruht in Wirklichkeit auf der Verschiedenheit der lokalen Identitäten in ergänzender Gemeinschaft zueinander.

42. Solche theologischen Aussagen haben bedeutende Implikationen für die Missionspraxis der Kirche. Die Konferenz von Salvador zum Beispiel befasste sich mit der Frage der indigenen Spiritualität im Rahmen der Beziehung zwischen dem Evangelium und den Kulturen. Wenn die Kirche eine koinonia der konvergierenden und ergänzenden Verschiedenheiten ist, dann müssen Wege gefunden werden, wie die Ausdrucksformen der christlichen Theologie, Liturgie und Spiritualität in anderen Formen als den traditionellen und historischen in das vielfältige Spektrum integriert und aufgenommen werden können.

43. Aus der gleichen Perspektive ergibt sich die Frage der inklusiven Gemeinschaft von Frauen und Männern als gleichberechtigte und einander ergänzende Partner im Leben der Kirche. Die An­erkennung der Rolle der Frauen in der Mission der Kirche, die der menschlichen und der kirchlichen Gemeinschaft Fülle und Integrität bringt, ist eine sine qua non. Zu diesem Zweck sollte auf die vielfältigen Beispiele von predigenden, Zeugnis ablegenden und den Märtyrertod erleidenden Frauen in der Kirchengeschichte sowie auf die weiblichen Heiligen aufmerksam gemacht werden, die aufgrund ihrer Treue bei der Verkündigung des Evangeliums als “den Aposteln gleich” verehrt werden.

44. Wenn wir von der Erkenntnis ausgehen, daß Mission mit Zuhören und Lernen statt mit Predigen, Lehren und Verkündigen beginnen sollte, könnte ein neuer Ansatz zum Wachstum der “impliziten Religion” in vielen Gesellschaften erforderlich sein. Viele Menschen bekunden nachdrücklich ihren Glauben an Gott, haben jedoch wenige oder keine Beziehungen zur Kirche. Manche praktizieren zu Hause ihre eigene Form der “Liturgie” und Andacht. Solche Praktiken sind von der Kirche häufig als reine Traditionen, Folklore oder gar Aberglauben betrachtet worden. Vielleicht könnten sie als ernsthafte Suche nach dem lebendigen Gott, nach der Fülle des Lebens und nach Sinngebung gesehen werden — wie anders sie auch sein mögen als der Gottesdienst einer Ortsgemeinde — und eine Grundlage werden, auf der die Botschaft des Evangeliums aufgebaut und mit Liebe Zeugnis abgelegt werden kann.

3. Berufen, das Evangelium in jeder Kultur zu verkörpern

45. “Kultur formt die Stimme des Menschen, die auf die Stimme Christi antwortet”, hieß es auf der Weltmissionskonferenz in Bangkok 1973. Jüngste Entwicklungen haben erneut die untrennbare Beziehung zwischen dem Evangelium und menschlichen Kulturen auf die Tagesordnung der Mission gesetzt. Auf der Vollversammlung von Canberra (1991) und in anderen Kreisen hat es hitzige Debatten über Inkulturationstheologien und Versuche gegeben, das Evangelium in Formen zu artikulieren, die sich von den Traditionen einiger historischer Kirchen sehr stark unterscheiden. Erfahrungen, die während der Ökumenischen Dekade der Kirchen in Solidarität mit den Frauen gemacht wurden, haben gezeigt, wie Kulturen manchmal zu Machtzwecken missbraucht und unterdrückerisch wurden. In den 1990er Jahren hat die Welt erlebt, wie sich lokale Identitäten zunehmend behaupteten und dies häufig zu gewaltsamen Konflikten und Verfolgungen aus ethnischen und kulturellen Gründen geführt hat - manchmal mit direkter oder indirekter Unterstützung von Christen oder Kirchen. Ein solcher Kontext macht es dringend, dass die Herausforderung der Inkulturation erneut in die Reflexion über Mission eingebracht wird.

46. Die Konferenz von Salvador bekräftigte nachdrücklich, dass “Menschheit ohne Teilhabe an der Kultur nicht denkbar [ist], denn durch Kultur wird Identität geschaffen”.viii Kultur wird ausgelegt sowohl als eine Frucht der Gnade Gottes als auch als ein Ausdruck menschlicher Kreativität. In jedem Kontext muss unterstrichen werden, dass Kultur ihrem Wesen nach weder gut noch böse ist, sie hat die Fähigkeit zu beidem und ist deshalb ambivalent.

  1. In den neuen ökumenischen Diskussionen wird Kultur in sehr umfassendem Sinne

unter Einschluss aller Aspekte des menschlichen Tuns verstanden. “Jede Gemeinschaft hat eine Kultur, die als die Gesamtheit dessen zu verstehen ist, was ihr Leben ausmacht, was wesentlich ist für die Beziehungen ihrer Glieder untereinander, für ihr Verhältnis zu Gott und zur natürlichen Umwelt.”ix Das bedeutet, dass Religion Teil der Kultur ist, häufig sogar in ihrem Mittelpunkt steht. Man kann nicht von Kulturen sprechen, ohne die religiösen Überzeugungen und Wertesysteme der Menschen darin einzuschließen.

48. Gottes Mission wurde als inkarnatorisch offenbart. Mission in der Nachfolge Jesu Christi muss deshalb in einem bestimmten Kontext verwurzelt sein und konkret an die Herausforderungen in diesem besonderen Kontext herangehen. Daher ist das Evangelium “übertragbar” und muss dies auch sein. In jeder Situation muss das Zeugnis der Kirchen für Christus in der Ortskultur verwurzelt sein, sodass sich authentische inkulturierte Glaubensgemeinschaften entwickeln können. Alle Kulturen können die Liebe Gottes zum Ausdruck bringen, und keine Kultur hat das Recht, sich als ausschließliche Norm für Gottes Beziehung zu den Menschen zu betrachten.

49. Wenn es eine authentische Wechselbeziehung zwischen dem Evangelium und einer Kultur gibt, wird sie in dieser Kultur verwurzelt und eröffnet den biblischen und theologischen Sinngehalt für ihre Zeit und ihren Ort. Das Evangelium wird einige Aspekte dieser Kultur bekräftigen und andere in Frage stellen, kritisieren und umgestalten. Durch diese Prozesse können Kulturen verwandelt und zu Trägern des Evangeliums werden. Gleichzeitig nähren, erleuchten und bereichern Kulturen das Verständnis und die Ausdrucksformen des Evangeliums und fordern diese heraus.

50. Das Evangelium stellt Aspekte der Kulturen in Frage, die Ungerechtigkeit schaffen oder verewigen, Menschenrechte unterdrücken oder eine nachhaltige Beziehung zur Schöpfung behindern. Heute besteht die Notwendigkeit, über bestimmte Inkulturationstheologien hinauszu­gehen. Kulturelle und ethnische Identität ist eine Gabe Gottes, darf jedoch nicht dazu benutzt werden, andere Identitäten abzulehnen und zu unterdrücken. Identität sollte nicht im Gegensatz zu, in Konkurrenz zu oder aus Angst vor anderen definiert werden, sondern als ergänzend. “Das Evangelium versöhnt und eint Menschen aller Identitäten zu einer neuen Gemeinschaft, in der die primäre und letztgültige Identität die Identität in Christus Jesus ist (Gal 3,28).”x

51. Die Debatte über die Wechselbeziehungen zwischen dem Evangelium und Kulturen hat besondere Bedeutung für die Urvölker, die stark unter missionarischem Handeln und kolonialer Eroberung gelitten haben, in deren Verlauf ihre Kulturen und Religionen meistens als “heidnisch” bezeichnet wurden, die des Evangeliums und der “Zivilisation” bedurften. Später hat sich der Sprachgebrauch geändert, doch Urvölker galten immer noch überwiegend als “Objekte” des kirchlichen Zeugnisses, als “arm” und der Wirtschafts- oder Entwicklungshilfe bedürftig. In neueren Theologien, die “Gottes Vorliebe für die Armen” hervorhoben, wurden marginalisierte Menschen tatsächlich als Träger — das heißt Subjekte — einer neuen Missionsbewegung von der sogenannten Peripherie zum Zentrum betrachtet. Doch diese Theologien funktionierten immer noch auf der Grundlage von sozioökonomischen Kategorien, wobei das religiöse Erbe der Menschen vernachlässigt wurde. Heute fordern Urvölker die Kirchen auf, den Reichtum ihrer Kultur und Spiritualität anzuerkennen, in denen die Wechselbeziehung und Gegenseitigkeit mit der ganzen Schöpfung betont werden. Sie ersuchen die Kirchen, in echter Partnerschaft mit ihnen zu handeln und Mission gemeinsam mit ihnen als Gleiche und im gegenseitigen Teilen zu betreiben.

52. In jeder Kultur muss die Botschaft Christi in einer Sprache und in Symbolen verkündigt werden, die dieser Kultur angepasst sind, und auf eine Weise, die für die Lebenserfahrungen der Menschen relevant ist. Es gibt verschiedene Ansätze zu einer kulturell aufgeschlossenen Evangelisation. Für manche Menschen und Kirchen ist ein solches Zeugnis implizit, wenn Kirchen regelmäßig die Liturgie feiern und darin, wo angemessen, örtliche kulturelle Symbole aufnehmen. Andere nennen “als Lösung für das Problem, wie man auf unaufdringliche Weise Kontakt zu Gemeinschaften aus anderen Kulturen herstellen kann, die ‘Präsenz’. Dabei wird zunächst ein Versuch unternommen, die Menschen in der neuen Gemeinschaft kennenzulernen und zu verstehen, ihnen wirklich zuzuhören und von ihnen zu lernen...Zum rechten Zeitpunkt könnten die Menschen eingeladen werden, an der Geschichte des Evangeliums teilzuhaben”.xi In manchen Fällen könnte das Evangelium am besten durch stille Solidarität vermittelt oder durch eine zutiefst spirituelle Lebensweise offenbart werden. In Kontexten, die der Verkündigung des Evangeliums feindlich gegenüberstehen, könnte die Ablegung des Zeugnisses dadurch erfolgen, dass “ein ‘sicherer Ort’ bereitgestellt wird, wo Spiritualität Wurzeln schlagen und so die Jesus-Geschichte offenbart werden kann”.xii Andere vertreten die feste Überzeugung, dass in den meisten Kontexten ein ausdrückliches Zeugnis erforderlich ist — dass die Wortverkündigung, die sich aus den vielfältigen Impulsen und dem dynamischen Wirken des Heiligen Geistes ergibt, durch nichts ersetzt werden kann.

53. Einem ganzheitlichen und ausgewogenen Ansatz zur Missionspraxis sollte stets Beachtung geschenkt werden; die Versuchung, einen Aspekt hervorzuheben und andere zu ignorieren, sollte vermieden werden. Authentische Evangelisation muss stets sowohl Zeugnis als auch bedingungs­losen liebenden Dienst umfassen. Wie es in San Antonio formuliert wurde: “Das ‘materielle Evangelium’ und das ‘geistliche Evangelium’ müssen ein Evangelium sein, wie es bei Jesus war...Es gibt keine Verkündigung des Evangeliums ohne Solidarität. Und es gibt keine christliche Solidarität, die nicht die Weitergabe der Kunde von dem Reich einschließt”.xiii

54. Dynamische Wechselwirkungen zwischen dem Evangelium und den Kulturen werfen zwangsläufig die Frage des Synkretismus auf, denn jede Inkulturation des Evangeliums rührt an Überzeugungen, Riten und Strukturen von Religionsgemeinschaften. Bei Kirchen wird der Begriff “Synkretismus” unterschiedlich verstanden. Für einige wird die Integrität der Evangeli­umsbotschaft verringert, wenn sie mit einigen Aspekten des Kontextes verschmolzen wird, in dem sie inkulturiert wird; sie verstehen Synkretismus als Verrat am Evangelium. Für andere kann es keinen kreativen Aufbau von Gemeinschaften und Theologien in einer Kultur ohne Syn­kretismus geben. Die Frage lautet dann, ob eine bestimmte Inkulturation das treue Zeugnis zum Evangelium in seiner Fülle fördert oder behindert.

55. Unterschiede bei der Auslegung haben mit dem Verständnis des Begriffs “Evangelium” und dem Wirken des Heiligen Geistes in verschiedenen Kulturen zu tun. Diese Fragen müssen sorgfältig behandelt werden, denn Vorwürfe des Synkretismus bringen häufig Machtungleichge­wichte zwischen Kirchen zum Ausdruck und verstärken diese. Auf der Konferenz in Salvador wurde auf die Notwendigkeit eines Rahmens für interkulturelle Hermeneutik (Theorie der Auslegung des Evangeliums) hingewiesen. Ferner machte sie auf die Notwendigkeit von Kriterien aufmerksam, im Dialog mit anderen Kirchen die Angemessenheit bestimmter kontextueller Ausdrucksformen des Evangeliums zu beurteilen. Zu diesen Kriterien gehören: “Treue gegenüber Gottes Selbstoffenbarung in der Gesamtheit der Schrift, Verpflichtung auf einen Lebensstil und ein Handeln, das mit der Herrschaft Gottes harmonisiert, Offenheit für die Weisheit der Gemeinschaft der Heiligen über Raum und Zeit hinweg, Relevanz für den Kontext.”xiv

4. Berufen zu Zeugnis und Dialog

56. Das Phänomen des religiösen Pluralismus ist eine der größten allgemeinen Heraus­forderungen für die christliche Mission im kommenden Jahrhundert geworden. Zeugnis in multireligiösen Gesellschaften galt traditionell als Anliegen vor allem von Kirchen und Missionaren in Afrika, Asien, im Nahen Osten und in anderen Teilen der Welt. In den letzten Jahren ist der religiöse Pluralismus aufgrund stärkerer Migration jedoch zu einer globalen Realität geworden. An manchen Orten sind Christen frei und leben und kooperieren mit anderen in einem Geist gegenseitiger Achtung und gegenseitigen Verständnisses. An anderen Orten jedoch gibt es wachsende religiöse Intoleranz.

57. In Europa und Nordamerika (traditionell christlichen Gebieten) stellt die wachsende Präsenz von Menschen anderer Religionszugehörigkeit in Ortsgemeinden ernsthafte Herausforderungen an die Missionsarbeit der Kirchen. Christen in historisch multireligiösen Gesellschaften haben im Verlaufe der Jahrhunderte Erfahrungen damit gesammelt, in solchen Kontexten zu leben und Zeugnis abzulegen. Doch auch für sie ergeben sich neue Herausforderungen. Wie kann die christliche Verpflichtung zu Mission und Evangelisation mit Treue zum Evangelium und Liebe und Achtung der anderen bekräftigt werden?

58. Solche Herausforderungen werfen unvermeidlich theologische Fragen über das Wesen des Zeugnisses unter Menschen anderer religiöser Überzeugungen in bezug auf das Wesen des Heils selbst auf. Es gibt in der umfassenderen ökumenischen Bewegung wenig Konsens darüber. Auf den Missionskonferenzen von San Antonio und Salvador wurde die Situation durch die folgenden Aussagen zusammengefaßt. “Wir kennen keinen anderen Weg zum Heil als Jesus Christus; zugleich aber können wir dem Heilswirken Gottes keine Grenzen setzen.”xv Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Aussagen, das noch nicht gelöst ist.

59. Bei den in der Mission engagierten Menschen wächst die (allerdings auch angefochtene) Erkenntnis, dass Gott außerhalb der Kirchen wirkt — obwohl sich nicht genau definieren lässt, wie Gott in einer Religionsgemeinschaft wirkt. Doch Menschen in der Mission stellen “Einblicke” in Gottes Gegenwart und Wirken unter Menschen anderer religiöser Traditionen fest. Die heutige Erfahrung trifft auf die alte Tradition: frühe christliche Theologen wie Justin der Märtyrer sprachen vom “Samen des Wortes” unter den Kulturen der Welt; andere wie Eusebius von Cäsarea benutzten den Begriff “evangelikale Vorbereitung”, auf die auch in der Enzyklika von Paul VI über Evangelisation und in den Texten von Salvador hingewiesen wurde.

60. Eine offene Frage, die weitere Reflexion und weiteres Miteinanderteilen der in der Mission engagierten Christen erfordert, hat somit damit zu tun, wie die Zeichen der Gegenwart des Geistes unter Menschen anderer Religionszugehörigkeit oder ohne Religion festgestellt werden können. Die Konferenz von Salvador gab Hinweise auf solche Zeichen, als sie auf Ausdrucks­formen der Liebe, Werte wie Demut, Offenheit gegenüber Gott und anderen sowie Ver­pflichtungen für Gerechtigkeit, Solidarität und gewaltfreie Mittel zur Lösung von Konflikten hinwies. Galater 5, 22-23, wo von der Frucht des Geistes gesprochen wird, wurde als nützliche Hilfe für diese Feststellung betrachtet.

61. In der Mission ist Raum für die Verkündigung der Frohen Botschaft Jesu Christi und für den Dialog mit Menschen anderer Religionszugehörigkeit. Je nach der Situation und den Charismen der Christen in dieser Situation kann der Schwerpunkt unterschiedlich sein. Viele würden jedoch behaupten, dass der einzige richtige Weg des Lebens in Gemeinschaft im Dialog besteht. In Bekräftigung des Verkündigungsauftrags von Christen verwies die Konferenz von San Antonio darauf, daß “unser Dienst des Zeugnisses unter Menschen anderer Religionszugehörigkeit bedingt, daß wir mit ihnen zusammen leben, ein Gefühl für ihre Glaubensverpflichtungen und -erfahrungen haben und bereit sind, ihnen um Christi willen und aus Liebe zu ihnen zu dienen, als Zeichen dafür, was Gott unter ihnen getan hat und weiterhin tut...Wir sind dazu aufgerufen, Zeugen für andere Menschen zu sein und nicht ihre Richter”.xvi Wenn Mission bedeutet, in der Nachfolge Christi zu handeln, dann kann es keine Evangelisation ohne Offenheit gegenüber anderen und ohne Bereitschaft geben, seine Gegenwart auch dort festzustellen, wo sie nicht erwartet wird.

62. Auf der anderen Seite gibt es keinen echten Dialog, wenn die religiöse Identität und Glaubensüberzeugungen der Partner nicht deutlich gemacht werden. In diesem Sinne lässt sich bekräftigen, dass Zeugnis vor dem Dialog kommt. Von der Evangelisation zu sprechen bedeutet, die Verkündigung von Gottes Angebot von Freiheit und Versöhnung zusammen mit der Einladung hervorzuheben, sich denen anzuschließen, die Christus nachfolgen, und für die Herrschaft Gottes zu arbeiten. Dialog ist eine Form des Zeugnisses für Jesu Gebot der Näch­stenliebe — auch der Feindesliebe — und kann in bestimmten Kontexten der einzige Weg sein, um einem demütigen kenotischen Missionsstil treu zu sein und Christi verwundbarem Leben im Dienst und nicht in der Herrschaft zu folgen.

5. Berufen, die Wahrheit des Evangeliums zu verkündigen

63. Eine der größten Herausforderungen unserer Zeit — die den eigentlichen Kern der christlichen Botschaft berührt — ist das wachsende Phänomen des Relativismus, wie er insbesondere bei westlichen Philosophen und Wissenschaftlern entwickelt wurde. Im postmoder­nen Denken wird die Vorstellung von absoluter und universaler Wahrheit, sei es im politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder auch religiösen Bereich, stark in Frage gestellt oder abgelehnt. Wahrheit wird eher als Sache der Erkenntnis des Einzelnen durch eine persönliche Wahl, Erfahrung und Entscheidung gesehen. Statt dass es eine objektive, universale und absolute “Wahrheit” gibt, gibt es “Wahrheiten”, die parallel zueinander stehen und miteinander zu­sammenleben.

64. Ein solches Verständnis von Wahrheit und ein solcher Ansatz zur Wahrheit beeinflusst nicht nur viele Aspekte unseres täglichen Lebens, insbesondere in den Industrieländern, sondern hat auch erhebliche Auswirkungen auf das Zeugnis der Kirche und ihre Teilnahme an der ökume­nischen Bewegung allgemein.

65. Dieser Ansatz stellt traditionelle Formen der christlichen Mission in Frage. Menschen, die eine solche Weltsicht verteidigen, treten für ein neues Verständnis, einen neuen Stil und eine neue Praxis der Mission ein, die den heutigen Gegebenheiten angemessener sind. Sie verlangen, die “arrogante” Einstellung, die Vermittlung des Christentums sei die einzige zum Heil führende Wahrheit, aufzugeben, und fordern, dass dieses demütiger und zurückhaltender als eine von vielen Wahrheiten dargestellt wird, die in verschiedenen Religionen oder in der Schöpfung allgemein zu finden sind. Sie meinen, dass diese anderen Wahrheiten in der Theorie einen ähnlichen Wert und ein ähnliches Endziel haben, wobei nur die persönliche Wahl einen qualitativen Unterschied zwischen ihnen ausmacht.

66. Im ökumenischen Bereich werden Begriffe wie “Einheit”, “Konsens” und “apostolische Wahrheit” in Frage gestellt, und für manche haben sie eine pejorative Bedeutung angenommen. Eine neuere ökumenische Vision schließt die Suche nach einem neuen Paradigma und Bild ein, das eine Vielfalt von Wahrheiten unter dem gleichen Dach aufnehmen könnte, ohne bei dem Prozeß, sie zu einer Konvergenz zu bringen, irgendwelche zu verwässern oder zu beseitigen, wobei das Ziel darin besteht, eine gemeinsame und verbindliche apostolische Wahrheit zu finden.

67. Neuausrichtungen und Teilantworten zu den vom Relativismus aufgeworfenen Herausforderungen sind ansatzweise aufgezeigt worden, doch es sind schärfere und kohärentere Antworten erforderlich. Welche Beziehung besteht zwischen der Wahrheit des Evangeliums, welche die Christen in Bezug auf die Einzigartigkeit Jesu Christi zu verkündigen aufgerufen sind, der “der Weg, die Wahrheit und das Leben” (Joh 14,6) ist, und der Wahrheit des “Evangeliums vor dem Evangeli­um”, und was hat das für Folgen für die Einheit der Kirche?

6. Berufen zum Zeugnis in Einheit

68. In den letzten Jahrzehnten sind sich die Kirchen der Notwendigkeit einer gemein­sam, in Zusammenarbeit und gegenseitiger Rechenschaftspflicht betriebenen Mission immer stärker bewusst geworden; daher wurden Missionspartnerschaften geschaffen, einige internationale Missions­strukturen umgestaltet und gemeinsame Projekte unternommen. In der gleichen Zeit hat es jedoch auch eine Eskalation der konfessionellen Rivalitäten und Konkurrenz in der Mission in vielen Teilen der Welt gegeben. Diese Gegebenheiten zwingen die ökumenische Familie dazu, Fragen der Mission in der Einheit, der Zusammenarbeit zwischen den Kirchen, des gemeinsamen Zeugnisses und des Proselytismus neu zu prüfen und auf verantwortlichere Beziehungen in der Mission hinzuarbeiten.

69. Gemeinsames Zeugnis ist “das Zeugnis, das die Kirchen, auch wenn sie getrennt sind, zusammen und insbesondere durch gemeinsame Bemühungen ablegen, indem sie die göttlichen Gaben der Wahrheit und des Lebens sichtbar machen, die sie bereits miteinander teilen und gemeinsam erfahren”.xvii Authentisches gemeinsames Zeugnis setzt Achtung und Verständnis für andere Traditionen und Konfessionen voraus. Im Mittelpunkt sollte stehen, was die Kirchen gemeinsam haben und tun können, und nicht, was sie voneinander trennt... Zwischen den Kirchen gibt es mehr Verbindendes als Trennendes. Nach diesen verbindenden Elementen sollte man suchen, wenn man das Zeugnis in Einheit aufbaut.

70. Mission und Religionsfreiheit, darunter die Freiheit, seine Religion oder seinen Glauben zu wechseln, sind miteinander verbunden. Mission kann niemandem durch irgendwelche Mittel auferlegt werden. Andererseits muss die eigene Freiheit immer auch die Freiheit der anderen respektieren, bejahen und fördern; sie darf nicht gegen die ‘Goldene Regel’ verstoßen: “Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch” (Mt 7,12).

71. Proselytismus, in der frühchristlichen Zeit ein positiver Begriff, der einen Menschen eines anderen Glaubens bezeichnete, der zum Christentum konvertierte, hat aufgrund von Ver­änderungen von Inhalt, Motivierung, Geist und Methoden der “Evangelisation” in späteren Jahrhunderten eine negative Konnotation bekommen. Heute wird der Begriff in der Regel definiert als “die Aufforderung an Christen, die einer Kirche angehören, ihre konfessionelle Zugehörigkeit zu wechseln, wobei Mittel und Wege angewendet werden, die dem Geist der christlichen Liebe widersprechen, die Freiheit des menschlichen Individuums verletzen und das Vertrauen in das christliche Zeugnis der Kirche schmälern”.xviii Proselytismus ist “die Korruption des Zeugnisses”.xix

72. Gemeinsames Zeugnis ist konstruktiv; es bereichert, hinterfragt, stärkt und erbaut solide christliche Beziehungen und Gemeinschaft. Proselytismus ist eine Perversion des authentischen christlichen Zeugnisses und somit ein Gegenzeugnis. Proselytismus baut nicht auf, sondern zerstört. Proselytismus führt zu Spannungen, Verleumdungen und Spaltung und ist dadurch ein destabilisierender Faktor für das Zeugnis der Kirche Christi in der Welt. Proselytismus bedeutet immer eine Verletzung der Koinonia; er schafft keine Gemeinschaft, sondern feindliche Parteien.

73. Wenn neue Kontexte neue Initiativen der Verkündigung des Evangeliums erfordern, wenn sie gemeinsamen Herausforderungen gegenüberstehen, sind die Kirchen aufgerufen, Wege zur Zeugnisablegung in Einheit, Partnerschaft und Zusammenarbeit und verantwortlicher Beziehung in der Mission festzustellen. Um ein solches gegenseitig bereicherndes Missionsethos zu erreichen, müssen die Kirchen:

a) ihre Fehler der Vergangenheit bereuen und selbstkritischer über die Art und Weise ihres Umgangs miteinander und über ihre Methoden der Evangelisation nachdenken;

b) allen Formen eines Wettbewerbs und Konkurrenzkampfs zwischen den Konfessionen eine Absage erteilen und der Versuchung widerstehen, Proselytenmacherei unter Mitgliedern anderer christlicher Traditionen zu betreiben;

c) den Aufbau paralleler kirchlicher Strukturen vermeiden und statt dessen die jeweiligen Ortskirchen in ihrer evangelistischen Arbeit in der Gesellschaft anregen und unterstützen und mit ihnen zusammenarbeiten;

d) jegliches Manipulieren der humanitären Hilfe für einzelne Christen oder Kirchen verurteilen, mit dem Menschen dazu bewogen werden sollen, ihre Konfessionszugehörigkeit zu wechseln, oder mit dem die missionarischen Ziele einer Kirche auf Kosten einer anderen begünstigt werden sollen;

e) Menschen, die ihre kirchliche Zugehörigkeit wechseln wollen, dabei helfen, zu erkennen, ob sie sich von würdigen oder unwürdigen Motiven (beispielsweise gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten oder besseren Lebenschancen) leiten lassen;

f) lernen, “wahrhaftig zu sein in der Liebe” zueinander (Eph 4,15), wenn sie andere der Proselytenmacherei oder unehrlicher Praktiken bei der Evangelisation beschuldigen.

74. Diese christliche Gemeinschaft und Partnerschaft wird nur unter der Voraussetzung möglich sein, dass Christen und Kirchen:

a) einander in einem wirklichen Dialog zuhören, der das Ziel hat, Ignoranz, Vorurteile oder Missverständnisse zu überwinden, ihre Unterschiede unter dem Blickwinkel der christlichen Einheit zu verstehen und ungerechte Anschuldigungen, polemische, herabsetzende und abweisende Äußerungen zu unterlassen;

b) für mehr gegenseitige Information und Verantwortlichkeit in der Missionstätigkeit auf allen Ebenen sorgen — dazu gehört auch, dass man vorab die Kirche in dem jeweiligen Gebiet konsultiert, um festzustellen, welche Möglichkeiten einer missionarischen Zusammenarbeit und eines Zeugnisses in Einheit es gibt;

c) die Bereitschaft zeigen, von anderen zu lernen — beispielsweise von ihrer dynamischen Kraft, ihrer Begeisterungsfähigkeit und Freude an der Mission, ihrem Gemeinschaftssinn, ihrer Freude am Heiligen Geist, ihrer Spiritualität;

d) sich stärker um eine innere Erneuerung in ihren eigenen Traditionen und kulturellen Kontexten bemühen;

e) größere Anstrengungen unternehmen, um ihre Gläubigen in Ortsgemeinden, Sonntags­schulen, Bildungseinrichtungen und Seminaren darin zu unterweisen, die Mitglieder anderer Kirchen als Schwestern und Brüder in Christus zu achten und zu lieben.

75. Ökumenische Überzeugungen über Mission in der Einheit können zur Ausarbeitung eines Bundes über Beziehungen in der Mission führen. Zu den Grundüberzeugungen und -verpflichtungen in der Mission, die darin aufgenommen werden könnten, zählen:

76. Überzeugungen

a) Mission beginnt im Herzen des dreieinigen Gottes. Die Liebe, die die Personen der heiligen Dreieinigkeit zusammenbindet, fließt über in ein großes Ausgießen der Liebe für die Menschheit und die ganze Schöpfung.

b) Gott ruft die Kirche in Jesus Christus und befähigt sie durch den Heiligen Geist, Partner in Gottes Mission zu sein, für das Evangelium und die Liebe Gottes Zeugnis abzulegen, die in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi deutlich gemacht wurde, und Menschen dazu einzuladen, Jünger Christi zu werden.

c) Christliche Mission bedeutet eine ganzheitliche Antwort durch Verkündigung und Diakonie, um Menschen mit ihren Erfahrungen von Ausgrenzung, Zerbrochenheit und Sinnentleerung zu erreichen. Sie bedeutet Befähigung, Bekräftigung und Erneuerung der Menschen in ihrer Hoffnung auf Fülle des Lebens.

d) Alle getauften Christen sind aufgerufen, Zeugnis für das Evangelium Christi abzulegen und sind alle dem Leib Christi für ihr Zeugnis rechenschaftspflichtig; alle müssen ein Zuhause in einer lokalen Gottesdienstgemeinschaft finden, durch die sie Rechenschaft gegenüber dem Leib ablegen können.

77. Verpflichtungen xx

a) Von der Liebe Christi angetrieben verpflichten wir uns, darauf hinzuarbeiten, dass alle unsere Nächsten an jedem Ort, nah und fern, die Gelegenheit haben, das Evangelium von Jesus Christus zu hören und darauf zu reagieren.

b) Wir erkennen an, dass die primäre Verantwortung für die Mission an jedem Ort bei der Kirche an diesem Ort liegt.

c) Wo Missionare oder Mittel von unserer Kirche an einen Ort gesandt werden, wo es bereits eine christliche Kirche gibt, geschieht das auf vereinbarte, gegenseitig annehmbare und respektvolle Weise bei gleichberechtigter Mitwirkung aller Parteien am Entscheidungsprozess.

d) Wir erkennen an, dass in unseren Partnerschaften alle Partner Gaben anzubieten haben und alle durch die Beziehung lernen, empfangen und bereichert werden müssen; deshalb muß die Beziehung allen das gegenseitige Miteinanderteilen von Nöten und Gaben ermöglichen.

e) Wir erkennen an, dass alle Ressourcen der Kirchen Gott gehören und dass der Wohlstand der Reichen häufig von der Ausbeutung anderer stammt.

f) Wir verpflichten uns, die Beziehung in Bezug auf Finanzen, Theologie, Personal, Kämpfe, Dilemmas, Ängste, Befürchtungen, Hoffnungen, Ideen, Geschichten auf allen Seiten so transparent wie möglich zu machen — eine offenes Miteinanderteilen, das Vertrauen aufbaut.

g) Wir erkennen an, dass fast jede kulturübergreifende Begegnung zwischen Kirchen von einer ungleichen Verteilung der Macht geprägt ist. Geld, materieller Besitz, Verbindungen zu Staaten, Geschichte usw. wirken sich darauf aus, wie Kirchen zueinander in Beziehung stehen. Durch den Eintritt in Beziehungen in der Mission verpflichten wir uns, uns vor Missbrauch der Macht zu hüten und gerechte Beziehungen anzustreben.

h) Wir erkennen an, dass es wichtig ist, keine Abhängigkeit zu schaffen. Partnerschaften müssen zu Interdependenz führen. Wir werden uns durch unsere Partnerschaften um das Entstehen authentischer lokaler kultureller Antworten auf das Evangelium in Form von Liturgien, Liedern, Riten, Strukturen, Institutionen, theologischen Formulierungen usw. bemühen.

i) Wir glauben, daß Mission und Einheit untrennbar zusammengehören. Wir verpflichten uns deshalb, Zusammenarbeit und strukturelle Einheit zwischen unseren Missionsgesellschaften und unserer eigenen Kirche, zwischen Missionsgesellschaften sowie zwischen Missions­gesellschaften und unseren Partnerkirchen zu fördern. Wo in einem Gebiet bereits mehrere Kirchen bestehen, verpflichten wir uns, die Gründung eines Kirchenrates zu fördern.

j) Wir erkennen an, dass Mission und Evangelisation fast völlig denominational durchgeführt worden sind. Wir verpflichten uns, Mission sowohl lokal als auch im Ausland ökumenisch durchzuführen, wo immer das möglich ist.

k) Bei der Entwicklung internationaler Partnerschaften in der Mission verpflichten wir uns, dem Aufbau von Solidarität mit ausgegrenzten und leidenden Menschen und Gemeinschaften bei ihrem Ringen um Fülle des Lebens Vorrang zu gewähren.

ANMERKUNGEN

i. Vgl. Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 91. Offizieller Bericht der Siebten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Hrsg. Walter Müller-Römheld, Verlag Otto Lembeck, Frankfurt a. M., 1991, S. 103.

ii. Mission und Evangelisation: Eine ökumenische Erklärung, Genf, ÖRK, 1982. S. 1.

iii. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Zeugnis:Ein Aufruf zu verantwortlichen Bezie­hungen in der Mission und einer Absage an Proselytismus, ÖRK, Genf, 1997. S. 5.

iv. Zu einer Hoffnung berufen — Das Evangelium in verschiedenen Kulturen, Berichtsband zur 11. Konferenz für Weltmission und Evangelisation in Salvador da Bahía 1996, hrsg. von Klaus Schäfer i.A. des EMW, S. 164.

v. Proclaiming Christ Today, Report of an Orthodox-Evangelical consultation, Alexandria, Ägypten, 1995, Hrsg. Huibert van Beek und Georges Lemopoulos, Genf, ÖRK, 1995, S. 13.

vi6. Mehrere Kommissionsmitglieder erklärten ihr Ungehagen angesichts des übertriebenen Negativbildes, das in diesem Dokumentsabschnitt von der Globalisierung gezeichnet wird.

vii. Die Lausanner Verpflichtung, 1974, Abschnitt 6.

viii. Zu einer Hoffnung berufen, S. 125.

ix. Dein Wille geschehe: Mission in der Nachfolge Jesu Christi, Darstellung und Dokumentation der X. Weltmissionskonferenz in San Antonio 1989, hrsg.. von Joachim Wietzke, Verlag Otto Lembeck, Frankfurt a. M., 1989, S. 156.

x. Zu einer Hoffnung berufen, S. 145.

xi. Ibid., S. 134.

xii. Ibid., S. 134.

xiii. Dein Wille geschehe, S. 135.

xiv. Zu einer Hoffnung berufen, S. 171.

xv. Ibid., S. 164 (zitiert nach Dein Wille geschehe, S. 32).

xvi. Dein Wille geschehe, S. 142.

xvii. Thomas Stransky, Common Witness. In: Dictionary of the Ecumenical Movement, Genf, ÖRK, 1991, S. 197, zitiert in: Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Zeugnis, S.5.

xviii. Bericht der Orthodoxen Konsultation über Mission und Proselytismus, Sergiev Possad, Russland, 1993; zitiert in: Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Zeugnis, S. 8.

xix. Revidierter Bericht über “Christliches Zeugnis, Proselytismus und Glaubensfreiheit im Rahmen des Ökumenischen Rates der Kirchen”. In: Minutes of the Meeting of the Central Committee of the World Council of Churches, St. Andrews, Scotland, August 1960, Genf, ÖRK, 1960, S. 214: zitiert in: Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Zeugnis, S. 8. Auf Initiative des ÖRK sind u.a. folgende Erklärungen und Dokumente zum gemeinsamen Zeugnis ausgearbeitet worden: “Christliches Zeugnis, Proselytismus und Glaubensfreiheit im Rahmen des ÖRK” (Neu-Delhi, 1961), “Gemeinsames Zeugnis und Proselytismus” (1970), “Gemeinsames Zeugnis” (1982), “Die Herausforderungen des Proselytismus und die Berufung zu gemein­samem Zeugnis” (1995) sowie “Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Zeugnis: Ein Aufruf zu verantwortlichen Beziehungen in der Mission und einer Absage an Proselytismus”. (1997).

 

xx Mit “wir” sind Personen oder Gemeinschaften gemeint, die bereit sind, sich solche Verpflichtungen zu Eigen zu machen. Die CWME-Kommission empfiehlt das Dokument als Quellenmaterial für Studium und Reflexion.