Metropolit Prof. Dr. Gennadios von Sassima

Die Ekklesiologie bleibt in der heutigen Zeit zweifelsohne das entscheidende Thema für die christliche Theologie in ökumenischer Perspektive.1 Angesichts der steigenden Zahl zwischenkirchlicher theologischer Gespräche – eine Konsequenz der ökumenischen Bewegung – stößt dieses besondere Thema der Theologie in der modernen theologischen Forschung auf immer größeres Interesse. Gleichzeitig zeigt sich, dass das breite Spektrum ekklesiologischer Themen in den theologischen Studien konkret Form und Ausdruck annimmt. Als Reaktion auf die Herausforderung, die Beziehungen zwischen den Kirchen zu stärken bzw. die Theologie expliziter als relevant und konkret für die moderne Welt darzustellen, wird die Ekklesiologie heute zu einer Schnittstelle für die kirchenzentrierte Ökumene und die kirchenzentrierte Theologie.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine solch reichhaltige theologische Produktion in diesem Bereich der ökumenischen Theologie entwickelt hat. Die intensive ekklesiologische Forschungsarbeit, die auf soliden biblischen Grundlagen und historisch-patristischen Studien gründet, ist zu begrüßen. Die Ekklesiologie hat demnach nicht nur einen Beitrag zum besseren Verständnis zwischen gespaltenen christlichen Kirchen und Konfessionen geleistet, sondern auch zu einem umfassenderen Selbstverständnis jeder Konfession beigetragen. Sie hat zudem neue Impulse für die Erneuerung der gesamten christlichen Theologie gebracht.2

Neu stellt sich nun die Frage, wie dieses äußerst reichhaltige ökumenische Erbe der Vergangenheit ausgewertet und auf angemessene, umfassende und synthetische Art und Weise genutzt werden kann. Dies nicht so sehr, um weitere Erklärungen zu konfessionellen ekklesiologischen Standpunkten zu verfassen – damit liefe man höchstens Gefahr, bereits weitgehend bekannte Haltungen zu wiederholen – sondern vielmehr, um einen Denkprozess zu einer ekklesiologischen Erneuerung sowohl in der Ökumene als auch in der theologische Arbeit in Gang zu setzen. Es scheint mir, dass es heute unsere Aufgabe ist, diese umfangreiche ekklesiologische Literatur zu nutzen und zu versuchen, eine neue Art von ekklesiologischem Ansatz zu finden mit dem Ziel, eine Ekklesiologie zu fördern, die mehr Konvergenz aufweist, die mehr ekklesiologischen Raum für Diskussionen, Studien und gegenseitige Bereicherung zwischen unseren einseitigen ekklesiologischen Standpunkten schafft. Genau diese Art von ekklesiologischem Ansatz ist es, die hinter solchen, einem Konsens vorausgehenden Dokumenten wie der Erklärung zur Ekklesiologie der Vollversammlung in Porto Alegre „Berufen, die eine Kirche zu sein“ steht bzw. deren Grundlage bildet. Diese Erklärung zeigt genau auf, wo wir heute im Hinblick auf die ökumenische Landschaft im Streben nach der Einheit der Kirche stehen:

...Das Verhältnis zwischen Kirchen ist durch eine dynamische Wechselbeziehung geprägt. Jede Kirche ist zum gegenseitigen Geben und Empfangen von Gaben und zur gegenseitigen Rechenschaft aufgerufen. Jede Kirche muss sich dessen bewusst werden, was in ihrem Leben provisorisch ist, und den Mut haben, dies auch gegenüber den anderen Kirchen einzugestehen. Auch heute, wo eucharistisches Teilen nicht immer möglich ist, verleihen getrennte Kirchen der gegenseitigen Rechenschaft und Aspekten ihrer Katholizität bereits Ausdruck, indem sie füreinander beten, Ressourcen miteinander teilen, einander in Zeiten der Not beistehen, Entscheidungen gemeinsam treffen, sich gemeinsam für Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden einsetzen, einander Rechenschaft ablegen in der Nachfolge, die in unserer Taufe impliziert ist, und den Dialog trotz der Unterschiede aufrechterhalten und sich weigern zu sagen: „Ich brauche dich nicht“ (1. Kor 12,21). Wir verarmen, wenn wir voneinander getrennt sind.3

Das Streben der christlichen Welt nach Einheit ist eins mit ihrem Streben nach der Kirche. In diesem Sinne müssen sich alle, die sich mit dem wichtigen Thema der Ekklesiologie als Herausforderung befasst haben - auch als Ergebnis der bilateralen und multilateralen theologischen Gespräche der christlichen Kirche, die auf diese Wirklichkeit hinarbeiten -, fragen, was für eine Einheit erreicht werden soll oder, mit anderen Worten, welcherart ist das Wesen der Kirche, die Gottes Willen und Gottes Plan für die Erlösung der Welt entspricht? Selbstverständlich bestehen entgegengesetzte Einschätzungen hinsichtlich des Wesens der Einheit der Kirche, der Rolle der Kirche und ihrer ekklesiastischen und ekklesiologischen inneren Struktur und Tradition.

Dennoch gibt es auch einige gemeinsame Merkmale, die der aus der einen, heiligen katholischen und apostolischen Kirche hervorgegangenen Theologie eigen sind – ein gemeinsamer historischer Rahmen, in einigen Fällen eine Kontinuität der Tradition, ein umfassender Einfluss der griechisch-römischen Philosophie – insbesondere in Europa –, in einigen Fällen Ähnlichkeiten beim Gottesdienst und ein gemeinsames Bewusstsein für die Erhaltung, Pflege und Entwicklung der theologischen Tradition der Kirche.

Aus diesen Gründen werden die Diskussionen über die Einheit heutzutage zum Mittelpunkt ekklesiologischer Gespräche im ökumenischen Kontext. Allerdings bleiben die unterschiedlichen Auffassungen von den ekklesiologischen Grundlagen für die Einheit heute das Haupthindernis für eine lehrmäßige Übereinstimmung der verschiedenen Kirchen.


1 Siehe Ioannis Karmiris, Orthodox Ecclesiology, V und VI, Athen: 1973, 7 (auf Griechisch). Siehe auch O. Dibelius, Das Jahrhundert der Kirche, Berlin: 1927; J.R. Nelson und K.D. Schmidt, in: T. Rendtorff, Kirche und Theologie, Gütersloh: 1966, S. 11; W.A. Visser't Hooft, Teachers and the Teaching Authorities, ÖRK-Veröffentlichungen, Genf, S. 35-40.

2 Siehe Nikos A. Nissiotis, The Church as a sacramental vision and the challenge of Christian witness, in Gennadios Limouris, (Hg.), Church, Kingdom, World: The Church as Mystery and Prophetic Sign, Genf: ÖRK, 1986.

3 Paragraph 7.