1.      Die Aborigines und die Bewohner der Torres-Strait-Inseln sind die indigenen Völker und die traditionellen Hüter des Landes, das heute unter dem Namen Australien bekannt ist. Es handelt sich um verschiedene Völker, die sich aus ca. 250 Sprachgruppen und Nationen zusammensetzen und bekanntermaßen die ältesten noch existierenden Kulturen der Welt repräsentieren. Ihr Lebensstil, ihre Identität und ihr Wohlergehen sind jedoch ständig bedroht durch die Auswirkungen fortgesetzter Kolonialisierung und Versuche, sie in eine nicht-indigene “westliche” Lebensweise zu integrieren.

2.      Angesichts dieser Anliegen, und insbesondere derjenigen, die von den Aborigines und den Bewohnern der Torres-Strait-Inseln sowie von den Kirchen in Australien vorgebracht wurden, hat der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) im September 2010 ein Team der „Lebendigen Briefe“ nach Australien entsandt. Das Team besuchte verschiedene Gemeinschaften von Aborigines and hörte sich Geschichten und Erfahrungen zur sog. „Intervention“ an. Das Team der „Lebendigen Briefe“ verlieh seiner Besorgnis über die von ihm beobachtete Diskriminierung, die Unterdrückung und den Rassismus Ausdruck, denen die Aborigines täglich ausgesetzt sind. Es äußerte sich bestürzt darüber, dass die Regierungen auf allen Ebenen mit den Ureinwohnergemeinschaften nicht genug Rücksprache gehalten und verhandelt haben.

3.      In ganz Australien gibt es in allen nachteiligen Bereichen einen überproportional hohen Anteil an Aborigines und Bewohnern der Torres-Strait-Inseln. In allen Gemeinschaften gibt es extrem arme Menschen ohne geeigneten Zugang zu ärztlicher Versorgung, Schulen, Arbeit und Unterkunft. In einigen Gemeinschaften bewirken die Enteignung, der erzwungene Umzug von Familien, Generationenkonflikte, Rassismus und Armut eine Zunahme von Alkoholismus und Drogenabhängigkeit, Gewalt und den Zusammenbruch der Gesellschaft.

4.      Die Situation ist in vielen Teilen Australiens besorgniserregend, aber im Bundesstaat Northern Territory (NT) ist das Leben für viele in den Aborigine-Gemeinschaften besonders schwer. So haben beispielsweise alle Ureinwohner Australiens eine geringere Lebenserwartung als die nicht-indigenen Australier, aber der Unterschied beträgt im Bundesstaat Northern Territory 14 Jahre und ist damit einer der höchsten. Die Kindersterblichkeitsrate liegt bis zu viermal höher als bei nicht-indigenen Australiern, und viele Gemeinschaften im Bundesstaat NT haben wenig Zugang zu medizinischer Versorgung, Unterkunft, sauberem Wasser, Elektrizität und Schulen. Je abgelegener die Gemeinschaft, desto schlimmer die Situation.

5.      2007 hat die australische Regierung die Notmaßnahme „Northern Territory Emergency Response“ (NTER) eingeführt, die in Australien auch als „Intervention“ bekannt wurde. Sie war die Reaktion auf einen Bericht über sexuellen Missbrauch von Aborigine-Kindern mit dem Titel Ampe Aklyernemane Meke Mekarle „Kleine Kinder sind heilig“. Der Bericht sprach 97 Empfehlungen aus, um den im Bericht hervorgehobenen sexuellen Missbrauch von Aborigine-Kindern zu unterbinden. Obgleich dieser Bericht von der lokalen Regierung des Bundesstaats NT in Auftrag gegeben worden war, wartete die australische Regierung nicht auf deren Reaktion. Statt dessen erklärte sie, dieser Bericht habe gezeigt, dass ein „nationaler Notstand“ bestehe, der eines direkten Eingreifens („Intervention“) bedürfe, und kündigte eine unfassende Reihe von Maßnahmen an, die in „vorgeschriebenen Bereichen“ zum Einsatz kommen sollten. Bei allen diesen Bereichen handelte es sich um Aborigine-Gemeinschaften im NT.

6.      Die „Intervention“-Massnahmen waren sehr umfassend und betrafen Sozialhilfe und Arbeitsplätze, Gesetz und Ordnung, Schulen, die Unterstützung von Familien und Kindern, Gesundheit von Kindern und Familien, den Wohnungsbau, die Bodenbesitzstruktur sowie die Steuerung und Verwaltung der „Intervention“.

7.      Man war sich zwar darüber einig, dass der Bundesstaat NT vieler Ressourcen und Programme bedurfte und es wurde allgemein anerkannt, dass dieser Bereich von der Regierung jahrelang vernachlässigt worden war, dennoch waren viele Aspekte der „Intervention“ besorgniserregend: keine Rücksprache mit den betroffenen Ureinwohnergemeinschaften, obligatorischer Abschluss von 5-Jahres-Pachtverträgen für indigenen Grund und Boden, obligatorische alkohol- und pornographiefreie Zonen, die Beendigung einer Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahme mit der Bezeichnung “Community Development Employment Program” (CDEP), obligatorische Gesundheitstests für alle Kinder sowie Versprechen für mehr Mittel für Gesundheitswesen und Schulen. Außerdem wurde eine obligatorische Einkommenskontrolle eingeführt, die darin bestand, dass jeder, der in einem bestimmten Bereich wohnte und Sozialhilfe bekam, zwar eine Karte erhielt, mit der er an sein Geld herankam, jedoch nur die Hälfte seines Einkommens für Essen, Kleidung und sonstige Grundbedürfnisse ausgeben durfte, und das nur in bestimmten Geschäften. Diese Maßnahme betraf alle Aborigines, die Sozialhilfe bekamen, unabhängig davon, ob sie Eltern waren oder aus anderen Gründen für Kinder sorgen mussten oder nicht, und unabhängig davon, ob sie Schwierigkeiten hatten, mit ihrem Geld umzugehen und für ihre Familien zu sorgen oder nicht. Es fällt auf, dass die Gesetzgebung der “Intervention” nicht eine einzige der Empfehlungen aus dem Bericht “Kleine Kinder sind heilig” berücksichtigte.

8.      Außerdem waren viele Aspekte der „Intervention“ diskriminierend, und die Regierung hielt es für nötig, einige Aspekte des Gesetzes über Rassendiskriminierung (Racial Discrimination Act: RDA, 1975) außer Kraft zu setzen, um die „Intervention“ durchführen zu können. Auf diese Weise gab es keine rechtliche Möglichkeit, gegen die diskriminierenden Aspekte der „Intervention“ vorzugehen.

9.      Die Maßnahmen der „Intervention“ waren eine Quelle der Scham für die Aborigine-Völker. Die Art der Maßnahmen und viele der damaligen Diskussionen erweckten den Eindruck, die Aborigines verursachten ihre eigenen Probleme selbst. Und praktisch gesehen hatte die „Intervention“ einen starken Einfluss auf das tägliche Leben. So waren die Menschen beispielsweise nicht in der Lage, ihr Geld so auszugeben, wie sie es wünschten, und fühlten sich gedemütigt, wenn Ladeninhaber ihnen mitteilten, dass sie bestimmte Dinge nicht kaufen durften. Es war ihnen auch peinlich, dass in der Gesellschaft der Eindruck erweckt wurde, alle Aborigines seien Alkoholiker und Pädophile. Tatsächlich bestand eine der ersten Handlungen der Bundesregierung darin, am Eingang jeder Aborigine-Gemeinschaft  ein Verbotsschild für Alkohol und Pornographie anzubringen. Die Regierung machte sich die Behauptung zunutze, im Bundesstaat NT gäbe es einen Pädophilen-Ring, um die „Intervention“ zu rechtfertigen, führte jedoch nicht genügend Beratungen und Verhandlungen mit der Aborigine-Gemeinschaft durch, um diese Behauptungen zu untersuchen und das Problem zu lösen. 

10.  Viele Menschenrechtsanwälte, Kirchengruppen und die Gemeinschaften selbst haben gegen die „Intervention“ protestiert. Die Kritik kam aber nicht nur von innen. Auch die internationale Gemeinschaft prüft jetzt die Situation der Aborigines und der Bewohner der Torres-Strait-Inseln. Professor James Anaya, der UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten indigener Völker, hat den Bundesstaat Northern Territory besucht und sich besorgt darüber geäußert, dass viele Aspekte der „Intervention“ diskriminierend sind und dass viele internationale Menschenrechtsstandards, die von Australien unterzeichnet wurden, verletzt werden.

11.  Der UN-Ausschuss zur Abschaffung jeder Form von Rassendiskriminierung (Committee on the Elimination of Racial Discrimination, CERD) hat ebenfalls einen Kommentar zur „Intervention“ abgegeben und gesagt: „Der Ausschuss bedauert die diskriminierenden Auswirkungen, die diese ‚Intervention’ auf die betroffenen Gemeinschaften gehabt hat, einschließlich Einschränkungen der Rechte von Aborigines auf Land, Eigentum, soziale Sicherheit, einen adäquaten Lebensstandard, kulturelle Entwicklung, Arbeit und traditionelle Medikamente.“

12.  Das Team der „Lebendigen Briefe“ berichtete, dass ihm an jedem Ort, das es besuchte, gesagt wurde, dass sich die Lebensumstände unter der „Intervention“ nicht verbessert, sondern, im Gegenteil, verschlechtert hätten. Die Botschaft des Teams an diejenigen, die ihre Lebensumstände und –geschichten so großzügig mit den Mitgliedern der „Lebendigen Briefe“ geteilt habe, lautet, dass sie nicht alleine sind. Das Team sagte, es fühle sich dafür verantwortlich dafür zu sorgen, dass die Stimmen dieser Menschen nicht ungehört verhallen.

Der Zentralausschuss des ÖRK, der von 16. bis 22. Februar 2011 in Genf tagt,          

1.      bezeugt seine Solidarität mit den indigenen Völkern Australiens, den Aborigines und den Bewohnern der Torres-Strait-Inseln, und unterstützt sie in ihrem Recht, auf dem Land zu leben, das sie seit Generationen bewohnen, ihre Kultur zu pflegen und zu bereichern und dafür zu sorgen, dass ihre Traditionen gestärkt und an zukünftige Generationen weitergegeben werden;

2.      ruft die australische Regierung dringend dazu auf, die „Intervention“ zu beenden und sich statt dessen auf echte Beratungen und Verhandlungen einzulassen, an denen Aborigines wirklich beteiligt sind und wodurch diese besser ermächtigt und in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Bestrebungen und Belange zu erkennen, und wodurch sie vollständig am Finden und Umsetzen von Lösungen beteiligt werden;

3.      fordert die australische Regierung dazu auf, dafür zu sorgen, dass ihre Politik bezüglich der Aborigines und der Bewohner der Torres-Strait-Inseln die internationalen Konventionen erfüllt, ganz besonders die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker und die ILO-Konvention Nr. 169;

4.      ruft die ÖRK-Mitgliedskirchen dazu auf, weiterhin auf die spezifischen Probleme der indigenen Völker hinzuweisen und Fürsprache-Aktionen zu erarbeiten, um die Rechte, Bestrebungen und Bedürfnisse indigener Völker zu unterstützen;

5.      ermutigt die ÖRK-Mitgliedskirchen dazu, die Weiterentwicklung des theologischen Gedankenguts indigener Völker zu unterstützen, das die indigenen Vorstellungen von einem erfüllten, guten und üppigen Leben fördert und ihre eigenen spirituellen und theologischen Betrachtungen stärkt.

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