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Lagebericht zur Untersuchung von Völkermord im Zusammenhang mit der „Darfur-Krise“

1. Auf seiner Tagung in Genf, Schweiz (30. August – 6. September 2006) forderte der ÖRK-Zentralausschuss „die Mitarbeitenden auf, die Angemessenheit der Verwendung des Begriffs ‚Völkermord’ für die Krise in Darfur unter Berücksichtigung der in diesem Zusammenhang international vereinbarten Konventionen zu prüfen und den Kirchen Beratung anzubieten“.

2. Ehe man mit einer genauen Untersuchung der Darfur-Krise und der Antwort der internationalen Gemeinschaft darauf fortfährt, ist es sachdienlich, die rechtliche Definition des Begriffes Völkermord sowie die besondere Herausforderung, die er im heutigen Kontext bildet, zu analysieren und zu untersuchen.

Analyse des Begriffs Völkermord

3. Der Begriff „Völkermord“ bzw. „Genozid“ wurde zum ersten Mal von Anwalt Raphael Lemkin verwendet. Er kombinierte das griechische Wort genos (Rasse oder Volksstamm) mit dem lateinischen Wort cid (caedere – töten, ermorden). Nach den Gräueltaten des Holocaust setzte er sich dafür ein, dass Völkermord nach dem Völkerrecht als Verbrechen gilt. Seine Anstrengungen führten zur Verabschiedung der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“, die von der General­versammlung der UNO am 9. Dezember 1948 gebilligt wurde und im Januar 1951 in Kraft trat. Artikel II dieser Konvention enthält eine rechtliche Definition von Völkermord als Verbrechen. Gemäß dieser wird Völkermord als eine der folgenden Handlungen definiert, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. Die Konvention verpflichtet die Signatarstaaten außerdem zur „Verhütung und Bestrafung“ von Völkermord. Die gleiche Definition wurde später in die Satzungen zweier Ad-hoc-Gerichtshöfe aufgenommen, dem Internationalen Strafgericht für Ruanda (Artikel 2) und dem Internationalen Strafgericht für das ehemalige Jugoslawien (Artikel 4) wie schließlich auch vom Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (Artikel 5).

4. Mit den Jahren gab die Definition von Völkermord Anlass zu einer umfassenden Debatte. Viele sind der Ansicht, die Definition sei zu eng gefasst und schließe deshalb einen großen Teil der Massenmorde, die nach der Verabschiedung der Konvention begangen worden sind, nicht mit ein. Eines der angeführten Argumente zur Unterstützung dieser Ansicht ist, dass die Konvention gezielte Angriffe gegen politische und gesellschaftliche Gruppen ausschließt. Außerdem beschränkt sich die Definition auf direkte Handlungen gegen Menschen und schließt Handlungen gegen ihr lebenserhaltendes Umfeld aus. Ein weiterer Punkt ist, dass es äußerst schwierig ist, eine Absicht so zu beweisen, dass sie über berechtigte Zweifel erhaben ist. In diesem Sinne stellt sich auch die Frage nach der Schwierigkeit, zu definieren oder zu messen, was „teilweise vernichten“ genau bedeutet und wie viele Tote einem Völkermord gleichkommen. Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist der Unwille der UN-Mitgliedsstaaten, andere Mitgliedsstaaten anzuprangern oder einzugreifen.

5. Der Unterschied zwischen Völkermord und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegt in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten. Handlungen, die sich gegen solche Gruppen mit der Absicht richten, sie zu diskriminieren, aber nicht zu zerstören, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber kein Völkermord. Hier zeigt sich, dass ein klarer Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien besteht, wodurch es sehr schwierig wird, ein bestimmtes Vergehen als Völkermord zu bezeichnen.

6. Um zu ermitteln, ob ein bestimmtes Verbrechen ein Völkermord ist, muss einwandfrei festgestellt werden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für diesen Straftatbestand erfüllt sind. Dies erfordert das Sammeln konkreter Beweise, die über berechtigte Zweifel erhaben sind und belegen, dass ein solches Verbrechen begangen worden ist. Das Sammeln solcher Beweise kann sehr schwierig sein, insbesondere wenn Konflikte noch anhalten, wie dies in Darfur der Fall ist.

Entwicklungen auf internationaler Ebene mit Bezug auf die Darfur-Krise

7. Im Januar 2005 legte die Internationale Untersuchungskommission, die der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1564 vom 18. September 2004 eingesetzt hatte, ihren Bericht an den Generalsekretär vor, in dem es hieß, die Regierung des Sudan verfolge keine Politik des Völkermords. Die Kommission warnte jedoch davor, diese Feststellung als Relativierung der schwerwiegenden Verbrechen zu verstehen, die in dieser Region begangen worden sind. Verbrechen im Sinne des Völkerrechts wie zum Beispiel die in Darfur verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen seien nicht weniger gravierend und verabscheuungswürdig als Völkermord. In der Folge nahm der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 31. März 2005 die Resolution 1593 an, mit der er beschloss, den anhaltenden Konflikt in Darfur dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu unterbreiten. Im April 2007 erlieβ der IStGH die ersten Haftbefehle im Rahmen der dreijährigen Ermittlungen bezüglich der Kriegsverbrechen im sudanesischen Darfur. Diese Haftbefehle betreffen den Führer der Dschandschawid-Miliz, Ali Kushayb, und den sudanesischen Minister für humanitäre Angelegenheiten, Ahmad Muhammed Harun, der einer der führenden Köpfe hinter den Massentötungen und Vertreibungen in der Region gewesen sein soll, über die zahlreiche Berichte vorliegen. Da dem Ankläger nicht genügend Beweismaterial vorlag, um sie des Völkermords anklagen zu können, werden diese beiden Personen beschuldigt, 51 Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen zu haben. Mittlerweile wurde das Mandat des Sonderberichterstatters über die Menschenrechtssituation im Sudan vom Menschenrechtsrat auf seiner 6. Tagung im Dezember 2007 um ein Jahr verlängert.

8. Am 14. Juli 2008 legte IStGH-Staatsanwalt Luis Moreno-Ocampo den Richtern der Untersuchungs­kammer des IStGH einen Antrag auf Erteilung eines Haftbefehls gegen Omar Hassan Ahmad Al Bashir, den Präsidenten Sudans, wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegs­verbrechen vor. Drei Jahre, nachdem der Sicherheitsrat ihn gebeten hatte, in Darfur Untersuchungen anzustellen, und auf der Basis des gesammelten Beweismaterials zog der Staatsanwalt die Schlussfolgerung, dass man mit gutem Grund davon ausgehen kann, dass Sudans Präsident Al Bashir die strafrechtliche Verantwortung für zehn Anklagepunkte zu Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen trägt.

9. Die Beweise der Staatsanwaltschaft besagen, dass Präsident Al Bashir der führende Kopf hinter einem Plan war, für dessen Umsetzung er sorgte und der dazu dienen sollte, einen großen Teil der Gruppen Fur, Masalit und Zaghawa aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu zerstören. Der Staatsanwalt stellte folgendes fest:

„Mitglieder der drei Gruppen, die in Darfur ursprünglich einflussreich waren, haben die Ausgrenzung der Provinz in Frage gestellt und eine Rebellion angezettelt. Da es Al Bashir nicht gelungen ist, die bewaffneten Bewegungen zu besiegen, hat er angefangen, die Menschen zu verfolgen. Seine Motive waren größtenteils politischer Art. Sein Alibi war Partisanenbekämpfung, seine Absicht Völkermord.“

10. Nach Aussage des Staatsanwalts belegt das gesammelte Beweismaterial, dass bewaffnete Kräfte und die Dschandschawid-Miliz auf Präsident Al Bashirs Befehl hin fünf Jahre lang Dörfer angegriffen und zerstört haben. Danach jagten sie die Überlebenden in die Wüste. Millionen von Zivilisten wurden aus Ländereien vertrieben, die sie bereits jahrhundertelang bewohnt hatten; alles, was diese Menschen zum Überleben brauchten, wurde zerstört, ihr Land verwüstet und von neuen Siedlern bewohnt. Diejenigen, die die Vertriebenenlager erreichten, wurden Bedingungen unterworfen, die sie zerstören sollten (Mord, Vergewaltigung, Hunger).

11. An dieser Stelle sollte angemerkt werden, dass der Sudan kein Vertragsstaat des IStGH ist, dass das Gericht in diesem Fall jedoch Handlungsbefugnis hat, weil ihm der Sicherheitsrat der UNO in seiner Resolution 1593 im März 2005 die Vollmacht dazu erteilt hat. Die Untersuchungskammer wird nun das Beweismaterial, das ihr in den kommenden Monaten vorgelegt wird, durchsehen und beurteilen. Wenn die Richter der Ansicht sind, dass es gute Gründe für die Annahme gibt, dass Präsident Omar Al Bashir die ihm vorgeworfenen Verbrechen begangen hat, dann werden sie darüber entscheiden, wie sich am besten sicherstellen lässt, dass der Präsident vor Gericht erscheint. Wenn die Richter einen Haftbefehl ausstellen, wird der Sudan dazu gezwungen sein, seinen eigenen Präsidenten zu verhaften, d.h. sein Präsident wird sich freiwillig der Polizei stellen müssen, was vermutlich niemals geschehen wird.

12. Gemäß Artikel 89 läuft Präsident Al Bashir auch dann Gefahr verhaftet zu werden, wenn er einen der 106 Vertragsstaaten besucht. In Artikel 89 des Statuts des Gerichtshofs heißt es: „Der Gerichtshof kann jedem Staat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person vermutlich befindet, ein Ersuchen um Festnahme und Überstellung dieser Person (…) übermitteln (…).“

13. Zum ersten Mal hat ein Staatsanwalt des IStGH Anklage gegen ein Staatsoberhaupt erhoben und beschreitet damit neue Wege in der Reduzierung der nationalen Hoheitsrechte, die das internationale Recht in den vergangenen Jahren charakterisiert haben. Die wahre Auswirkung dieser Entwicklung muss noch abgewartet werden. Zwischenzeitlich hat der Rat das Mandat des hybriden Einsatzes der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen in Darfur (UNAMID) in seiner Resolution 1828 am 31. Juli um 12 Monate verlängert. Dieser Entscheidung gingen intensive Verhandlungen zu einem Vorschlag im Anschluss an den vom Staatsanwalt an den IStGH gestellten Antrag auf einen Haftbefehl gegen Präsident Al Bashir voraus, der einen Text zum Aufschub des IStGH-Verfahrens gemäß Artikel 16 des Römischen Statuts enthalten soll. Dies ist der Wortlaut des Artikels:

„Richtet der Sicherheitsrat in einer nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen angenommenen Resolution ein entsprechendes Ersuchen an den Gerichtshof, so dürfen für einen Zeitraum von 12 Monaten keine Ermittlungen und keine Strafverfolgung aufgrund dieses Statuts eingeleitet oder fortgeführt werden; das Ersuchen kann vom Sicherheitsrat unter denselben Bedingungen erneuert werden.“

14. Die Mehrheit der Mitglieder lehnte diesen Vorschlag ab, doch fand man einen Kompromiss, indem man die Notwendigkeit (und die diesbezügliche Verpflichtung der betreffenden Regierung) betonte, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die schwere Verbrechen begehen. Außerdem wurde die Besorgnis einiger Ratsmitglieder über den Antrag auf einen Haftbefehl gegen Präsident Al Bashir erwähnt, und in der Resolution wurde zur Kenntnis genommen, dass diese Mitglieder die Absicht haben, diese Angelegenheit weiter zu überdenken.

15. Darfur wird weiterhin einen Schwerpunkt der Arbeit des UN-Sicherheitsrats darstellen. Insbesondere geht man davon aus, dass die Ratsmitglieder über Themen zum Einsatz des UNAMID und zu den laufenden Verfahren vor dem IStGH sprechen werden. Es ist noch unklar, ob es im September einen formalen Antrag auf ein Aufschieben der Verhandlungen gegen Sudans Präsidenten Omar Al Bashir vor dem IStGH geben wird. Ein Bericht von der Sachverständigengruppe für Strafmaßnahmen soll bis 15. September 2009 vorliegen.

16. Hierzu muss angemerkt werden, dass es innerhalb des Rates zu den den IStGH betreffenden Themen voraussichtlich weiterhin geteilte Meinungen geben wird. China, Russland, Südafrika, Libyen, Burkina Faso und Indonesien sind für den Aufschub des IStGH-Verfahrens. Andere Ratsmitglieder sind der Ansicht, dass es wichtiger ist, die juristischen Mechanismen zu wahren und sicherzustellen, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden.

17. Jüngste Entwicklungen zum Thema des IStGH scheinen allerdings auch darauf hinzudeuten, dass einige dieser Mitglieder offen sein könnten für die Möglichkeit einer Aufschiebung des Verfahrens gegen Präsident Al Bashir gemäß Artikel 16. Voraussetzung dafür wäre, dass Khartum ernsthafte Schritte unternimmt, um die Zusammenarbeit mit dem IStGH zu verbessern, einschließlich glaubhafter Maßnahmen gegen andere Beschuldigte sowie einer echten Zusammenarbeit beim Einsatz des UNAMID, wobei die Erteilung humanitärer Hilfe erleichtert und echte Bedingungen für einen Friedensprozess geschaffen werden sollen. Auch scheint die Auffassung zu herrschen, dass in dieser Hinsicht Druck auf die Rebellen ausgeübt werden müsste.

18. Andererseits hat die Regierung des Sudan eine Versöhnungsinitiative für Darfur bekannt gegeben, die unter anderem eine Konferenz des nationalen Dialogs umfassen soll, für die allerdings noch keine offiziellen Daten bekannt gegeben wurden. Die Regierung hat außerdem einen Staatsanwalt berufen, der innerstaatliche Ermittlungen zu schweren Verbrechen in Darfur leiten soll. Man bleibt jedoch skeptisch aufgrund des gewählten Zeitpunkts, aufgrund des Fehlens einer sudanesischen Rechtsprechung für derartige Vergehen und aufgrund von Schwächen im sudanesischen Rechtswesen. Berichten zufolge weigert sich die Regierung immer noch, die anhängigen IStGH-Haftbefehle gegen Ahmed Harun und Ali Kushayb zu vollstrecken. Viele scheinen daher nicht überzeugt von Khartums jüngsten Anstrengungen im Bereich innerstaatlicher Mechanismen für Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht, besonders wenn sie an ähnliche Initiativen in der Vergangenheit denken, die ihrer Ansicht nach wenig glaubwürdig waren.

19. Bei Darfur besteht das zentrale Thema in der Frage, ob der Rat die Parteien auf irgendeine Weise dazu ermutigen kann, sich auf einen echten Waffenstillstand und einen Friedensprozess hin zu bewegen. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Verbesserung der Sicherheit und in diesem Zusammenhang die Frage, wie der Einsatz von UNAMID am besten vorangetrieben werden kann.

20. Mit Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht verbundene Themen werden die Mitglieder wohl ebenfalls stark beschäftigen, insbesondere die Frage, ob sich ein geeignetes Gleichgewicht finden lassen wird, das die Integrität und Unabhängigkeit des IStGH bewahrt und Straffreiheit vermeidet, das den Sudan jedoch gleichzeitig auch zur Zusammenarbeit mit UNAMID ermutigt, die Aussicht auf einen Waffenstillstand und einen Friedensprozess in Darfur erhöht und das Land insgesamt stabil hält. In dieser Hinsicht könnte man folgendermaßen vorgehen:

a. Der IStGH könnte bei der Erörterung des von seinem Staatsanwalt gestellten Antrags auf einen Haftbefehl gegen Präsident Al Bashir eine abwartende Haltung einnehmen.

b. Mit dem Sudan könnte eine Vereinbarung dahingehend getroffen werden, dass die IStGH-Strafverfolgung von Präsident Al Bashir für ein Jahr auf Eis gelegt wird, vorausgesetzt, es gibt eine hieb- und stichfeste Abmachung, dass der Sudan bezüglich der Beschuldigten mit dem IStGH zusammenarbeitet, dass die Kooperation mit UNAMID verbessert wird und dass konkrete Schritte in Richtung eines Waffenstillstands unternommen werden. (Eine notwendige Maßnahme hierbei könnte sein, ein Spektrum von Sanktionen gegen die Rebellen ins Auge zu fassen, falls diese nicht bereit sind, die Kampfhandlungen zu beenden.)

c. Und schließlich ließe sich eine weitere hieb- und stichfeste Vereinbarung treffen, die sicherstellen würde, dass die vom IStGH beschuldigten Personen juristisch zur Verantwortung gezogen werden können, indem man eventuell vorgeht wie beim Strafgericht für den Libanon, bei dem die innerstaatlichen Gesetze, gleichzeitig aber auch internationale Richter und ein neutraler Ort verwendet werden - diese Option birgt allerdings das Problem, dass es im Sudan keine innerstaatliche Rechtssprechung gibt, die die relevanten internationalen Verbrechen umfassen würde.

21. Würde die Option innerstaatlicher Justizmechanismen als Ersatz für den IStGH in Erwägung gezogen, so wäre man mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Zusätzlich zu den Fragen der gerichtlichen Kapazität und Unabhängigkeit käme, wie bereits erwähnt, das Problem, dass die Rechtsordnung des Sudan keine spezifischen Bestimmungen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord enthält.

22. Noch ein anderes Thema ist die Frage, ob der Rat sich noch eingehender mit den weitergehenden Problemen des Sudan befassen sollte, insbesondere mit der Frage, ob er etwas im Blick auf die Situation in den nördlichen und südlichen Teilen des Sudan unternehmen sollte. Hierbei geht es unter anderem darum, wie sich am besten sicherstellen lässt, dass die Umsetzung des Umfassenden Friedensabkommens (Comprehensive Peace Agreement) bei den für 2009 angesetzten Wahlen und beim für 2011 geplanten Referendum zur Unabhängigkeit des Südens Fortschritte macht, dass der Verlauf der Nord-Süd-Grenze und der Status von Abyei geklärt und die Einkünfte aus dem Verkauf von Öl gerecht geteilt werden.

23. Inzwischen hat die Afrikanische Union (AU) auf ihrem Gipfeltreffen in der ersten Juliwoche 2009 eine Resolution verabschiedet, in der sie aussagt, dass sie nicht kooperieren wird, wenn gegen den sudanesischen Präsidenten Omar Hassan Al Bashir ein Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen erlassen wird. Botsuana war das einzige Land, das sich geweigert hat, diese Resolution zu unterstützen. Botsuanas Vize-Präsident, Mompati Merafhe, sagte aus, dass der libysche Staatschef Oberst Muammar al-Gaddafi, als das Thema des vom IStGH erlassenen Befehls zur Verhaftung des sudanesischen Präsidenten Omar Al Bashir während des AU-Gipfeltreffens angesprochen wurde, keine Diskussion zugelassen habe. Oberst Gaddafi habe festgestellt, dass die AU gegen den Haftbefehl sei. Vize-Präsident Merafhe enthüllte, dass nur Botsuana und der Tschad ihre Position deutlich gemacht hätten, dass Präsident Al Bashir vor dem IStGH erscheinen solle, um seine Unschuld zu beweisen. Er sagte, die anderen Länder hätten ihre Position in dieser Angelegenheit, offensichtlich wegen ihrer Nähe zu Libyen oder dem Sudan, nicht publik gemacht.

24. Die jüngste Entwicklung in dieser Sache besteht darin, dass die Staatsanwälte des IStGH gegen die Entscheidung der IStGH-Richter, Sudans Präsidenten nicht wegen Völkermordes zu verklagen, am 7. Juli 2009 Berufung eingelegt haben.

Schlussbemerkungen

25. Aus der vorangehenden Analyse geht hervor, dass der Völkermord ein ziemlich komplexes Problem darstellt, das nicht nur rechtliche, sondern auch politische Dimensionen hat. Der Genozid hat rechtliche Implikationen, die die Intervention der internationalen Gemeinschaft in vollem Umfang nach sich ziehen. Daher kann dieser Begriff nicht ohne gebührende Abwägung und eingehende Untersuchung aller Faktoren verwendet werden, die in einer gegebenen Situation zum Tragen kommen.

26. Die Suche nach Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung steht seit jeher im Mittelpunkt des Auftrags und der Mission christlicher Kirchen als Reaktion auf die Lehre Jesu in der Bergpredigt: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. (…) Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Mt, 5, 6-9). Die Kirchen in verschiedenen Teilen der Welt und besonders in den Ländern, in denen schlimme Menschenrechtsverletzungen stattgefunden haben, haben auf nationaler und internationaler Ebene gegen Straffreiheit gekämpft. Hierbei geht es ihnen nicht so sehr darum, für Bestrafung zu sorgen, sondern vielmehr darum, Gewalt und Straffreiheit zu überwinden, die Opfer zu unterstützen und Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung zu verfolgen.

27. In dieser Studie zur Darfur-Krise hat sich das Modell der wiedergutmachenden Gerechtigkeit als ein Weg herausgestellt, die Bedeutung der Wiederherstellung zerbrochener Beziehungen innerhalb von Gemeinschaften zu betonen. Anhand der wiedergutmachenden Gerechtigkeit beginnen Menschen die eigene Verletzlichkeit und die des anderen zu verstehen und dessen Menschlichkeit anzuerkennen. Wiedergutmachende Gerechtigkeit will Opfer, Täter und Gemeinschaften heilen. Eines der Merkmale der Verfahren wiedergutmachender Gerechtigkeit, von der Gemeinschaftsebene bis auf die nationale Ebene, besteht darin, dass die Opfer in den Mittelpunkt gestellt werden.

28. Kirchen und ökumenische Organisationen haben die Schreie der Opfer immer als eine Aufforderung verstanden, deren Rechte zu respektieren. Opfer haben das Recht, genau zu wissen, was im Falle von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen passiert ist. In diesem Zusammenhang haben die Kirchen zum Völkermord in Armenien ihre prophetische Stimme erhoben. 1984 hat der ÖRK unter dem Titel „Armenien: Tragödie ohne Ende“ Hintergrundinformationen veröffentlicht. Im Anschluss daran hat die Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten (CCIA) das Thema des Völkermordes in Armenien bei der Menschenrechtskommission der UNO angesprochen und sich dabei auf deren „Überarbeiteten und aktualisierten Bericht zur Frage der Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes“ bezogen. Dieser Bericht war 1985 dem UN-Unterausschuss zur Verhütung von Diskriminierung und zum Schutz nationaler Minderheiten vorgelegt worden und enthielt die Schlussfolgerung, dass es sich bei den armenischen Massakern um Völkermord gehandelt hat.

29. Die Kirchen sollten erneut ihre Pionierrolle einnehmen und ihre prophetische Stimme zur Darfur-Krise erheben. Die jüngsten Entwicklungen auf internationaler Ebene deuten ebenfalls auf die Tatsache hin, dass das gesamte Beweismaterial zeigt, dass die in Darfur verübten Verbrechen gegen friedliche Zivilisten die rechtlichen Voraussetzungen für das Vergehen des Völkermordes erfüllen, wie sie in der UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes und im Römischen Statut des IStGH vorgeschrieben sind.

30. Der Konflikt in Darfur tritt nun in sein sechstes Jahr und stellt eine moralische Herausforderung für die internationale Gemeinschaft dar, welche die sich ständig verschlimmernde Situation Tausender unschuldiger Menschen, die täglich mit Tod und Hungersnot konfrontiert sind und unter Bedingungen leben müssen, die darauf abzielen, sie körperlich zu zerstören, nicht länger totschweigen und ignorieren kann.

31. Während einer auf höchster Ebene stattfindenden Plenarsitzung der UN-Generalversammlung im Jahre 2005 einigten sich die führenden Weltpolitiker erstmals darauf, dass Staaten die primäre Verantwortung haben, ihre eigenen Bevölkerungen zu schützen, und dass die internationale Gemeinschaft dann eingreifen muss, wenn diese Regierungen ihrer Verpflichtung, die am meisten Gefährdeten zu schützen, nicht nachkommen. Die Verantwortung, Bevölkerungen gegen Völkermord, ethnische Säuberung, Kriegs­verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen, entspricht der internationalen Verpflichtung von Regierungen, schwere Krisen zu verhindern bzw. auf sie zu reagieren, wo immer sie auftreten mögen. Diese Verantwortung, Krisen zu verhindern, auf sie zu reagieren und im Anschluss an solche Krisen für einen Wiederaufbau zu sorgen, liegt in erster Linie bei jedem einzelnen Staat. Wenn Staaten jedoch beim Schutz ihrer Bevölkerungen offenkundig versagen, dann teilt die internationale Gemeinschaft die kollektive Verantwortung dafür, einzugreifen. Dieses Eingreifen sollte sich so gestalten, dass erst friedliche Schritte unternommen werden und dann, wenn nötig, Zwangsmassnahmen einschließlich energischer Schritte ergriffen werden, um Zivilpersonen zu schützen. Die Schutzpflicht bedeutet, dass kein Staat seine Hoheitsrechte als Ausrede vorschieben kann, um sich dem prüfenden Blick der internationalen Gemeinschaft zu entziehen, während er seiner Bevölkerung weit reichende Menschen­rechts­­verletzungen zufügt oder zufügen lässt. Auf der anderen Seite können Staaten derartige Vor­kommnisse nicht wissentlich ignorieren, nur weil diese Menschenrechtsverletzungen außerhalb ihrer Staatsgrenzen stattfinden oder weil proaktive Maßnahmen nicht in ihrem eng definierten nationalen Interesse liegen.

32. Leider ist das bei der Darfur-Krise der Fall. Die internationale Gemeinschaft hat nicht länger das Recht, Zuschauer zu bleiben und zuzulassen, dass weit reichende Gräueltaten, wie diejenigen, die in Darfur vorkommen, weiterhin ungestraft verübt werden. Es soll gelten, was im „Bericht zum armenischen Genozid“ gesagt wurde, der vom ÖRK-Zentralausschuss auf seiner Sitzung vom 15. bis 22. Februar 2005 in Genf angenommen wurde:

„Aus christlicher Perspektive erfordert die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Versöhnung die Anerkennung des begangenen Verbrechens als eine sine-qua-non-Bedingung für die Heilung der Erinnerung und die Möglichkeit zur Vergebung. Vergebung bedeutet nicht Vergessen, sondern Rückblick mit dem Ziel, die Gerechtigkeit, den Respekt vor den Menschenrechten und die Beziehungen zwischen Tätern und Opfern wiederherzustellen.“

33. Die Kirchen sollten eine führende Rolle übernehmen, indem sie alle nationalen und internationalen Bemühungen um Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht fördern und unterstützen, damit durch einen wahren Versöhnungsprozess ein dauerhafter Friede aufgebaut werden kann.