"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt." Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."

In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. (Matthäus 22,36-40)

  1. Kenia und seine vielen Volksgruppen durchleben seit den heftig umstrittenen Präsidentschaftswahlen eine extrem schmerzhafte Krise. Hunderte von Menschen sind getötet worden, Tausende wurden verwundet oder verstümmelt, Hunderttausende mussten aus ihrer Heimat fliehen. Im Schatten des Chaos ist eine unbekannte Zahl von Frauen und Mädchen Opfer sexueller Gewalt geworden. Menschen mit HIV/AIDS haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung mehr. Unzählige Häuser und Geschäfte sind geplündert und niedergebrannt, viele Existenzen zerstört worden.
  2. 2. Im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen vom 27. Dezember 2007 warfen die größte Oppositionspartei und die Regierungspartei sich gegenseitig Wahlmanipulation und -betrug vor. Die Gewalt, die bald danach ausbrach, erschütterte ein Land, das noch einige Wochen zuvor für seinen positiv verlaufenden Wahlkampf bewundert worden war und das vor fünf Jahren, als seine Bevölkerung ein politisches Mehrparteiensystem durchsetzte, als Modell für friedlichen demokratischen Wandel in Afrika gefeiert wurde.
  3. Kirchen in aller Welt haben diese Ereignisse mit Sorge und Mitgefühl verfolgt, mit kritischer Reflexion und Gebeten, mit Hilfsmaßnahmen und Solidaritätsbekundungen. Dazu gehörten auch die Vermittlungsbemühungen des Nationalen Kirchenrats von Kenia, des kenianischen Interreligiösen Forums, der Gesamtafrikanischen Kirchenkonferenz (AACC) sowie der Delegation der "Lebendigen Briefe" des Ökumenischen Rates der Kirchen, die das Land im Januar 2008 besuchte.
  4. Erste Anzeichen für eine Abkehr von Konfrontation und Gewalt geben Anlass zu vorsichtiger Hoffnung. Als Kenias Nachbarn im globalen Dorf danken wir Gott für die vielen kirchlichen Friedensbemühungen und schließen uns den vom AACC zum Ausdruck gebrachten Empfindungen an: In der dunkelsten Stunde der Krise bezeichnete die in Nairobi angesiedelte Konferenz Kenia als "Haushalter der kollektiven Hoffnung Afrikas" und erklärte, die Freuden unseres Gastlandes "sind unsere Freuden geworden, seine Schmerzen somit auch unsere Schmerzen... Die Theologie des Leibes Christi will, dass wir füreinander da sind, nicht nur für diejenigen, die gemeinsam mit uns die Eucharistie am Tisch des Herrn feiern, sondern für die Welt, für die Christus gestorben ist."
  5. Die entsetzlichen Nachwirkungen der Präsidentschaftswahlen vom 27. Dezember 2007 sollten vor dem sozialen und geschichtlichen Hintergrund Kenias gesehen werden. Die Ursachen für die Art von Gewalt, die jetzt schon wochenlang andauert, können bis in die Zeit vor der Unabhängigkeit und die politischen Entwicklungen in postkolonialer Zeit zurückverfolgt werden. Die Verfassung, die zu Beginn der Unabhängigkeit 1963 ausgearbeitet wurde, hätte als Übergangsinstrument verstanden werden müssen. Sie befasste sich nicht ausreichend mit kritischen Fragen wie Landverteilung und Grundrechten. Nachfolgende Verfassungsänderungen gaben widersprüchliche Signale oder waren unzureichend: sie führten 1982 dazu, dass Kenia de jure zu einem Ein-Parteien-Staat wurde, dass 1991 wieder ein demokratisches Mehrparteiensystem eingeführt und dass im Vorfeld der jüngsten Wahlen ein mutiger, jedoch erfolgloser Versuch unternommen wurde, eine neue Verfassung zu entwerfen. Eine weitere dringend erforderliche Maßnahme - die Reform des Wahlsystems einschließlich einer wirklich unabhängigen Wahlkommission - steht noch aus und fordert jetzt einen hohen Preis.
  6. Die gültige Verfassung und einige Regierungsinstitutionen sind augenscheinlich missbraucht worden, um parteipolitischen Interessen und nicht den Interessen und Wünschen der Normalbevölkerung zu dienen. Einem Präsidenten, der auf Klientelwirtschaft setzt und keine institutionalisierte Machtteilung zulässt, werden die Menschen kaum zutrauen, dass er für öffentliche Interessen eintritt. Es entsteht der Eindruck, dass bei der Vergabe öffentlicher Ämter systematisch die Umgebung des Gewinners mehr als andere profitiert. Die Schwierigkeit, einen Sitz im Parlament zu bekommen, oder die Tendenz, dass Politiker/innen sich Jahr um Jahr an der Macht halten, bestärkt die Öffentlichkeit in ihrer Überzeugung, dass diese Form von Demokratie defektiv ist und erneuert werden muss. Wenn dies nicht geschieht, können zukünftige Präsidentschaftswahlen genauso unlösbare Probleme mit sich bringen und potenziell genauso gefährlich für das Land sein wie die letzte. Diese Notwendigkeit, öffentliches Vertrauen in die Regierung aufzubauen, besteht im Übrigen nicht allein in Kenia.
  7. Während der aktuelle Konflikt eine Folge der umstrittenen Präsidentschaftswahl ist, gibt es zwischen den betroffenen Volksgruppen seit langem zumeist unausgesprochene Probleme, die bis in die Zeit der Unabhängigkeit zurückreichen, als viele Kenianer das Gefühl hatten, dass die Erwartungen ihrer jeweiligen Volksgruppe nicht erfüllt wurden. Die Regierung des unabhängigen Staates übernahm damals die kolonialen Strukturen und unternahm nichts gegen bestimmte Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen, die das Volk spalteten. Die Probleme vieler Gemeinschaften und verschiedener ethnischer Gruppen wurden nicht gelöst. Ein negatives koloniales Erbe entwickelte sich zu einem postkolonialen politischen Problem. Auch externe Faktoren trugen - in altbekannter und neuer Manier - weiter zu den Problemen bei, beeinflussten die politische Kultur und die Erwartungen einer wachsenden Bevölkerung und trieben die Schlüsselsektoren der nationalen Wirtschaft an.
  8. Die Mitgliedskirchen des ÖRK machten 1971 in einer Erklärung des Zentralausschusses über Einheit und Menschenrechte im heutigen Afrika bereits früh auf diese Entwicklungen in Afrika aufmerksam: "Die Einmischung der reichen, mächtigen Staaten (...) stellt die größte Bedrohung für Stabilität und Fortschritt der afrikanischen Staaten dar und erschwert die Lösung der gegenwärtigen Stammesprobleme und internen Spannungen." Diese politischen, sozialen und wirtschaftlichen Kräfte, erklärte der Zentralausschuss, "bedrohen das Streben der Völker Afrikas nach Einheit und einer humanen Existenz in wirklicher Würde und Unabhängigkeit".

 

Ernüchtert durch die Wirklichkeit der Gewalt unter den Volksgruppen, im Bewusstsein, dass die Kirchen sich über ihre Rolle in Zeiten schwerer Krisen klar werden müssen, und überzeugt davon, dass Gesellschaften über die Fähigkeit verfügen, Macht verantwortlich zu übertragen, fasst der Zentralausschuss, der vom 13.-20. Februar 2008 in Genf (Schweiz) tagt, folgenden Beschluss:

Der Zentralausschuss

A. erkennt an, dass auch Kirchen in die Krise verwickelt waren und, wie der Nationale Kirchenrat von Kenia erklärt hat, aufgrund ihrer Parteinahme "nicht in der Lage waren, diese Probleme effektiv anzugehen";

B. bestärkt Kirchenführer/innen und -mitglieder, die während der Wahlkrise in Kenia für Frieden und Einheit eingetreten sind, und empfiehlt Kirchen, sich in vergleichbaren Krisen ebenso zu verhalten;

C. ruft nachdrücklich dazu auf, dass Kirchen in Ländern, in denen es ähnliche Krisen gibt, zusammen mit den Kirchen in Kenia die Notwendigkeit erkennen, z.B. gemeinsame Appelle zur Beendigung der Gewalt zu veröffentlichen, dies so bald wie möglich zu tun, konsequent den Schutz menschlichen Lebens einzufordern und das christliche Bekenntnis zum Frieden unter Beweis zu stellen, indem sie einen aktiven Beitrag zu laufenden Vermittlungs-, Versöhnungs- und Heilungsprozessen zwischen den Konfliktparteien leisten;

D. empfiehlt, dass Mitgliedskirchen und Kirchenräte in Situationen, in denen Gesellschaften zutiefst gespalten sind, wann immer möglich Plattformen für den Dialog zwischen leitenden Vertretern/innen von Regierung, Opposition und Zivilgesellschaft einrichten, auf denen die Beteiligten andere Meinungen hören, über Differenzen diskutieren, sich zu Verhandlungen bereit erklären und Maßnahmen zur Vorbeugung, Reduzierung und Beendigung von Gewalt ergreifen können;

E. ermutigt Kirchen, Bemühungen zum Aufbau interreligiöser Zusammenarbeit und Fürsprachearbeit für Frieden und Versöhnung einzuleiten und sich daran zu beteiligen, und verweist auf die Arbeit des Interreligiösen Forums in Kenia;

F. unterstreicht, dass Kirchenmitglieder und Kirchenverantwortliche - in der Kirche, zwischen Kirchen und in der Gesellschaft - eine Kultur des Dialogs fördern müssen, in der unterschiedliche Gruppen willkommen geheißen und Unterschiede angesprochen werden, in der, soweit das Gewissen es zulässt, Parteinahme vermieden und das gemeinsame Wohl in den Vordergrund gestellt wird; er bekräftigt ferner die Hoffnung, dass die Beziehungen zwischen Kirchen als Brücken zwischen gespaltenen Gemeinschaften und als Sicherheitsnetze in Zeiten der Krise dienen;

G. ermutigt Kirchen, sich aktiv an Programmen für Staatsbürgerkunde und an Bildungsarbeit für Demokratie, Menschenrechte sowie Würde und Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu beteiligen wie auch an Programmen zur Wahlbeobachtung und Folgeaktivitäten;

H. begrüßt die Bemühungen der afrikanischen und internationalen Gemeinschaft, in dem Konflikt zu vermitteln und Lösungen zu finden, wie z.B. das Engagement der Afrikanischen Union und angesehener afrikanischer Führungspersönlichkeiten, und unterstützt die Bereitstellung humanitärer Hilfe - insbesondere durch ACT (Kirchen helfen gemeinsam) - für Menschen, die vertrieben worden sind oder die in ihre Heimat zurückkehren.

 

GEBILLIGT