Die Zeichen der Zeit erkennenReligiöser, Kultureller undkirchlicher Kontext im Wandel / Internationaler politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kontext im Wandel / Erneuerung unserer ökumenischen Verpflichtung

Die ökumenischen Gespräche bieten den Delegierten Raum für den Erfahrungsaustausch über Anliegen, die für die Zukunft der Kirchen und für ihr gemeinsames Zeugnis und praktisches Engagement von zentraler Bedeutung sind. Wie reagieren die Kirchen - einzeln und auf ökumenischer Ebene - auf die unterschiedlichen Realitäten und den schnellen Wandel in der Welt? Welches sind heute die wichtigsten Anliegen, die eine gemeinsame Antwort der Kirchen erfordern, nicht nur weil sie eine Herausforderung für ihr Kirchesein darstellen und tiefe Spaltungen und Konflikte unter den Menschen hervorrufen, sondern auch weil sie die Kirchen zwingend auffordern, ihrer Berufung treu zu sein, eins in Christus zu werden und zu sein, damit die Welt glaube (Joh 17,21)? Welche Anliegen sind für Kinder und Jugendliche von zentraler Bedeutung, weil sie einerseits für ihre eigene Zukunft und andererseits für das Leben künftiger Generationen entscheidend sind?

Alle Teilnehmenden sind eingeladen, ihre Anliegen und Erkenntnisse in die Gespräche einzubringen und sich dabei sowohl ihren Kirchen und Gemeinden als auch der gemeinsamen Berufung in Christus verpflichtet zu fühlen. Die ökumenischen Gespräche werden eine interessante Gelegenheit bieten, gemeinsam über aktuelle Tendenzen und Entwicklungen in der heutigen Welt zu diskutieren und die Zeichen der Zeit im Licht des Glaubens zu erkennen.

Zu Gottes Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen berufen

Herzstück des christlichen Glaubens ist das Zeugnis von Gottes Gegenwart in dieser Welt: durch die Fleischwerdung Christi hat Gott die ganze geschaffene Ordnung angenommen, das Sichtbare und Unsichtbare, Himmel und Erde, zur Heilung, Versöhnung, Verwandlung und Verklärung des ganzen Kosmos. Christus ward Fleisch und wohnte unter uns (Joh 1,14). In ihm und durch ihn ist alles geschaffen, und in ihm werden alle in Einheit zusammengeführt, versöhnt, verwandelt, verklärt und erlöst werden (Kol 1,15-23): eine neue Menschheit, ein neuer Himmel und eine neue Erde (Offb 21,1).

Die Welt ist Gottes Schöpfung, sie ist sein Eigentum. Die Menschheit ist zum Bilde Gottes geschaffen und dazu berufen, in die Ebenbildlichkeit Gottes hineinzuwachsen (1 Mose 1,26). Gottes Geist erfüllt und erhält die ganze Schöpfung (Ps 104,29-30). Die ganze Welt ist erfüllt mit Gottes Gnade. Durch die Fleischwerdung haben wir alle in Christus "von seiner Fülle (…) genommen Gnade um Gnade" (Joh 1,16).

Durch Gottes Gnade wird die ganze Schöpfung erhalten, verwandelt, verklärt und in Einheit zusammengeführt. Gott ist in seiner Gnade Urheber aller Dinge. Doch die neue Menschheit in Christus, die durch Gottes Gnade erneuert, wiederhergestellt und verwandelt worden ist, hat von Gott den Auftrag erhalten, an seinem Werk der Heilung und Verwandlung der Welt teilzuhaben (1 Kor 3,9). Die Welt ist durch Gottes Gnade zur Verwandlung, Heilung und Versöhnung berufen, aber die Verantwortung für den Dienst der Verkündigung bleibt bei uns (Kol 1,23). Martyria, leitourgia, koinonia und diakonia der Kirche werden so zu einander ergänzenden Diensten, durch die Christen dem Wirken der Gnade Gottes in ihrem Leben - in Mission, Gebet und praktischem Handeln - Raum geben zur Verwandlung der Welt.

Aus solchen theologischen Gründen ist das Thema der Vollversammlung als Gebet formuliert worden. Dieses Gebet hält uns an, uns nicht länger anzumaßen, dass wir die Welt aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln verändern und verwandeln können. Gott schenkt uns seine Gnade aus freien Stücken, er verheißt der ganzen Menschheit und der ganzen Schöpfung Erlösung, aber er zwingt sie uns nicht auf, denn das Geheimnis der menschlichen Freiheit ist ebenfalls eine Gabe Gottes. Die gute Nachricht von Gottes Gnade deckt die Sündhaftigkeit des Menschen auf, die das Bild Gottes in anderen Menschen verzerrt und Gottes Schöpfung gnadenlos und grenzenlos ausbeutet. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass auch viele Christen nicht als befreite Kinder Gottes auf Gottes Gnade antworten (Röm 8,21; 1 Kor 7, 22-23).

Daher stellt das Vollversammlungsthema eine Einladung zu Reflexion und Verwandlung (metanoia) dar. Wir sind zunächst aufgerufen, Gottes Initiative und Wirken in allen Dingen zu erkennen, zu bekräftigen und dafür zu beten. Gleichzeitig sind wir aufgerufen, auf Gottes Initiative eine persönliche Antwort zu geben und als "neue Menschen", die durch Gottes Gnade erneuert worden sind, als Mitbürger Christi und als Hausgenossen Gottes zu handeln (Eph 2,19).

Das Vollversammlungsthema lädt uns ein, die Welt als Ort zu sehen, der von Gott geliebt und von seiner Gnade erfüllt wird. Mit den Augen des Glaubens gesehen, kann und muss diese Welt verwandelt werden: ungerechte Beziehungen müssen zu gerechteren Beziehungen werden, Umweltzerstörung zu Umweltschutz, eine Welt, die durch die tödlichen Konsequenzen der Sünde geprägt ist, zu einer Welt, die bereit ist, Leben aus der Hand Gottes zu empfangen. Es ist ein Wunder, das immer und immer wieder geschieht, wenn Menschen angesichts schwerster Bedrohungen ihres Lebens im Gottesdienst die Gegenwart und Macht der Gnade Gottes feiern. Gemeinsam mit ihnen beten wir: "In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt."

"Eine andere Welt ist möglich" lautete das Motto derer, die in Porto Alegre zum Weltsozialforum zusammengekommen waren, um sich der neoliberalen wirtschaftlichen Globalisierung zu widersetzen und nach Alternativen zu suchen. Die Christen haben sogar noch mehr Grund, nicht in Fatalismus zu verfallen, sondern zu sagen: Gott hat die Welt erschaffen und wird sich nie von ihr abwenden (1 Mose 1-2). Christus hat das Leiden einer Welt, die seufzt und sich nach Befreiung sehnt (Röm 8), in seinem Tod am Kreuz auf sich genommen. "Christus ist auferstanden, er ist wahrhaft auferstanden" - die Osterbotschaft ist Ausdruck der Sehnsucht und der Hoffnung, dass die Ketten der Sünde und des Todes für alle Menschen und die ganze Schöpfung gesprengt werden (Kol 1,15 ff). Die schöpferische, versöhnende und heilende Kraft des Heiligen Geistes verwandelt die Welt auch weiterhin als Atem der Liebe Gottes (agape), der Gottes verwandelnde Kraft der Gnade ist (Röm 8-11).

In dem Bewusstsein, dass alles Leben von Gott geschaffen ist und dass er es weiter erhält, bekräftigen wir die Heiligkeit allen Lebens und empfangen Gottes Gabe des Lebens, das wir mit allen anderen Geschöpfen und der ganzen Schöpfung teilen. Die Erde ist nicht unser Eigentum, sondern ist die gottgegebene Heimat aller Lebewesen, die im Gefüge des Lebens, der Erdengemeinschaft, miteinander verbunden sind (Ps 24,104). Nicht wir sind es, die das Leben erhalten, sondern Gott. All unsere menschliche Macht muss vor Gott rechenschaftspflichtig sein. Alles menschliche Tun muss die Logik und die Regeln (Ökologie und Ökonomie) von Gottes größerem Haushalt des Lebens (oikoumene) erkennen und anerkennen, der auf gerechten und tragfähigen Beziehungen aufbaut und so Frieden und das Gedeihen von Gemeinschaften möglich macht.

 

Die Zeichen der Zeit erkennen

Wenn wir versuchen, uns über unsere besonderen Aufgaben bei der Verwandlung der heutigen Welt klar zu werden, so ist es wichtig, dass wir dabei stets von unseren Glaubensüberzeugungen ausgehen und unser Handeln auf ein biblisches und theologisches Fundament stellen. Genauso wichtig ist es jedoch, dass wir den Kontext verstehen, in dem wir leben und arbeiten und den wir verändern wollen. Gott hat die Welt geliebt, obwohl sie sündig und gefallen war, und er hat sie durch Christus im Heiligen Geist erhoben, zusammen mit der Sünde und ihren Konsequenzen, um sie von innen her zu verwandeln und zu erlösen. Bevor Christen heute die Welt und ihre Abläufe in Frage stellen und dagegen ankämpfen, müssen sie sie zuerst verstehen und lieben, die Zeichen der Gegenwart Gottes erkennen und versuchen, auf diesem Fundament aufzubauen und die Welt durch Gottes Gnade zu verwandeln und zu versöhnen.

Erfolg oder Scheitern der ökumenischen Gespräche werden davon abhängen, ob es gelingt, dass Delegierte und Jugendliche in einen echten und engagierten Dialog über die Herausforderungen eintreten, mit denen wir als gläubige Menschen konfrontiert sind. Dies mag manchmal schwierig und sogar konfliktreich sein, aber es wird dazu beitragen, die Zeichen der Zeit zu erkennen und sehr viel besser zu verstehen, wie unterschiedlich Menschen die Auswirkungen des Wandels erleben, je nachdem, wo und wie sie in einer Welt leben, die zunehmend von Ungleichheit, Gewalt und Machtmissbrauch geprägt ist. Unterschiedliche Antworten auf ethische Herausforderungen, wie menschliche Sexualität oder Beginn und Ende des menschlichen Lebens, haben das gemeinsame Zeugnis innerhalb und auch unter den Kirchen ernsthaft untergraben. Durch ihre gemeinsame Teilnahme an den ökumenischen Gesprächen werden die Kirchen es lernen, besser zu verstehen, wie sie sich auf lokaler, nationaler, regionaler und internationaler Ebene gegenseitig solidarisch unterstützen können.

Diese Gespräche werden der Vollversammlung bei ihrer Aufgabe helfen, den Rahmen für die künftige Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) abzustecken und Richtlinien zu erarbeiten. Als Gemeinschaft von Kirchen, die sich verpflichtet haben, beieinander zu bleiben, gemeinsam zu beten und zu arbeiten und sich gegenseitig Rechenschaft abzulegen, wird der ÖRK seine Aufgabe nur erfüllen können, wenn das ihm von der Vollversammlung erteilte Mandat die gemeinsamen Anliegen der Mitgliedskirchen und ökumenischen Partner widerspiegelt, diese bei der Überwindung trennender Fragen unterstützt und ihr gemeinsames Zeugnis und Handeln stärkt. Der ÖRK kann nur die Aufgaben gut erfüllen, zu deren gemeinsamer Erfüllung die Kirchen entschlossen sind - in klarem Bewusstsein ihrer Vielfalt und Unterschiede.

 

Religiöser, kultureller und kirchlicher Kontext im Wandel: Christliche Identität und Mission in einer multikulturellen und multireligiösen Welt

  • In einer Welt, in der Globalisierung und kulturelle "Homogenisierung" einerseits zu Identitätsverlust und andererseits zu Zerbrochenheit und Fragmentierung führen, besteht die Mission der Kirche darin, Heilung und Versöhnung zu verkünden und Gemeinschaften zu schaffen, in denen die Saat der Heilung und Versöhnung aufgeht und konkret gelebt wird.
  • In den multikulturellen und multireligiösen Kontexten, in denen Christen heute überall auf der Welt leben, ist es dringend erforderlich, christliche Identität und Mission der Kirche neu zu definieren - sie nicht voneinander zu trennen oder abzugrenzen, sondern in Bezug zueinander zu setzen.
  • Eine Kirche, die sich selbst als Leib Christi versteht, als Gemeinschaft von Männern und Frauen, die durch Gottes Gnade erneuert sind und gleichberechtigt am Leben des einen, gemeinsamen Leibes teilhaben, muss aus den Erfahrungen von Frauen lernen. Frauen bringen mit ihren Erfahrungen eine Vision von Partnerschaft in das Streben nach Gerechtigkeit ein und vermitteln damit eine Vorstellung davon, wie Kirchesein aussehen kann.
  • Welche Rolle und welchen Platz nehmen Menschen mit Behinderungen in Leben und Mission einer Kirche ein, die von der biblischen Vision der Einheit des ganzen Kosmos in Christus erfüllt ist und sich selbst als Geheimnis und Samen dieser ganzheitlichen eschatologischen Wirklichkeit begreift?
  • Wenn wir uns heute mit anthropologischen Fragen befassen, so können wir nicht länger in dualistischen Kategorien denken und Themen meiden, die als tabu gelten, wie z.B. die Sexualität, die aber für die Ganzheitlichkeit des menschlichen Lebens von zentraler Bedeutung sind. Kirchen und Christen sind in solchen Fragen gespalten und treiben die Spaltungen weiter voran. Was von uns erwartet wird, ist eine verantwortliche Antwort, die sowohl biblisch und theologisch begründet ist als auch auf medizinischer, soziologischer und psychologischer Analyse und Reflexion aufbaut.
  • Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien haben alle Bereiche des Lebens durchdrungen. Die meisten Menschen und insbesondere die Jugendlichen sind von diesen Technologien beeinflusst, wenn nicht sogar abhängig. Welchen Platz nehmen diese Technologien insgesamt in Leben und Mission der Kirche heute ein, welche Rolle spielen sie?

Die Frage der Verwandlung, Heilung und Versöhnung steht in engem Zusammenhang mit der Frage der koinonia und ökumenischen Gemeinschaft. Wie werden diese dynamischen Beziehungen von den sich wandelnden ökumenischen Ansätzen im Verständnis von Ekklesiologie und Nachfolge beeinflusst und welchen Einfluss üben sie umgekehrt auf diese aus? Seit der Gründung des ÖRK ist die traditionelle Bedeutung und Zielsetzung der ökumenischen Bewegung immer wieder hinterfragt, ausgeweitet, umgestaltet und neu formuliert worden. Das ÖRK-Dokument Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis und einer gemeinsamen Vision stellte den Versuch dar, die verschiedenen Bedeutungen und Ziele der oikoumene zusammenhängend darzustellen und zu erläutern, was die Menschen heute von ihr erwarten. Dieser Reflexionsprozess dauert an und es ist dringend erforderlich, dass wir eine klare ökumenische Vision für unsere Zeit entfalten.

  • Welche Bedeutung hat das Streben nach Einheit in einer Welt, die in einer Kultur der Gewalt gefangen ist und immer ausgefeiltere Massenzerstörungswaffen in ihren Besitz bringen will, und welche Form nimmt es an? Was bedeutet Menschlichkeit in einer Zeit, in der die Macht der Reichen wächst, Migranten diskriminiert und grundlegende ethische Kategorien in Theorie und Praxis in Frage gestellt werden?
  • Welche neuen Formen von Ökumene und ökumenischer Zusammenarbeit werden die Menschen in der heutigen Zeit motivieren und inspirieren:
    - in einer Zeit, in der die institutionellen ökumenischen Strukturen in Frage gestellt und die Notwendigkeit einer Neugestaltung zum Ausdruck gebracht wird; einer Zeit, in der eine postkonfessionelle Basisökumene entsteht und in der viele Menschen nach erfahrungsbezogeneren Ausdrucksformen des Glaubens suchen?
    - in einer Zeit, in der viele Christen und insbesondere die Jugend sich nach einer tieferen Spiritualität und authentischeren Ausdrucksformen des Glaubens sehnen?
    - in einer Zeit, in der evangelikal, pfingstlich und charismatisch geprägte Christen ihre eigenen zwischenkirchlichen Strukturen entwickeln und das ökumenische Streben nach Einheit, Zusammenarbeit und Dienst mit Interesse und wachsender Bereitschaft zur Mitarbeit verfolgen?
  • Wie kann die Gemeinschaft von Kirchen sich zusammen mit kirchlichen Diensten und Werken und lokalen Gemeinschaften und Organisationen für die Linderung von Leid und Not der Menschen einsetzen, wenn die traditionelle christliche Zusammenarbeit und Diakonie durch den Wettbewerb um Mittel seitens der verschiedenen Akteure, die in der Entwicklungsarbeit tätig sind, in Frage gestellt werden?
  • Seit den Anfängen der ökumenischen Bewegung war die Jugendbewegung der Motor, der die Ökumene angetrieben und ihre Flamme hell zum Leuchten gebracht hat. Welche Rolle könnten die jungen Menschen, einschließlich Studierende und andere Laien/innen, bei der Verwandlung der ökumenischen Landschaft heute spielen?
  • Mit welchen Inhalten und Methoden könnte die ökumenische Bildungsarbeit die Menschen heute ansprechen und prägen?

 

Internationaler politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kontext im Wandel: die Herausforderung der wirtschaftlichen Globalisierung und des "Empire"

Gerechtigkeit als Wesensmerkmal der Liebe Gottes trieb die Propheten dazu an, vor den zerstörerischen Folgen von Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch für Menschen und Schöpfung zu warnen. Die prophetische Vision vom guten Leben wurzelte in Gottes bevorzugter Option für die Armen, die Herzstück der Geschichten von Israels Befreiung aus der Sklaverei ist, und in der Sabbat- und Erlassjahrvision von Gottes guter Schöpfung (2 Mose 21; 3. Mose 25; 5. Mose 15; Jes 61). Jesus bekräftigt diese Vision, indem er das Gnadenjahr des Herrn verkündet (Lk 4) und seine Jünger lehrt, sich von Ungerechtigkeit, Habgier und Zukunftsangst frei zu machen (Mt 6,19ff), Gott zu dienen und nicht dem Mammon (Mt 6,24), auf Gottes Liebe und seine Fürsorge für alle Lebewesen zu vertrauen (Mt 6,25ff) und "zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit [zu trachten]" (Mt 6,33). Jesus verkörpert das Brot und das Wasser des Lebens (Joh 6,22ff; 7,37ff). Sein Leib wird dahingegeben, und sein Blut wird vergossen (Lk 22,14ff), damit alle das Leben und volle Genüge haben sollen (Joh 10,10). Da das Evangelium die Liebe Gottes verkündet, die in Christus offenbart worden ist, deckt es auch die menschliche Sünde in ihrer ganzen Tiefe auf, die zu Tod und Zerstörung führt, und fordert verwandelnde Gerechtigkeit und sorgsamen Umgang mit der Erde.

Aber was bedeutet es, diese Werte in einem sich wandelnden internationalen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext zu bekräftigen? Die wirtschaftliche Globalisierung und eine neue geopolitische Konstellation haben massive Auswirkungen auf das Leben von Menschen in allen Teilen der Welt. Sehr oft stellen diese Kräfte in Abrede, dass die Weltgemeinschaft dringend gegen wachsende Ungleichheit und Armut, Kriege und Umweltbedrohungen vorgehen muss, die durch die Ausbreitung von Krankheiten und die tödliche Gefährdung und Fragmentierung von Gemeinschaften infolge von HIV/AIDS zusätzlich verschärft werden. Es gibt tief sitzende Verlustängste - insbesondere bei denen, die von dem ungleich verteilten Wirtschaftswachstum und der Anhäufung von Reichtum auf Kosten der Armen und der Natur profitieren. Wie kann bewirkt werden, dass die Vision vom Leben als Geschenk der Gnade Gottes die Menschen ermutigt, darauf zu vertrauen, dass ihre Lebensqualität sehr wohl steigen kann, wenn der Wettlauf um die Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen von immer weniger Menschen beendet wird, sodass sie beginnen, sich dem ständigen Streben nach mehr Wirtschaftswachstum und Machtmissbrauch zu widersetzen?

  • Wie gehen die Kirchen mit unterschiedlichen Machtbeziehungen und -strukturen um, die Auswirkungen auf das Leben und die Lebensgrundlagen von Menschen auf lokaler, aber auch auf nationaler und internationaler Ebene haben, z.B. die internationalen Militärbündnisse, die Vereinten Nationen, internationale Finanzinstitutionen oder die Welthandelsorganisation?
  • Wie können sie den Mächtigen die Wahrheit sagen in einem Kontext, in dem politische, militärische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Machtstrukturen im Interesse hegemonialer, imperialer Machtausübung zunehmend Verbindungen untereinander eingehen?
  • Wie können menschliches Leben und Menschenwürde vor den Auswirkungen zunehmender Gewalt geschützt werden? Welche neuen Friedensbedrohungen gibt es, die die Sicherheit und das zukünftige Leben von Gemeinschaften untergraben?
  • Sind die Kirchen in der Lage, in einem so stark von Gewalt und Konkurrenzdenken geprägten Umfeld, in dem das Leben systematisch abgewertet wird, offene und gastfreundliche Gemeinschaften aufzubauen?
  • Welches ist die wahre Rolle der Religion im politischen und öffentlichen Leben? Welches sind die zahlreichen Gefahren, denen die Religion in der Politik zum Opfer fallen kann, und wie kann die Religion manipuliert und dazu missbraucht werden, der berechtigten Kritik der Kirchen entgegenzuwirken und ihr den Boden zu entziehen?
  • Trotz aller Versprechungen derer, die das vorherrschende wirtschaftliche Paradigma weiterhin verteidigen, ist der Skandal der Armut und der zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichheit für Millionen, ja Milliarden von Kindern, Frauen und Männern - die unsere Schwester und Brüder sind - eine tödliche Realität. Wie können die Kirchen ihrer prophetischen Stimme bei der Suche nach gerechten wirtschaftlichen und politischen Strukturen und einem geeigneten institutionellen Rahmen mehr Nachdruck verleihen und ihre ökumenische Zusammenarbeit wirksamer gestalten?
  • Bei dieser Frage geht es auch um die Rolle von Wissenschaft und Technologie, die die Kirchen in ihrem Zeugnis von der Heiligkeit des Lebens vor eine große Herausforderung stellen.
  • Ferner geht es um die lebenswichtige Bedeutung der Ressourcen der Erde, die wir schützen und nicht ausplündern sollen. Welche Rolle kommt den indigenen Völkern, Frauen und Randgruppen bei alledem zu?
  • In welcher Weise werden Ungerechtigkeit und Ungleichheit durch Rassismus, Kastenwesen und andere Formen der Diskriminierung gerechtfertigt und weiter verstärkt?
  • Inwiefern sind Kinder und Frauen davon betroffen und in welcher Weise leiden sie konkret unter der Gewalt und den zahlreichen Problemen, deren Hauptlast sie tragen?

Bei alledem geht es zentral um Fragen der Macht und der strukturellen Ungerechtigkeit, die wir verstehen und aktiv angehen müssen.

 

Erneuerung unserer ökumenischen Verpflichtung

Wenn wir während der Vollversammlung zu ökumenischen Gesprächen zusammenkommen und uns mit den Herausforderungen beschäftigen, vor denen die Kirchen heute gemeinsam stehen, dann wollen wir damit erreichen, dass Christen aus verschiedenen Teilen der Welt sich über ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Aktivitäten, ihre Freuden, Frustrationen, Erfolge und Misserfolge austauschen und voneinander lernen können. Wir hoffen, dass dies ihre Gemeinschaft und ihren Willen stärken wird, beieinander zu bleiben und sich gemeinsam für die Erneuerung und die Verwandlung der Kirchen und der Welt einzusetzen. Das Mandat, das die Vollversammlung dem ÖRK für seine künftige Arbeit erteilen wird, wird nur dann wirklich relevant und schlüssig sein, wenn es aus einer erneuerten Verpflichtung der Kirchen gegenüber ihrer ökumenischen Berufung erwächst. Wenn wir "In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt" beten, sprechen wir auch das Gebet Jesu Christi, "damit sie alle eins seien" (Joh 17,20).