Wenn christliche Solidarität Schaden nimmt

Eine pastorale und informative Stellungnahme zu sexueller Belästigung

Christliche Gemeinschaft und Solidarität

Und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit wird ewige Stille und Sicherheit sein (Jes 32,17).

Für Christen ist die Würde aller Menschen darin begründet, dass sie nach dem Bilde Gottes geschaffen sind. Bei ökumenischen Zusammenkünften sorgt eine offene und gastfreundliche Atmosphäre dafür, dass alle in vollem Umfang und gleichberechtigt mitwirken können. Der ÖRK ist bemüht, eine auf Solidarität und gegenseitiger Fürsorge beruhende Gemeinschaft aufzubauen, die sich gegen jede Form von Gewalt und Belästigung wendet. Der ÖRK fühlt sich verpflichtet, das Bewusstsein für sexuelle Belästigung zu schärfen, um Vorkommnisse dieser Art zu vermeiden und einen sicheren Raum zu schaffen, in dem alle Teilnehmenden sich frei von jeder Einschüchterung bewegen können. Wenn menschliche Sünde das Vertrauen in diese Gemeinschaft zerstört, sind wir als Christen und Christinnen aufgerufen, einander Beistand zu leisten und besonders denen zur Seite zu stehen, die um ihre Sicherheit, Würde und Rechte kämpfen. Gottes ruft uns zu einem Leben in rechten Beziehungen zueinander - zum fürsorglichen und respektvollen Umgang mit jedem Menschen.

Kulturelle Verschiedenheit

Unsere kulturelle Vielfalt ist ein Faktor, der zur Stärkung unserer Gemeinschaft beiträgt. Wir schätzen sie zu Recht und dürfen stolz darauf sein. Doch wenn wir bei unseren Begegnungen auf diese Unterschiede stoßen, sollten wir nicht davon ausgehen, dass unsere eigene Lebens- und Verhaltensweise für andere ohne weiteres einsichtig ist oder sie anspricht. Es kann geschehen, dass Unterschiede wie Alter, Geschlecht, Kultur, Spiritualität, Religion, geistige oder körperliche Fähigkeit, Sprache, Kaste, ethnische Abstammung oder Klassenzugehörigkeit ein gegenseitiges Verständnis und eine wirkliche Kommunikation zu einer echten Herausforderung werden lassen. Wie kann ein/e jede/r von uns dazu ermutigt werden, die eigene Verantwortung ernst zu nehmen und sich bei den vielschichtigen und multikulturellen Beziehungen und Begegnungen in der Ökumene mit dem nötigen Feingefühl zu bewegen? Was einer Person als Zeichen eines normalen freundschaftlichen, ungezwungenen Umgangs gilt, kann in einer kulturell gemischten Gruppe, mitunter selbst unter Angehörigen derselben Kultur bzw. derselben Herkunft, Missverständnisse erzeugen. Deswegen sollten wir in einem ökumenischen Umfeld besonders sorgfältig und sensibel miteinander umgehen. Die ökumenische Gemeinschaft steht vor der Aufgabe, angemessene Ausdrucksformen für die Freundschaft und menschliche Wärme zu finden, die wir füreinander empfinden, Ausdrucksformen, die als positiv und unbedrohlich erlebt werden.

Gewalt und Macht

Belästigung ist Ausdruck eines ungleichen Machtverhältnisses zwischen Menschen. Zur sexuellen Belästigung zählt auch die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Alter, Rasse oder Klasse, die das Opfer stark belastet und erniedrigt. Dazu kann es in Situationen kommen, in denen Überlegenheit und Machtmissbrauch zu mangelnder Achtung und zur Behandlung von Menschen als sexuelle Objekte führen. Ein solches Verhalten erniedrigt und zerstört letztlich die Würde der Person. Erfahrungsgemäß sind es meist Frauen, die das Gefühl haben, von Männern sexuell belästigt zu werden. Solche Belästigungen lassen sich nicht als isolierter Fall oder als persönliches Problem abtun. Es ist vielmehr ein Problem, das auf allgemeinere Verhaltensmuster und gesellschaftlich verbreitete Formen von Machtdynamik hinweist. Belästigung kann sich aber auch unter Personen desselben Geschlechts ereignen, und bisweilen fühlen sich Männer von Frauen belästigt.

Die Dekade zur Überwindung von Gewalt: Kirchen für Frieden und Versöhnung setzt die Verpflichtung der Kirchen in aller Welt fort, die institutionelle und individuelle Gewalt gegen Frauen zu überwinden. Sexuelle Belästigung hat sich als verbreitetste Ausdrucksform dieser Gewalt erwiesen. Fälle von sexueller Belästigung oder Gewalt bei kirchlichen und ökumenischen Tagungen haben die Kirchen und die ökumenische Bewegung veranlasst, sich um verantwortungsbewusste Reaktionen und Handlungsanweisungen zu bemühen. Viele Kirchen, Organisationen und Regierungen haben institutionelle und juristische Maßnahmen zum Schutz derer ergriffen, die Opfer der entmenschlichenden Auswirkung von Gewalt und sexueller Belästigung geworden sind.

Diese Richtlinien sollen eine positive Grundlage zur Gestaltung einer christlichen Gemeinschaft im Zeichen der Solidarität bilden, auch wenn diese Solidarität unter uns Schaden genommen hat. Sie sollen Männer ermutigen, über ihre Einstellung zu Frauen nachzudenken, und Privilegierte aufgrund ihrer Rasse oder Klasse, ihres Geschlechts, ihres sozialen Status, ihrer Führungsposition und ihres Alters veranlassen, über den Geist der Gerechtigkeit und Gemeinschaft nachzudenken, wofür die ökumenische Bewegung steht. Diese Richtlinien verfolgen auch das Ziel, Einzelpersonen zu motivieren, ihre Würde geltend zu machen und zur Erneuerung der Gemeinschaft beizutragen. Was können wir selbst in unserem Gottesdienst, bei unserer Arbeit und auf unseren Tagungen tun, damit eine versöhnte Gemeinschaft entsteht, in der wir einander achten und in der freien Entfaltung nicht behindern?

Was ist unter sexueller Belästigung und Aggression zu verstehen?

Sexuelle Belästigung reicht vom Pfeifen auf der Strasse und obszönen Telefonanrufen bis hin zur sexuellen Aggression. Sexuelle Gewalt schließt Vergewaltigung, Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung sowie sexuelle Berührung ohne Einwilligung ein.

Mehrere Verhaltensweisen mit sexuellem Unterton können Formen sexueller Belästigung sein, wenn sie unaufgefordert und unerwünscht sind und besonders wenn sie wiederholt werden. So zum Beispiel anzügliche Blicke oder Bemerkungen, Neckereien oder Witze sexuellen Inhalts, Briefe, Anrufe oder Material sexuellen Charakters, ungefragtes Anfassen oder Annähern, Drängen auf Verabredungen oder Aktivitäten, die zweifelhafte Absichten vermuten lassen, oder das Angebot, gegen sexuelle Vergünstigungen seinen Einfluss geltend zu machen.

Entscheidend ist der persönliche Eindruck, die Tatsache, dass jemand die Verhaltensweise einer anderen Person als unerwünscht erfährt. Dieses Urteil mag jedoch von Person zu Person verschieden sein und vom jeweiligen Kontext abhängen. Anders ausgedrückt: Belästigung ist nicht unbedingt etwas, was eine Person zu tun beabsichtigt, sondern hat etwas mit der Frage zu tun, wie sich die Verhaltensweise einer Person auf das Empfinden und die Integrität einer anderen Person auswirkt.

Einige Hinweise zur Vermeidung und zum Umgang mit sexueller Belästigung

  • Seien Sie sich Ihrer persönlichen Grenzen bewusst, die Sie für sich selbst im Kontakt mit anderen Personen setzen: welcher Ausdruck menschlicher Nähe ist für Sie der angemessene Ausdruck, bei dem Sie sich wohl fühlen?
  • Weisen Sie jede unangebrachte Geste oder Berührung zurück.
  • Achten Sie die persönlichen Grenzen der anderen. Sind Sie sich nicht sicher, fragen Sie die Person (z. B. "Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie freundschaftlich umarme?")
  • Sollten Sie belästigt werden, machen Sie dem Belästiger klar, dass sein Verhalten unerwünscht ist. Sie können mit einem Blick, mit Gesten oder mit Worten "nein" sagen.
  • Belästigung ist nie die Schuld der belästigten Person. Belästigung ist wesenhaft eine Form unerwünschter Verhaltensweise oder Zudringlichkeit. Sie hat nichts mit Zustimmung oder Einverständnis zu tun.
  • Geht die Belästigung weiter und befinden Sie sich an einem öffentlichen Ort, protestieren Sie lauter, damit die Umstehenden aufmerksam werden.
  • Vertrauen Sie auf Ihre Empfindung und Ihre Wahrnehmung, wenn das Verhalten einer anderen Person bei Ihnen Unbehagen auslöst. Menschen, die belästigt wurden, versuchen manchmal, eine rationale Erklärung für ihre Erfahrung zu finden oder das Ereignis vor sich zu verheimlichen.
  • Sprechen Sie darüber mit Menschen, denen Sie vertrauen, damit der Name des Belästigers und sein anstößiges Verhalten bekannt wird. Dies ist wichtig, wenn Sie vermeiden wollen, dass es anderen Personen ähnlich ergeht. Schweigen kann wie eine Einladung zu weiterer Belästigung verstanden werden.
  • Bei ernsthaften Fällen, in denen sich ein rechtliches Vorgehen oder andere Maßnahmen aufdrängen, kann ein mündlicher oder schriftlicher Bericht über die Vorgänge nützlich sein.
  • Wenn Sie direkt oder indirekt Zeuge eines Aktes der Belästigung sind, umgeben Sie dieses Wissen nicht mit Schweigen. Gehen Sie auf die belästigte Person zu und fragen Sie sie, ob und wie Sie ihr helfen können. Sagen Sie es der belästigenden Person auf den Kopf zu, dass ihr Verhalten und ihre Worte anstößig sind und bei allen Beteiligten Unbehagen auslösen. In ernsten Fällen zögern Sie nicht, Hilfe herbeizurufen.
  • Sollten Sie persönlich Opfer einer Belästigung sein, wenden Sie sich bitte an das Solidaritätsteam, das in solchen Fällen einen geschützten Raum für Sie bereitstellt, wo Sie Ihre Situation und Ihre Empfindungen artikulieren können. Das Team wird Sie unterstützen und kann für die Zeit nach Ihrer Heimkehr angemessene Maßnahmen in die Wege leiten (indem es Sie z.B. über eine Ortsgemeinde mit einem örtlichen Beratungszentrum gegen sexuelle Belästigung und Aggression bzw. mit einer Solidaritätsgruppe in Verbindung bringt).

 

Schlusswort

Die Kirchen und der Ökumenische Rat der Kirchen sind aufgerufen, eine wahrhaft inklusive Gemeinschaft aufzubauen, die frei von Gewalt und Ungerechtigkeit ist. Sexuelle Belästigung und jede Form von Gewalt dürfen weder geduldet noch entschuldigt werden. Die Täter werden für ihr Verhalten verantwortlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden.

Räumlichkeiten und Mitglieder des Solidaritätsteams werden auf der Vollversammlung bekannt gegeben.