Gedanken eines protestantischen Missionars
Prof. Dr. Assaad Elias Kattan, Wilhelms-Universität Münster

Ein Missionar erzählt: 

1. Ich bin ein Missionar. Mein Vater war Missionar, mein Großvater auch. Ich bin ein protestantischer Missionar. Ich könnte aber durchaus katholischer oder orthodoxer Missionar sein. Gerade heute scheint die Konfessionszugehörigkeit keinen erheblichen Unterschied mehr zu machen. Denn im 3. Jahrtausend wird es sicherlich viel weniger darum gehen, welche christliche Konfession zahlenmäßig am verbreitesten ist, als darum, ob das Christentum überhaupt den Ton angibt.1

2. Ich bin ein Missionar. Meine Familie besteht fast nur aus Missionaren. Einer meiner Vorfahren kam in den Vorderen Orient - wo wir alle später lebten -, um den dortigen Muslimen das Evangelium zu predigen. Leider - oder vielleicht zum Glück - hatten die westlichen Missionare bei den Muslimen kaum Erfolg. Daraufhin wandten sich meine Vorfahren den einheimischen Christen zu. Eigentlich meinten sie es gut; sie waren voller Eifer, obwohl sie bisweilen dazu tendierten, das Evangelium mit seiner Ausformung in ihrer eigenen Kultur zu identifizieren. Viele Einheimische im Nahen Osten erkennen heute an, dass die Missionare bleibende Spuren hinterließen, was Bildung, Freiheit und Demokratie anbelangt. Sie meinten es gut, meine Vorfahren; so gut, dass einige von ihnen sogar die Meinung vertraten, allein den einheimischen Christen kann es gelingen, die Muslime zu evangelisieren. Denn sie haben mit den Muslimen Sprache und Kultur gemeinsam. Dafür müssten aber die einheimischen Kirchen selber reformiert werden, da das Evangelium im Laufe der Zeit durch die vielfältigen Traditionen entstellt worden sei. Gerade die Tatsache, dass die einheimischen Christen den Bildern von Jesus, Maria und den Heiligen zugetan waren, erachteten meine Vorfahren als ein ernsthaftes Hindernis, die Muslime von der offenkundigen Wahrheit des Christentums zu überzeugen.2 Dabei handelt es sich um eine Logik, die sicherlich kein vernünftiger Protestant heute akzeptieren würde. Denn die Zeiten der protestantischen Bilderfeindlichkeit sowie der christlichen Verherrlichung der eigenen Kultur sind vorbei. Trotzdem meinten sie es gut, meine Vorfahren. Eins haben sie aber übersehen. Zwar wollte sich eine beträchtliche Anzahl von einheimischen Christen in der Tat reformieren lassen, ganz wenige aber hatten Interesse, die Muslime zu Christen zu machen. Natürlich war ihre Geschichte mit den Muslimen nicht immer Milch und Honig. Und viele von ihnen, die heute versuchen, in Auseinandersetzung mit dem Abendland diese Geschichte zu idealisieren, tun nichts anderes als einen Mythos zu konstruieren, einen Mythos, der entmythologisiert werden muss. Doch trotz der Spannungen mit den Muslimen, trotz gelegentlicher Verfolgungen und Massaker, waren die einheimischen Christen zufrieden mit ihren muslimischen Nachbarn, wie sie sind. Und diese Nachbarn kamen öfters zu ihnen, nicht nur um "heimlich" Wein trinken zu können, sondern manchmal auch um mit zu beten.

3. Ich bin ein Missionar. Es ist keine Frage, dass unsere missionarische Tätigkeit den Einheimischen im Vorderen Orient, egal ob sie Christen, Muslime oder Juden waren, zugute kam. Wir übersetzten die Bibel ins Arabische und riefen dadurch eine neue Blüte der arabischen Sprache und Literatur hervor. Wir eröffneten Schulen, Universitäten und Krankenhäuser und vermittelten so die Werte des Evangeliums durch Menschen, die vom lebendigen Geist Gottes getragen waren. Ich muss aber gestehen, dass der Lernprozess gegenseitig war. In diesem Zusammenhang kann ich zwar von Vielem erzählen, was ich von meinem Vater und Großvater gehört habe. Ich werde mich aber auf einiges beschränken, was ich persönlich erlebt habe. Durch mein Missionar-Sein im Nahen Osten kam ich mehrmals in Berührung mit arabischer Literatur. Einer der arabischen Christen dort schrieb einen schönen Roman, in dem er sich an einem liturgischen Lied orientiert, das in der Orthodoxen Kirche byzantinischen Ritus am Karfreitag gesungen wird.3 In diesem Lied wendet sich Josef von Arimathäa an Pilatus, um ihn um Jesu Leib zu bitten, mit fiktiven Worten, die den verstorbenen Herrn als Fremdling darstellen:

gib mir den Fremdling,

fremd wie ein Fremdling von Kindheit an

gib mir den Fremdling,

getötet als Fremdling,

gib mir den Fremdling,

mich erstaunt, dass er ein Gast des Todes ist

Was ich sehr beeindruckend in diesem Lied finde, ist, dass Jesus als Fremdling nicht nur am Tage seines Todes wahrgenommen wird, als hätten alle lebendigen Menschen versagt, ihn zu empfangen, als wäre ihm nichts übrig geblieben, außer im Reich des Todes Gastfreundschaft zu suchen, sondern auch dass er von Kindheit an als Fremdling dargestellt wird. Jesu Fremdsein war also nicht situationsbedingt, sondern ein Dauerzustand. Ich denke, der Grund, weshalb ich dieses Bild in Erinnerung behalte, hängt damit zusammen, dass unser Dasein als Missionare stark vom Parameter "Fremdsein" bestimmt ist. Wir sind fremd, leben in der Fremde, werden als Fremde wahrgenommen. Doch die Wirklichkeit, mit der wir zu tun haben, ist auch fremd. In ihr wird immer ein Stück Fremdheit bleiben trotz all unserer Mühen, sich auf das Fremde einzulassen, um es vertrauter zu machen. Jesus aber, der in diesem Lied als Fremdling erscheint, identifiziert sich nicht nur mit uns Missionaren, die ohnehin in der Fremde leben, sondern auch mit jenen Menschen, denen wir begegnen und die uns fremd vorkommen, egal zu welchem Kulturkreis sie gehören.

4. Ich bin ein Missionar, der - wahrscheinlich wie viele andere Missionare - sich immer wieder Gedanken darüber macht, was christliche Identität im Gegenüber zu den anderen Religionen bedeutet. Wie verhält sich die eigene Perspektive zu den Perspektiven anderer, der eigene Ort zu den Orten anderer, der eigene Glaube zu den Glaubensrichtungen anderer? Und genau so wie viele andere Missionare habe ich trotz tiefer Zuversicht auf das Evangelium keine klare Antwort, sondern fühle in mir meistens Zerissenheit, die mit Hunderten von Fragen verwoben ist, als "offenbarte sich Jesus, indem er sich verbirgt, und verbärge er sich, indem er sich offenbart".4 Eines weiss ich aber: Wenn ein Mensch in den Tod Jesu Christi hinein getauft wird, dann begegnet er dem Gekreuzigten. Man male sich diese Begegnung in der Phantasie aus. Der Täufling wird nach Golgatha versetzt. Er sucht Jesus von Nazareth den Gekreuzigten, um sein Sterben zu sterben. Und was sieht er dort? Am Kreuz ist der Nazarener nicht allein. Neben ihm stehen zwei andere Kreuze, zwei Kreuze mit unbekannten Gesichtern. Es geschieht alles sehr schnell: das bittere Getränk, die Gottverlassenheit, der Schrei. Und dann werden alle drei Kreuze vom Schweigen Gottes verschlungen wie von einer alttestamentlichen Wolke, die ein fremdes Volk durch die Wüste begleitet und das Auferstehungslicht voraussagt. Manch ein Missionar hat im Laufe der Zeit ein Gespür für die Kraft Gottes entwickelt, die sich zuweilen, wie am Kreuz, im Schweigen zu erkennen gibt; in unserem Schweigen, im Schweigen der Ereignisse, die nicht verdient haben, in den Geschichtsbüchern erwähnt zu werden, im Schweigen unserer versagenden kirchlichen Institutionen, im Schweigen, das aus der Fremdheit anderer Religionen hervorgeht.

5. Wir Christen haben es schwer, unsere Identität eindeutig zu definieren. Mir scheint aber, dass das Kreuzesgeschehen, zu dem wir uns alle bekennen, uns in die Lage versetzen kann, Fremdheit, Zerrissenheit und Schweigen in diese Identität zu integrieren. Und gerade hier kann sich eine Tür auftun für die anderen, die draußen stehen. Ein Versuch, die christliche Identität zu bestimmen, darf am Kreuz nie vorbeigehen.

1 Vgl. Ulrich Schoen, Die Fliehkraft und die Schwerkraft Gottes: Ausbreitung der Christenheit und Begegnung der Religionen in den letzten zweitausend Jahren I, Münster 2003, p. 17-20 (Ecumenical Studies 23).

2 Vgl. Henry Harris Jessup, The Greek Church and Protestant Missions or Missions to the Oritental Churches, Beirut-Syria 1891.

3 Vgl. Elias Khoury, Königreich der Fremdlinge, Berlin 1998, Das Arabische Buch.

4 Maximus Confessor, Ambiguum ad Ioannem 10: Andrew Louth, Maximus the Confessor, p. 110 (The Early Church Fathers).