Der folgende Bericht wurde der Vollversammlung vorgelegt und von ihr entgegengenommen. Die darin enthaltenen Beschlussfassungen wurden vom Ausschuss für öffentliche Angelegenheiten vorgeschlagen und von der Vollversammlung im Konsens gebilligt. Abweichende Meinungen von Vollversammlungsdelegierten erscheinen als Endnoten.

Einleitung

1. Im Januar 2001 nahm der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) das Dokument "Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt: Ein ökumenischer ethischer Ansatz" entgegen. Das Dokument, in dem die Kirchen aufgerufen wurden, sich weiter mit der Thematik auseinanderzusetzen, leitete innerhalb des ÖRK auch einen von der Kommission der Kirchen für Internationale Angelegenheiten getragenen Studien- und Beratungsprozess ein. Eine vertiefte Reflexion über die ethischen und theologischen Aspekte der Schutzpflicht ist nicht nur für die Kirchen von Belang. Bei einem Zusammentreffen mit Pfr. Dr. Konrad Raiser, dem damaligen Generalsekretär des ÖRK, 1999 in New York City, richtete UN-Generalsekretär Kofi Annan die Bitte an ihn, einen Beitrag zur internationalen Debatte über "humanitäre Intervention" zu leisten und so die Frage der Intervention zu humanitären Zwecken aus theologisch-ethischer Perspektive zu betrachten.

2. Die Anwendung von Gewalt zu humanitären Zwecken wird in intellektuellen wie politischen Kreisen vorwiegend kontrovers diskutiert. Einerseits wird die Meinung vertreten, Gewalt dürfe nicht ausgeschlossen werden, wenn mit ihr massive Menschenrechtsverletzungen eingedämmt bzw. beendet werden können. Andere unterstützen ausschliesslich eine Intervention unter Einsatz kreativer, gewaltloser Mittel. Wieder andere geben territorialer Integrität und Souveränität sehr hohe Priorität. Die Kirchen beteiligen sich inzwischen zwangsläufig auch an der Debatte. Das "Trilemma", mit dem die Mitglieder des ÖRK gegenwärtig konfrontiert sind, besteht seit den Anfängen der ökumenischen Bewegung. Bei der ersten Vollversammlung des ÖRK wurden 1948 in Amsterdam erneut die unterschiedlichen Positionen formuliert:

"a) Da sind zunächst jene, die die Überzeugung haben, dass, wenn der Christ auch unter bestimmten Umständen wird in den Krieg ziehen müssen, ein moderner Krieg mit seinen allumfassenden Zerstörungen niemals ein Akt der Gerechtigkeit sein kann.

Da es gegenwärtig unparteiische, übernationale Instanzen nicht gibt, so meinen andere, militärische Maßnahmen seinen das letzte Mittel, um dem Recht Geltung zu verschaffen, und man müsse die Staatsbürger klar und deutlich lehren, dass es ihre Pflicht ist, das Recht mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.

Wieder andere lehnen jeden Kriegsdienst irgendwelcher Art ab und sind überzeugt, dass Gott von ihnen verlangt, bedingungslos gegen den Krieg und für den Frieden Stellung zu nehmen, und nach ihrer Meinung müsste die Kirche im gleichen Sinn sprechen."

3. Von jeher hat es Kirchen gegeben, die militärische Interventionen legitimierten, und dies führte zu katastrophalen Kriegen. Vielfach gestanden die Kirchen später ihre Schuld ein. Im 20. Jahrhundert wurden sich die Kirchen ihrer Berufung zu einem Dienst der Heilung und Versöhnung über nationale Grenzen hinaus stärker bewusst. Die Schaffung des ÖRK kann als ein Ergebnis dieser Neubesinnung interpretiert werden. Im Neuen Testament ruft uns Jesus auf, über die Nächstenliebe hinaus auch unsere Feinde zu lieben. Dieses Gebot gründet in Gott, der Liebe ist, und in der höchsten Offenbarung dieser Liebe im Tod Jesu Christi für alle Menschen, darin, dass Jesus ihre Feindseligkeit erduldete und Barmherzigkeit, nicht Vergeltung übt (Röm 5,10; Lk 6,36). Das Verbot zu töten bildet den Kern jeglicher christlichen Ethik (Mt 5,21-22). Gleichzeitig formulieren jedoch die biblischen Zeugnisse eine Anthropologie, die die menschliche Fähigkeit, Böses zu tun, aus der Perspektive der Gefallenheit der Menschheit (Gen 40) betrachtet. An Christen richtet sich hier die Herausforderung, trotz aller Gewalt den Frieden zu suchen.

4. Die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates bekennen sich gemeinsam zum Vorrang der Gewaltlosigkeit und begründen dies mit ihrer Überzeugung, dass jeder Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist und seine menschliche Natur ihn mit Jesus verbindet, der sie in seiner Inkarnation ebenfalls angenommen hat. Diese Haltung findet sich auch in den Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Der ÖRK hat auf dieser Grundlage, parallel zur "Dekade für eine Kultur des Friedens, 2001-2010" der Vereinten Nationen, eine ökumenische "Dekade zur Überwindung von Gewalt: Kirchen für Frieden und Versöhnung 2001-2010" initiiert. In den Schwächsten wird Christus für uns sichtbar (Mt 25,40). Die Pflicht, sie zu schützen, reicht weit über die Grenzen von Staaten oder Glaubenstraditionen hinaus. In der Perspektive der Welt als das eine Haus Gottes, der der Schöpfer aller Dinge ist, ist sie ökumenische Pflicht. Die Kirchen würdigen das starke Zeugnis der vielen Menschen, die sich die Pflicht, diejenigen gewaltlos zu schützen, die schwach, arm und bedroht sind, zu eigen gemacht und ihren Einsatz mitunter mit ihrem Leben bezahlt haben.

Von der "humanitären Intervention" zur "Schutzpflicht"

5. Das Konzept der Schutzpflicht wurde von der Internationalen Kommission über Intervention und Staatensouveränität in deren Bericht vom Dezember 2001 entwickelt. Damit verlagerte sich die Diskussion von der Perspektive der Intervenierenden hin zur Perspektive der Menschen in Not, wobei gleichzeitig Souveränität als Status definiert wurde, der mit bestimmten Pflichten einhergeht, anstatt als absolute Macht. Dieses innovative Konzept stellt die Bedürfnisse und Rechte der Zivilbevölkerung und die Pflichten des Souveränitätsträgers in den Mittelpunkt, nicht nur dessen Rechte. Somit rückt die Verlagerung von der Intervention hin zum Schutz die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum der Debatte. Staaten können Souveränität nicht mehr als Vorwand anführen, um völlig straflos die Menschenrechte ihrer Bürger zu verletzen.

6. Die Kirchen unterstützen die in der Entstehung begriffene internationale Norm der Schutzpflicht, nach der den Regierungen eindeutig die vorrangige und souveräne Pflicht zugewiesen ist, die Sicherheit ihrer Bevölkerung zu gewährleisten. Die Pflicht, die Bevölkerung zu schützen und für ihr Wohl zu sorge, ist ein Kernelement der staatlichen Souveränität. Wenn diese Pflicht verletzt wird, sei es durch Untätigkeit, fehlende Kapazitäten oder direkte Übergriffe auf die Bevölkerung, hat die internationale Gemeinschaft die Pflicht, Völkern und Staaten zu Hilfe zu kommen und in Extremfällen im Interesse und zur Sicherheit der Bevölkerung in die inneren Angelegenheiten des Staates einzugreifen.

Prävention - unser Hauptanliegen

7. Die Schutzpflicht zu erfüllen bedeutet zunächst und vorrangig, Prävention zu leisten, also schwer wiegende Übergriffe auf Einzelpersonen und Gruppen zu verhindern, deren Zeuge die Welt in Burundi, Kambodscha, Ruanda, Sudan, Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und bei anderen von Menschen verursachten Krisen geworden ist. Studien des ÖRK haben gezeigt, dass die Kirchen, bei allen Unterschieden in der Haltung zur Gewaltanwendung mit dem Ziel, Menschen zu schützen, sich darüber einig sind, dass Prävention zur Verhinderung und, wenn möglich, Beilegung von Krisen, bevor diese grössere Ausmaße annehmen, eine wesentliche Rolle spielt. Schutz wird erforderlich, wenn Prävention misslingt. Daher betonen die Kirchen die Notwendigkeit, sich auf die Prävention zu konzentrieren. Zwar mag ein - gewaltsames oder gewaltloses - Eingreifen von außen in manchen Situationen unvermeidbar scheinen, doch die Kirchen sollten sich dessen ungeachtet bemühen, die Fähigkeit der lokalen Bevölkerung zur Selbsthilfe zu verbessern. Dies kann geschehen durch die Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen und moderner öffentlich-privater Partnerschaften, sowohl im Bereich Prävention als auch Schutz. Die Kirchen sind aufgerufen, bei einem Machtungleichgewicht zwischen den beteiligten Parteien ihre moralische Autorität zur Vermittlung zu nutzen.

8. Die Prävention menschlicher Unsicherheit, die katastrophale Auswirkungen haben kann, erfordert die Berücksichtigung der Wurzeln solcher Unsicherheit wie auch der unmittelbaren bzw. direkten Ursachen. Generell besteht die langfristige Zielsetzung in der Förderung von menschlicher Sicherheit und der Verwandlung des Lebens gemäss der Vision des Gottesreiches. Die wesentlichen Elemente der menschlichen Sicherheit sind: wirtschaftliche Entwicklung (Sicherung des Grundbedarfs), Bildung für alle, Achtung der Menschenrechte, gute Regierungsführung, politische Mitwirkung und Beteiligung an der Macht, fairer Handel, Kontrolle über die Instrumente der Gewalt (insbesondere Kleinwaffen), Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Sicherheitsinstitutionen, die die Gesetze achten und rechenschaftspflichtig sind und Stärkung des Vertrauens in öffentliche Einrichtungen. Andererseits muss die unmittelbare Prävention bei neu entstehenden Sicherheitskrisen spezifische Maßnahmen umfassen, die die akute Unsicherheit eindämmen und die vertrauenswürdige Hoffnung vermitteln, dass nationale Institutionen und Mechanismen, mit Unterstützung einer aufmerksamen internationalen Gemeinschaft, weiterhin bestrebt bleiben, eine Krise menschlicher Unsicherheit abzuwenden.

9. Auf nationaler Ebene ist eine Selbstanalyse der einzelnen Regierungen erforderlich, um neu entstehende Bedrohungen zu erkennen, Mechanismen für eine Alarmierung von Behörden und Organisationen im Blick auf derartige Bedrohungen zu schaffen, Zivilgesellschaft und Kirchen in die Bewertung von Sicherheits- bzw. Unsicherheitsfaktoren einzubeziehen, nationale Dialoge einschließlich des Dialogs mit nichtstaatlichen Akteuren einzuleiten, das Bestehen von Problemen zuzugeben und die Bevölkerung in die Suche nach Lösungen einzubinden sowie nationale Aktionspläne zu erarbeiten.

10. Prävention erfordert das umgehende Einschreiten gegen Bedingungen der Unsicherheit, sobald diese entstehen und noch bevor sie eine Krise auslösen. Dies wiederum erfordert spezifische Präventionskapazitäten, wie etwa Frühwarnsysteme oder das Erkennen neu entstehender Bedrohungen oder Bedingungen der Unsicherheit sowie den politischen Willen zu handeln, bevor eine Krise eintritt. Vor der Krise zu handeln erfordert eine besondere Sensibilität und ein besonderes Verständnis für die Situation und Bedürfnisse der Bevölkerung, was wiederum eine aktive Mitwirkung der Zivilgesellschaft und insbesondere der Glaubensgemeinschaften notwendig macht, die in der täglichen spirituellen und materiellen Realität der Menschen verwurzelt sind. Glaubensgemeinschaften spielen eine zentrale Rolle bei der Vertrauensbildung und Wahrheitsfindung in vielen Krisensituationen, so etwa in Wahrheits- oder Versöhnungskommissionen, Traumaheilungszentren, als neutrale Orte, an denen sich verfeindete Gruppen begegnen können, usw.

Ökumenische Meinungsbildung zum Problem der Gewaltanwendung

11. Zwischen Prävention und Intervention muss unterschieden werden. Aus kirchlicher und ökumenischer Perspektive erfolgt eine Intervention dann, wenn die Prävention misslungen ist. Die Schutzpflicht richtet sich vorrangig auf den Schutz der Zivilbevölkerung und die Prävention jeglicher Menschenrechtskrise, die diese gefährden könnte. Die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft beinhaltet vor allem die nicht-militärische Prävention durch Maßnahmen wie etwa den Einsatz humanitären Personals und Sonderbeauftragter, Kapazitätsaufbau und die Förderung einer nachhaltigen lokalen Infrastruktur, die Verhängung von Wirtschaftssanktionen und Waffenembargos usw. Die internationale Gemeinschaft hat die Pflicht, sich an den Bemühungen um die Schaffung menschlicher Sicherheit zu beteiligen, bevor die Lage in krisenbedrohten Ländern in die Katastrophe führt. Darunter zu verstehen ist die Pflicht, durch Prävention von Angriffen auf die Sicherheit, Rechte und Wohlfahrt der Menschen in ihrem Zuhause und in ihren Gemeinwesen sowie auf die Umwelt, in der sie leben, für Schutz zu sorgen.

12. Mit dem an die internationale Gemeinschaft gerichteten Aufruf, Menschen, die von außerordentlichem Leid und Gefahr betroffen sind, zu Hilfe zu kommen, will die Gemeinschaft der Kirchen nicht sagen, dass es nie angemessen oder nie erforderlich sein kann, zum Schutz der Schwachen Gewalt anzuwenden. Dass die Kirchen Gewaltanwendung prinzipiell nicht ausschließen, beruht nicht auf dem naiven Glauben, dass durch den Einsatz von Gewalt schwer lösbare Probleme zuverlässig behoben werden können. Vielmehr gründet sich die Haltung der Kirchen auf die Gewissheit, dass der Wohlfahrt der Menschen Aufmerksamkeit geschenkt werden muss, und insbesondere jener Menschen, die extremer Bedrohung ausgesetzt und der Willkür und den Vorrechten ihrer Peiniger schutzlos ausgeliefert sind. Es ist eine tragische Tatsache, dass die Zivilbevölkerung, und insbesondere Frauen und Kinder, die ersten Opfer sind, wenn extreme Unsicherheit und Krieg herrschen.

13. Die Notwendigkeit, Gewalt anzuwenden, erwächst zunächst aus dem Misslingen, Entwicklungen ein Ende zu setzen, die mit angemessenem Weitblick und entsprechenden Maßnahmen hätten verhindert werden können. Ist es zu einem solchen Fehlschlag gekommen und hat die Welt diesen Fehlschlag auch eingeräumt, muss sie tun, was in ihren Kräften steht, um die Belastungen und Gefahren zu begrenzen, denen Menschen ausgesetzt sind. Solche Gewalt kann nur legitimiert werden, wenn sie die Anwendung von Waffengewalt zugunsten gewaltloser Mittel beendet, unter striktester Beachtung der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Sie muss, im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, völkerrechtlich kontrolliert 2 sein und ihre Anwendung kann nur von Akteuren in Erwägung gezogen werden, die selbst das Völkerrecht strikt einhalten. Dies ist eine zwingende Vorbedingung. Ein Rechtsbruch kann nicht gebilligt werden, auch wenn dies mitunter - von der militärischen Warte aus betrachtet - zu Nachteilen oder zu einer kurzfristig eingeschränkten Wirksamkeit der Intervention zu führen scheint. Wie Einzelpersonen oder Gemeinwesen in stabilen, wohlhabenden Gesellschaften die Polizei in Anspruch nehmen können, wenn eine ungewöhnliche oder außerordentliche Bedrohung entsteht, so sollten, nach Auffassung der Kirchen, Menschen in wesentlich bedrohlicheren Situationen das Recht haben, um Schutz zu ersuchen und ihn auch zu erhalten.

14. Kirchen mögen einräumen, dass Gewaltanwendung zum Schutz der Bevölkerung unter bestimmten Umständen eine Option darstellt, die den Erfolg nicht garantieren kann, die aber genutzt werden muss, da die Welt bisher weder in der Lage war, noch ist, irgendein anderes Instrument zu finden, um Menschen in aussichtslosen Situationen zu Hilfe zu kommen. Es ist allerdings festzuhalten, dass innerhalb der Kirchen auch Gruppierungen bestehen, die Gewalt kategorisch ablehnen. Sie vertreten eine Pflichterfüllung durch konsequente Prävention und - wie hoch der Preis auch sein mag - als letztes Mittel das Risiko gewaltloser Intervention bei gewalttätigen Auseinandersetzungen einzugehen. Beide Ansätze können erfolglos bleiben, sind aber in gleicher Weise als Ausdruck christlicher Pflichterfüllung zu respektieren.

Grenzen der Gewaltanwendung

15. Die Kirchen befürworten jedoch nicht die Ausübung tödlicher Gewalt zur Herbeiführung einer friedlichen und sicheren neuen Ordnung. Mit der ausdrücklichen Beschränkung der Gewaltanwendung auf die unmittelbare Schutzfunktion machen die Kirchen deutlich, dass die erforderlichen langfristigen Lösungen - nämlich die Wiederherstellung von Bedingungen in der Gesellschaft, unter denen die Bevölkerung im wesentlichen keiner Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt ist, ein Mindestmaß an wirtschaftlichen, sozialen und medizinischen Leistungen gewährleistet ist, die fundamentalen Rechte und Freiheiten geachtet werden, Instrumente der Gewalt einer Kontrolle unterworfen sind und die Würde sowie der Wert aller Menschen betont werden - nicht durch Gewalt herbeigeführt werden können. In der Tat wird durch die Beschränkung legitimer Gewaltausübung auf Schutzmaßnahmen bekräftigt, dass Notlagen krisengeschüttelter Gesellschaften nicht im Schnellverfahren zu beheben sind, weder durch militärische Mittel noch durch Diplomatie, und dass in dem langen und aufwändigen Prozess der Wiederherstellung der Voraussetzungen für einen nachhaltigen Frieden die Schwächsten Anspruch haben auf Schutz, zumindest vor den gravierendsten Bedrohungen.

16. Gewaltanwendung zu humanitären Zwecken kann nie bedeuten, soziale und politische Probleme auf militärischem Wege zu lösen oder mit militärischen Mitteln neue gesellschaftliche und politische Fakten zu schaffen. Vielmehr zielt sie darauf ab, akute Bedrohungen einzudämmen und unmittelbares Leid zu lindern, während für langfristige Lösungen andere Mittel erforderlich sind. Gewaltanwendung zu humanitären Zwecken muss also in ein breites Spektrum wirtschaftlicher, sozialer, politischer und diplomatischer Anstrengungen eingebettet sein, die die direkten wie langfristigen Ursachen der Krise in den Blick nehmen. Auf lange Sicht sollten für diese Aufgaben internationale Polizeikräfte ausgebildet werden, die an das Völkerrecht gebunden sind. Derartige Interventionen sollten begleitet sein von streng von ihnen getrennten humanitären Hilfsmaßnahmen und sie sollten mit der Bereitschaft und den nötigen Mitteln verbunden sein, der bedrohten Bevölkerung beizustehen, bis die Grundlagen der Ordnung und öffentlichen Sicherheit wiederhergestellt sind und erwiesen ist, dass vor Ort die nötigen Kapazitäten existieren, damit der Aufbau eines dauerhaften Friedens fortgesetzt werden kann.

17. Es muss zudem differenziert werden zwischen zu humanitären Zwecken eingesetzter Gewalt und militärischen Methoden und Zielen der Kriegsführung. Eine militärische Intervention zu humanitären Zwecken ist nicht ein Krieg mit dem Ziel, einen Staat zu besiegen, sondern ein Einsatz zum Schutz gefährdeter Menschen vor Schikane, Verfolgung und Mord. Sie steht einer das Recht achtenden Polizeitätigkeit - wenn auch vielleicht nicht in der Intensität des erforderlichen Gewalteinsatzes - näher, da die Streitkräfte nicht eingesetzt werden, um eine Auseinandersetzung zu "gewinnen" oder ein Regime zu besiegen. Ihre ausschließliche Aufgabe ist der Schutz der bedrohten Bevölkerung und die Aufrechterhaltung eines gewissen Maßes an öffentlicher Sicherheit, während andere Verantwortungsträger und Einrichtungen Lösungen für die ursächlichen Probleme suchen.

18. Es können also Situationen entstehen, in denen betroffene Kirchen zum Schutz der Bevölkerung aktiv zur Intervention zu humanitären Zwecken aufrufen. Solche Aufrufe werden sich immer an die internationale Gemeinschaft richten und einen Klärungs- und Entscheidungsfindungsprozess voraussetzen, der im Rahmen der internationalen Gemeinschaft stattfindet und streng an das Völkerrecht gebunden ist. Diese Aufrufe werden eher zögerlicher Natur sein, denn die Kirchen werden sich, wie andere Institutionen und Personen auch, immer bewusst sein, dass die betreffende Gefahr hätte vermieden werden können und sollen. Die Kirchen sollten in solchen Fällen angemessenerweise bekennen, dass sie mitschuldig sind, weil es nicht gelungen ist, den Krisen vorzubeugen, die Menschen nun in solche Gefahr bringen.

Beschlussfassung:

Die vom 14. - 23. Februar 2006 in Porto Alegre (Brasilien) tagende Neunte Vollversammlung des ÖRK

a) nimmt die Erklärung zur Schutzpflicht an und dankt allen Mitgliedskirchen und Einzelpersonen, die am Studien- und Konsultationsprozesses "Die Schutzpflicht: Eine ethische und theologische Reflexion" mitgewirkt haben, und ersucht den Zentralausschuss, auf der Grundlage der in dem Bericht dargelegten Prinzipien eine Weiterentwicklung der Richtlinien für die Mitgliedskirchen zu erwägen;

b) unterstreicht im Zusammenhang mit der Schutzpflicht die Prävention als zentrales Instrument und Anliegen der Kirchen. Da Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften sowie ihre Leitung in der täglichen spirituellen und materiellen Realität der Menschen verwurzelt sind, haben sie eine besondere Verantwortung und gleichzeitig eine besondere Chance, an der Entwicklung nationaler und multilateraler Schutz- und Kriegspräventionsmechanismen mitzuwirken. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften haben insbesondere die Pflicht, zur Früherkennung von Bedingungen beizutragen, die zu Unsicherheit, einschliesslich der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ausgrenzung, führen. Prävention ist das einzig zuverlässige Mittel zum Schutz der Menschen, und die Früherkennung einer sich verschlechternden Sicherheitssituation erfordert die permanente Aufmerksamkeit derjenigen, die am engsten mit der betroffenen Bevölkerung zusammenarbeiten und deren Vertrauen besitzen;

c) beklagt gemeinsam mit anderen Christen weltweit unser kollektives Versagen, gerecht zu leben und für Gerechtigkeit einzustehen. Eine solche Haltung wird gestärkt durch die Anerkennung der Tatsache, dass die Herrschaft Christi mehr wiegt als jede andere Loyalität, und durch das Wirken des Heiligen Geistes. Die kritische Solidarität mit den Opfern von Gewalt und das Eintreten gegen alle Mächte der Unterdrückung müssen auch unsere theologischen Mühen um eine glaubenstreuere Kirche prägen. Die Arbeit der Kirche mit schutzbedürftigen Menschen und ihre Begleitung gründet sich auf eine ganzheitliche, lebenslange Weggemeinschaft mit der Menschheit, in guten wie in schlechten Zeiten;

d) bekräftigt den Versöhnungs- und Heilungsdienst der Kirchen als wichtiges Element der Förderung des nationalen und politischen Dialogs auf dem Weg zu Einheit und Vertrauen. Einer einenden Vision vom Staat zufolge, sollten alle Teile der Bevölkerung sich für die Zukunft des Landes mitverantwortlich fühlen und ein Mitspracherecht haben. Die Kirchen sollten insbesondere betonen, dass Souveränität Verantwortung bedeutet. Unter Gottes souveräner Herrschaft sehen wir es als Pflicht der Menschheit an, füreinander und für die ganze Schöpfung zu sorgen. Die Souveränität menschlicher Institutionen stützt sich auf die Ausübung der Schutzpflicht gegenüber unseren Mitmenschen und der gesamten Schöpfung;

e) ruft die internationale Gemeinschaft und die einzelnen Staaten auf, ihre Kapazitäten im Blick auf Präventivstrategien und Gewalt reduzierende Interventionsfähigkeiten in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der Zivilgesellschaft zu stärken, zum Völkerrecht beizutragen und es auf der Grundlage der Menschenrechte weiterzuentwickeln, und die Entwicklung von Strategien für den Einsatz von Polizeikräften in Situationen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen zu unterstützen;

f) fordert den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dringend auf, in Situationen, in denen die Prävention fehlgeschlagen ist und Regierungen den Schutz, auf den die Bevölkerung Anspruch hat, nicht leisten können oder wollen, rechtzeitig und wirksam einzugreifen - wo angemessen in Zusammenarbeit mit regionalen Organisationen -, um eine extrem bedrohte Zivilbevölkerung zu schützen und eine Nothilfe zu leisten, die darauf ausgerichtet ist, unter strengster Achtung der Rechte, Unversehrtheit und Würde der betroffenen Bevölkerung, die bestandfähige Sicherheit und Wohlfahrt wiederherzustellen;

g) ruft die internationale Gemeinschaft und die einzelnen Regierungen des Weiteren auf, erheblich mehr Mittel und Ausbildung in gewaltlose Interventionsmöglichkeiten und die Begleitung gefährdeter Völker zu investieren;

h) ersucht den Zentralausschuss, die Möglichkeit eines Studienprozesses zu erwägen, der alle Mitgliedskirchen und ökumenischen Organisationen für die Ausarbeitung einer umfassenden ökumenischen Erklärung zum Frieden mobilisiert, welche fest in einer klar formulierten Theologie wurzelt. Die Erklärung sollte sich u.a. mit folgenden Themen befassen: gerechter Frieden, Schutzpflicht, Rolle und Rechtsstatus nichtstaatlicher Kombattanten, Wertekonflikt (z. B. territoriale Integrität und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens). Sie sollte zum Abschluss der Dekade zur Überwindung von Gewalt 2010 angenommen werden.


2 Eine abweichende Meinung wurde von John Alfred Steele, Delegierter der Anglikanischen Kirche von Kanada, geäußert, der der Auffassung ist, dass die strikte Anwendung des internationalen Völkerrechts einer Intervention in Extremfällen wie Völkermord oder fortgesetzten massiven Tötungen in der Zivilbevölkerung nicht im Wege stehen sollte.