"Die Kommission bestätigt die Funktion des ÖRK als ein notwendiges Instrument bei der Auseinandersetzung mit sozialen und ethischen Fragen. In dem Bewusstsein, dass sich diese Fragen aus dem Leben der Kirchen ergeben und dass das ÖRK auf Ersuchen der Kirchen eher in deren Namen als an ihrer Stelle spricht, stellte die Kommission fest, dass die Leitungsgremien des ÖRK mit Hilfe der Konsensmethode viele der Anliegen ansprechen könnten, die sich im Zusammenhang mit sozialen und ethischen Fragen ergeben", heisst es im abschliessenden Kommuniqué der Plenartagung der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), die im November 2001 in Berekfürdö, Ungarn, tagte.

Mit diesem kurzen Abschnitt leistete die Sonderkommission unter anderem zweierlei. Zum einen bestätigte sie die prophetische Rolle des ÖRK, zum anderen identifizierte sie die Konsensmethode als angemessenes Entscheidungsinstrument in sozialen und ethischen Fragen. Das impliziert, dass Konsensusmethode und prophetisches Zeugnis Hand in Hand gehen.

Während es im ersten Teil dieser Feature-Serie zur Arbeit der Sonderkommission um die Konsensmethode ging, setzen sich die folgenden zwei Beiträge mit der prophetischen Rolle des ÖRK auseinander.

Die Methodistin Janice Love schreibt über ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen in einer Familie in Alabama, die sich entschieden gegen Rassenunterdrückung wandte und die wegen ihres anti-rassistischen Eintretens in ihrem eigenen Umfeld isoliert wurde. In "Den Mächtigen die Wahrheit sagen", so der Titel ihres Beitrages, erzählt sie aber gerade auch von der weltumspannenden christlichen Solidarität, die ihre Familie durch die ökumenische Bewegung erfuhr: "Wir fühlten uns umgeben und getragen von den Gebeten, Erklärungen, Aktivitäten, Ressourcen und Ermutigungen jener Menschen in unserer Denomination und in den ökumenischen Gremien, für die die Gleichberechtigung der Rassen zum Kern des Evangeliums gehörte. ... Die Gewissheit, dass sie uns in unserem kleinen Kampf an unserem kleinen Ort begleiteten, stärkte unsere Entschlossenheit, machte uns Mut und half uns, die durch die Isolierung von unserer unmittelbaren Umgebung entstandene Einsamkeit zu ertragen." Loves Beitrag ist ein Plädoyer für die prophetische Rolle des ÖRK.

In dieses Plädoyer stimmt auch Vater Georges Tsetsis vom Ökumenischen Patriarchat ein und verweist auf den inneren Zusammenhang von "rechtem Glauben" und "rechtem Handeln" sowie auf die tiefe orthodoxe Überzeugung, "dass der Glaube im täglichen Leben und in allen Bereichen der Gesellschaft als orthopraxia Ausdruck finden muss - als rechtes Handeln, das unseren Glauben und unsere christliche Hoffnung verwandeln soll in praktische Solidarität mit jenen, die geistlich oder materiell bedürftig sind".

Den Mächtigen die Wahrheit sagen

Die prophetische Rolle der ökumenischen Bewegung

Janice Love

Die Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) befasst sich unter anderem mit der prophetischen Rolle der Kirche und der ökumenischen Bewegung. Für viele orthodoxe wie auch nicht-orthodoxe Gläubige ist der Auftrag, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen - und das beinhaltet die prophetische Rolle - der Kern unseres Selbstverständnisses als Christen und als Kirchen. Darüber hinaus verstehen viele ökumenisch engagierte Menschen, darunter auch ich selbst, diesen Auftrag sehr persönlich.

1959 verbrannte der Ku Klux Klan (KKK) gegenüber dem Pfarrhaus unserer Familie im Süden Alabamas ein Kreuz. Für mich als seksjähriges Kind war dieser Anblick ein nachhaltiger Schock.

Mein Vater hatte zusammen mit einigen anderen Pastoren begonnen, sich für die Bürgerrechte zu engagieren. Die meisten von ihnen waren in kleinen ländlichen Gemeinden tätig, und sie alle waren Zielscheibe derartiger koordinierter KKK-Angriffe geworden. Diese Männer, die dem Evangelium so, wie sie es verstanden, gefolgt waren, wussten, dass ihre Arbeit in den von tief verwurzelter Rassenunterdrückung geprägten Südstaaten umstritten war.

Dennoch waren viele überrascht angesichts der scharfen Reaktionen auf ihre doch recht bescheidenen Anstrengungen. Die Aktivitäten der Pastoren hatten zwar den Beifall eines der Kirchenführer gefunden, doch die kirchliche Hierarchie Alabamas lehnte solches Engagement ab und bestrafte Mitglieder der Gruppe für ihren Mut. Infolgedessen wurden meine Familie wie auch andere, die sich in ihrem Zeugnis für die Gleichberechtigung der Rassen nicht beirren liessen, während meiner gesamten Kindheit und Jugend von einer Pfarre zur nächsten versetzt. In den Kirchenleitungen galten wir sehr oft als "schwierig", für die Gemeinden waren wir "Aussenseiter".

In den 1950er Jahren hatte auch der Nationalrat der Kirchen in den USA mit seinen wichtigen und umstrittenen Bemühungen um die Förderung der Bürgerrechte speziell im Süden begonnen. Die grosse Methodistische Kirche in den USA, deren Strukturen in früheren Jahrzehnten durchaus von rassistischen Vorurteilen geprägt waren, begann in den 60er Jahren, ihren Verwaltungsapparat von diskriminierenden Elementen zu befreien - ein Ziel, das erst 1972 endgültig und offiziell erreicht worden ist.

Als Teenager hörte ich dann 1970 von einer weiteren Organisation christlicher Kirchen, die mutig erklärte, Rassendiskriminierung sei unvereinbar mit dem Willen Gottes, und die ihre Erklärungen mit bewusst provozierenden finanziellen Zuwendungen für Gruppen rassistisch unterdrückter Menschen untermauerte. Natürlich meine ich den Ökumenischen Rat der Kirchen und sein Antirassismusprogramm.

All dies fand im Umfeld der übergreifenden Kämpfe sozialer Bewegungen in den USA und anderen Ländern statt und hat meine Familie stark geprägt.

Das Evangelium: eine befreiende Botschaft für alle, die unter Gewalt und Unterdrückung leiden

Ich wusste also seit der Zeit, in der Jugendliche am aufnahmefähigsten sind, dass meine Familie aus der Tiefe ihres Glaubens heraus für eine wunderbare und frohe Botschaft von der Fülle des Lebens in Christus einstand, die von einem Grossteil der Mitbürger um uns herum abgelehnt wurde. Unsere Isolierung innerhalb eines Teils der Methodistischen Kirche und innerhalb der Gemeinden, in denen wir lebten, stand allerdings in deutlichem Gegensatz zu der fernen, aber warmherzigen Zuwendung, die wir von jenen Christen erfuhren, die uns in diesem Kampf begleiteten.

Wir fühlten uns umgeben und getragen von den Gebeten, Erklärungen, Aktivitäten, Ressourcen und Ermutigungen jener Menschen in unserer Denomination und in den ökumenischen Gremien, für die die Gleichberechtigung der Rassen zum Kern des Evangeliums gehörte. Ich empfand es als Auszeichnung, zu ihnen zu gehören. Die Gewissheit, dass sie uns in unserem kleinen Kampf an unserem kleinen Ort begleiteten, stärkte unsere Entschlossenheit, machte uns Mut und half uns, die durch die Isolierung von unserer unmittelbaren Umgebung entstandene Einsamkeit zu ertragen.

Meine Erfahrungen fanden zwar in einem besonderen Kontext statt, doch sie ähneln denen zehntausender anderer Christen, die sich einer zutiefst kompromittierten und gespaltenen Kirche sowie der Feindseligkeit vieler ihrer Mitbürger gegenübersehen. Sie brauchen die Solidarität anderer glaubenstreuer Menschen, die wissen, dass das Evangelium eine mächtige und befreiende Botschaft für jene ist, die Armut, Unterdrückung, Gewalt und Hass erleiden. Des Weiteren müssen diejenigen, die ausserhalb stehen, sich im Interesse ihrer eigenen Integrität rechenschaftspflichtig fühlen gegenüber einem der Grundprinzipien des Neuen Testaments: Wenn einer leidet, leiden wir alle.

Die sozialen und ethischen Fragen, mit denen die Kirchen und die ökumenische Bewegung heute konfrontiert sind, scheinen uns zeitweise sehr viel komplexer zu sein als die Fragen, die sich früher im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung und anderen Anliegen im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit stellten.

Ich glaube jedoch, dass dies ein romantisch gefärbter Blick ist, der die harten Realitäten der Geschichte, wie viele von uns sie erlebten, gefährlich verzerrt. Es kommt hinzu, dass wir manchmal zu gerne vergessen, wie tief die Spaltung der Christen damals ging. Denn für diejenigen, die sich damals entschlossen, eine prophetische Rolle zu spielen, waren die Antworten nicht immer naheliegend, war der einzuschlagende Weg nicht immer deutlich erkennbar und waren die Belastungen nicht immer erträglich. Dennoch liessen sich Christen so gut sie konnten auf die Kontroversen ein und beteten darum, einen "Ausweg aus der Ausweglosigkeit" zu finden, wie viele afrikanische Amerikaner und Amerikanerinnen sagten.

Heute sehen wir uns ebenso grundsätzlich gefordert, unser Bestes zu tun, um den Mächtigen die Wahrheit zu sagen und in Situationen von Tod und Zerstörung prophetisches Zeugnis abzulegen. Glaubenstreue ist nie einfach gewesen und wird nie einfach sein - selbst wenn ihr der liebevollste und freudigste Ausdruck gegeben wird. Christus hat uns nie etwas Leichtes verheissen.

Die Frage der prophetischen Rolle der Kirche und der ökumenischen Bewegung auf der Tagesordnung der Sonderkommission bietet Gelegenheit, die möglicherweise verschiedenen Ansätze zu prüfen, die Orthodoxe, Anglikaner, Altkatholiken, Protestanten, Quäker und andere christliche Traditionen bei ihrem Bemühen verfolgen, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen.

Des Weiteren kann die Kommission auch erläutern, wie ökumenische Mechanismen ihrer Ansicht nach dahingehend verstärkt werden können, dass sie Christen und Kirchen unterstützen, welche in Situationen von Tod, Zerstörung und Verzweiflung die gute Botschaft des Evangeliums von Gerechtigkeit, Frieden und Liebe verkündigen wollen.

Was wir gemeinsam tun, bewirkt viel mehr als alles, was wir alleine tun - diese Lektion lernte ich als Kind in Alabama.

Dr. Janice Love, die Verfasserin dieses Beitrages, lehrt Religion und internationale Studien an der Universität von South Carolina, USA. Sie ist Mitglied der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK und Vorsitzende der Referenzgruppe zur Dekade zur Überwindung von Gewalt. Sie gehört der Evangelisch-Methodistischen Kirche in den USA an und war von 1975 bis 1998 Mitglied des ÖRK-Zentralausschusses.

Die prophetische Stimme des Ökumenischen Rates der Kirchen - eine orthodoxe Perspektive

Georges Tsetsis

Die prophetische Rolle und Stimme des ÖRK war eines der Hauptthemen der dritten Plenartagung der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), die vom 15. bis 20. November 2001 in Berekfürdö, Ungarn stattfand. Auf die Frage, ob der ÖRK mit einer solchen Rolle betraut sei oder nicht, erklärte die Kommission mit aller Deutlichkeit, der ÖRK spreche und handle in der Tat immer dann prophetisch, wenn er im Sinne des Wortes Gottes Situationen, die die Welt betreffen, wahrheitsgemäss beschreibe und entsprechend darauf reagiere.

Die Heilige Schrift macht es den Christen zur Pflicht, mit prophetischer Stimme zu ethischen, moralischen oder sozialpolitischen Problemen zu sprechen, welche eine Bedrohung für die Würde und sogar das Leben des zum Bilde Gottes geschaffenen Menschen darstellen. Der Hl. Paulus schreibt: "Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung" (1. Korinther 14,3). Die Sonderkommission stützte sich auf diese Aussage, als sie darauf hinwies, dass prophetische Rede nicht nur Zurechtweisung ist, sondern auch Auferbauung, Ermutigung und Tröstung.

Seit seiner Gründung im Jahre 1948 bemüht sich der ÖRK nicht nur um die Förderung der Einheit der Christen durch theologische Forschung und theologischen Dialog, sondern setzt sich auch mit der Lage der Menschheit auseinander. Er erhebt seine prophetische Stimme immer dann, wenn die menschliche Gemeinschaft durch menschenverachtende Einstellungen und Verhaltensweisen bedroht ist.

Fragen im Zusammenhang mit Armut, Menschenrechten, Rassismus, Entwicklung, Frieden und Gerechtigkeit, die in den 60er und 70er Jahren zu (manchmal umstrittenen) Programmschwerpunkten werden sollten, standen bereits auf der Tagesordnung der ÖRK-Gründungsversammlung in Amsterdam. Und die Kirchen im ÖRK und der ökumenischen Bewegung haben sich im Allgemeinen immer wieder verpflichtet, alles zu bekämpfen, was das "Bild Gottes" - und somit die Menschen, die die oikoumene bevölkern - unterdrückt, versklavt und entstellt.

Über die prophetische Stimme oder das prophetische Handeln des ÖRK zu sprechen, wie es die Sonderkommission auf ihrer Tagung im vergangenen November getan hat, ist für die Orthodoxen keineswegs etwas Neues. Bereits 1973 hatte das Ökumenische Patriarchat in einer Erklärung anlässlich des 25-jährigen Bestehens des ÖRK ausdrücklich die prophetische Rolle des ÖRK im Umgang mit den vielgestaltigen Bedürfnissen der Menschheit hervorgehoben. Des Weiteren ermutigte die Erklärung dieses "privilegierte Instrument" der Kirchen - welche nicht nur im theologischen Dialog miteinander, sondern auch in Solidarität zueinander stehen -, nicht nachzulassen in dem Bestreben, sein Eingehen auf menschliches Leid auszuweiten, um so "mit sichtbaren und unsichtbaren Mitteln, durch Wort und Tat, durch Beschlüsse und Handeln Christus zu verkündigen, wo immer und wann immer dies möglich erscheint".

Rechter Glaube - rechtes Handeln

Eine solche Ermutigung seitens des Heiligen Stuhls der Orthodoxie war nicht überraschend. Schliesslich ist der Begriff der orthodoxia, also der Rechtgläubigkeit, eng verbunden mit dem der orthopraxia, also dem rechten Handeln. Diese Mahnung war also ganz natürlich, denn die Vorstellung, dass der Glaube im täglichen Leben und in allen Bereichen der Gesellschaft als orthopraxia Ausdruck finden muss - als rechtes Handeln, das unseren Glauben und unsere christliche Hoffnung verwandeln soll in praktische Solidarität mit jenen, die geistlich oder materiell bedürftig sind - ist zutiefst im orthodoxen Glauben verwurzelt.

Wenn wir im Kontext unserer Zusammenarbeit im ÖRK von prophetischer Stimme oder prophetischem Handeln sprechen, meinen wir in erster Linie die Vielzahl anspruchsvoller Initiativen, welche uns moralische, ethische, wirtschaftliche und damit zusammenhängende Probleme bewusst machen sollen, die sich prägend auf das Leben der Menschen auswirken und früher oder später zwecks Reflexion und geeigneter Beschlussfassung auf die Tagesordnung des ÖRK gesetzt werden.

Eines jedoch sollte klargestellt werden, damit keine Missverständnisse entstehen und damit sowohl dem neuen Verständnis und der Vision der Kirchen vom ÖRK als auch der neu formulierten ÖRK-Verfassung Rechnung getragen wird: Diese prophetische Stimme ist auf keinen Fall die Stimme der "Institution", sondern die der Gemeinschaft, welche diese Institution trägt. Und folglich die der Kirchen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, im ÖRK eine koinonia im Glauben und im Leben, im Zeugnis und im Dienst zu suchen, um ihre gemeinsame Berufung zu erfüllen und auf ihre Einheit zuzugehen.

Der Verfasser, Vater Georges Tsetsis, war bis Ende 2001 Mitglied der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK. Dr. Tsetsis war von 1985 bis 1999 ständiger Vertreter des Ökumenischen Patriarchats beim ÖRK. Zuvor arbeitete er in der ÖRK-Kommission für zwischenkirchliche Hilfe, Flüchtlings- und Weltdienst (CICARWS) als Referent für den Nahen und Mittleren Osten und anschliessend als stellvertretender Direktor der Kommission.

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