Michael Stahl

"Religiosität ohne Zugehörigkeit?" war das Thema der Konsultation des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die Ende Juni im Christian Jensen Kolleg in Breklum in Norddeutschland stattfand. Die 50 Teilnehmer und Teilnehmerinnen, zumeist Theologen/innen aus europäischen und nordamerikanischen Kirchen, suchten nach "neuen Paradigmen für Kirche und Mission in säkularisierten und postmodernen Kontexten", diskutierten neue Formen der Religiosität, die in vielen Ländern entstehen, und fragten, zu welcher Art von Spiritualität die Kirchen aufgerufen seien. "Die westliche Erfahrung von Kirche macht es den Menschen möglich zu glauben, ohne dazuzugehören, und dazuzugehören, ohne zu glauben", heisst es in einem der Arbeitsgruppenberichte. Die Kirche hat jedoch die missionarische Aufgabe, "ein tieferes Gefühl der Zugehörigkeit entstehen zu lassen", stellten die Teilnehmer/innen fest.

Im Hinblick auf die Religiosität derer, die nicht zur Kirche gehen, berichtete der Direktor des Orthodoxen Instituts für Mission und Ökumene in St. Petersburg, Vladimir Fedorow, dass "sich in Russland viele Menschen als orthodoxe Christen verstehen, ohne Mitglieder einer institutionellen Kirche zu sein". Seine Kollegin, Anne-Marie Kool, eine Professorin für Missiologie und Direktorin des Protestantischen Instituts für Missionsstudien in Budapest, vertrat ebenfalls die Meinung, dass unter den Menschen in Osteuropa trotz eines starken Misstrauens, das noch ein Erbe der kommunistischen Vergangenheit sei, "ein Gefühl von Gläubigkeit ohne kirchliche Zugehörigkeit" herrsche. Kool setzt sich für einen neuen kontextorientierten missionarischen Ansatz ein, der ausgerichtet ist auf "die Wiederherstellung des biblischen Schalom, Versöhnung sowie eine christliche Gemeinschaft der Liebe, der Fürsorge und des Heilens".

Nach einer neueren Studie aus Grossbritannien, die auf der Konsultation vorgelegt wurde, ist die Beteiligung an Gottesdiensten dort von 1987 bis 1999 um rund 20% gesunken, während die Zahl der Menschen, die von spirituellen oder religiösen Erfahrungen berichten, im gleichen Zeitraum um mehr als 60% gestiegen ist. Aber, so Simon Barrow, der Referent der Kommission für Mission der britischen und irischen Kirchen, "die alternativen spirituellen Praktiken, die heute in Grossbritannien im Volk verbreitet sind, haben nichts zu tun mit den traditionellen Vorstellungen von Gott und Religion". Für ihn handelt es sich hierbei eher um "säkulare Ausdrucksformen von Spiritualität". Im Hinblick auf die Situation in ihrem eigenen Land teilten die meisten der Teilnehmenden Barrows Lagebeurteilung:"Die riesige Kluft zwischen der offiziellen kirchlichen Lehre und den diffusen, oft sehr individualistisch geprägten spirituellen Erfahrungen bietet keinen einfachen Ausweg aus dem anhaltenden Rückgang des Einflusses traditioneller, institutionell verankerter Kirchlichkeit." Barrow charakterisierte die Antwort der Kirchen als "überwiegend technokratisch und managementorientiert statt spirituell und theologisch fundiert". Sie basiert nicht auf den eigenen Quellen des Glaubens und der Verheissung von Gottes Zukunft. Er rief die Kirchen auf, "sehr viel systematischer und ohne Vorurteile der Spiritualität derer ein offenes Ohr zu schenken, die ausserhalb ihrer Tore sind".

Barrows Argumente wurden von einem anderen auf der Konsultation vorgelegten Bericht gestützt, in dem es hiess, dass "neue Formen der Spiritualität die Bevölkerung insgesamt beeinflussen" und dass viele Menschen "sich in einem kirchlichen Umfeld, das keine Berührungsfläche mehr mit den Veränderungen in ihrem Leben hat, nicht mehr zu Hause fühlen". Die Konsultation formulierte die Verpflichtung, die neue spirituelle Suche der Menschen in der ganzen Welt sehr ernst zu nehmen. Es gibt "keinen Grund zu jammern", erklärte sie. Stattdessen sollten die Kirchen Antworten auf die neuen Formen der Spiritualität geben und dabei aus "all den geistlichen Ressourcen in der langen und reichen christlichen Tradition" schöpfen und "nach Wegen suchen, wie sie diese einem breiteren Publikum zugänglich machen können".

George Hunsberger, Professor am Western Theological Seminary in Michigan, erklärte, dass "unsere Angewohnheit, die Geschichte des Christentums als eine Erfolgsstory darzustellen, am Ende ist," und dass die Kirchen, die lediglich versuchen, ihre privilegierte pastorale Rolle in der Gesellschaft wiederzuerlangen, sich als moralische Instanz zu behaupten oder loyale und gläubige "Kunden" für ihre Gottesdienste zu mobilisieren, in Gefahr sind. Sie sollten in seinen Augen lieber versuchen, "neu zu klären, was es für sie bedeutet, missionarisch zu sein" und Menschen ermutigen, "es zuzulassen, dass das Evangelium ihre Denk- und Lebensweise neu prägt, und zu einer neuen Lebensweise zu finden, die sich von der in ihrem kulturellen Rahmen vorgegebenen Form unterscheidet".

Ein Vertreter der Kirchen des Südens, Jyoti Sahi, der Gründer des Art Ashram bei Bangalore, Indien, kritisierte die europäischen Kirchen dafür, dass sie "sich allzu sehr auf rationelles Denken eingelassen und deshalb den Kontakt zu den symbolischen und mystischen Dimensionen des Lebens verloren haben". Er ermutigte die Kirchen des Nordens dazu, sich "den Erkenntnissen anderer Glaubensrichtungen und Religionen" zu öffnen. "Christus gehört nicht uns Christen allein. Christus verlangt von uns, dass wir über unsere Grenzen hinausgehen", erklärte er. Diese Meinung vertrat auch der koreanische Theologe Hong Eyoul Hwang, ein Forscher am Centre for Theological Studies of Peace and Reunification in Korea:"Die Christen müssen die Gelegenheit ergreifen und von den Kulturen und Religionen der Urvölker lernen, wie sie sich den Herausforderungen der postmodernen Gesellschaft stellen können". Das Bewusstsein dafür wachse, so Hong Eyoul Hwang, dass die Armen nicht nur Ausbeutungsobjekte seien, sondern "die stolzen Vertreter kultureller und religiöser Traditionen mit einer wahrhaft ganzheitlichen und lebenszugewandten Weltsicht".

Für Dietrich Werner, einen Theologen am Nordelbischen Zentrum für Weltmission, war die Konsultation ein Beispiel für die Rückwendung der Missionsdebatte, insbesondere der Fragen von Evangelium und Kultur, auf die Länder des Nordens, während gleichzeitig die Fragen von Modernisierung und Säkularisierung als theologische Herausforderung von den Theologen des Südens aufgegriffen werden. "Wir erkennen mehr und mehr, dass die Globalisierung nicht nur wirtschaftliche und soziale, sondern auch kulturelle und religiöse Konsequenzen hat", erklärte er.

Michael Stahl arbeitet im Amt für Öffentlichkeitsarbeit der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Hamburg.